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In ihrer Mittagspause saß Beate mit Steffen, dem Kriminaltechniker, im Café am Torgauer Markt. Sie hatte sich gleich ein Kännchen Kaffee bestellt und trank die zweite Tasse. Besonders stark war das Getränk nicht, aber langsam begann das Koffein zu wirken, und sie entspannte sich ein wenig. Sie blickte aus dem Fenster über den Marktplatz zu einem Brunnen hinüber. Einige ältere Damen kamen aus dem Haus der guten Kleidung , schlenderten mit ihren Dederon-Einkaufsbeuteln umher und stellten sich an die Schlange vor der Fleischerei an.

»Eine ganz normale Stadt«, murmelte sie.

Steffen sah sie fragend an.

»Eigentlich«, ergänzte sie.

»Ach so. Ja. Ich weiß, was du meinst. Diese Einrichtung ist schon … speziell. Aber eine hohe Mauer versperrt ja die Sicht für die Bürger. Keiner weiß, was dahinter los ist. Vielleicht will es auch keiner wissen.«

Das Café war um diese Zeit nur spärlich besetzt. Steffen sprach dennoch so leise, dass Beate ihn gerade noch verstehen konnte.

Sie dachte an die drei Jugendlichen. Einen besonders schwer erziehbaren Eindruck hatten sie nicht auf sie gemacht. Und Andreas war ein Kind. Wie konnte man diese Minderjährigen in so ein Zuchthaus sperren?

Ein junges Pärchen, das am Nachbartisch saß, erhob sich zum Gehen. Beate wartete, bis sie das Café verlassen hatten. Nun waren sie beinahe unter sich.

»Glaubst du an Lehmanns These? Dass es Selbstmord war?«

Steffen zuckte mit der Schulter. »Motive hätte er gehabt dafür, da hat Lehmann schon recht. Und statistisch gesehen ist Strangulation eine der häufigsten Suizidmethoden. Bei der ersten Durchsuchung seiner Wohnung haben wir allerdings nichts gefunden, was auf einen Suizid hindeutet. Keinen Abschiedsbrief. Keine Notiz mit Tut mir leid . Kein Schuldbekenntnis wegen seiner Tätigkeit als Menschenschinder. Kein Schreiben an Angehörige. Und der Kühlschrank war gut gefüllt. Offenbar war er gerade erst einkaufen. Wenn er sich wirklich umgebracht hätte, warum dann nicht in seinen eigenen vier Wänden? Zumal diese sich ebenfalls in dem Gebäude befinden.«

»Lehmann hat die Bauarbeiter vorhin vernommen. Aber ich kenne das vollständige Ergebnis noch nicht«, sagte Beate und trank den letzten Schluck Kaffee. »Einer der Bauarbeiter hat wohl ausgesagt, dass seine Werkzeugkiste nicht dort stand, wo er sie abgestellt hatte, sondern an einem anderen Platz. Nämlich auf der Laufbohle, die direkt in das Fenster der Zelle hineinragte, in dem der Direktor tot aufgefunden wurde. Höchstwahrscheinlich haben seine Kollegen an der Stelle einfach schlampig gearbeitet, und es war nur ein merkwürdiger Zufall.«

Steffen seufzte. »Das glaub ich kaum. Fehlte denn was aus diesem Werkzeugkasten? Vielleicht stammte ja das Seil, mit dem sich Zinkner erhängt hat beziehungsweise mit dem er getötet wurde, daraus.«

Beate zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob Lehmann so gründlich war und nachgefragt hat, was sich in dieser Kiste befand.«

»Ich fürchte, dieser Fall wird uns noch einige Zeit beschäftigen. Und ganz ehrlich? Es ist irgendwie ziemlich gruslig in diesem Jugendwerkhof.« Steffen schüttelte sich. »Ich dachte, wir arbeiten in einem Kinderheim, stattdessen ist das ein Hochsicherheitstrakt. Würde mich nicht wundern, wenn einer der unfreiwilligen Bewohner da Rachegelüste verspürt.«

»Hältst du das für möglich?«

»Keine Ahnung. Aber wie würde es dir gehen, wenn man dich wegen irgendwelcher Verstöße gegen die sozialistische Ordnung in so ein Gefängnis sperrt?«

Beate seufzte und hob ratlos die Hände. Sie wusste keine Antwort darauf. »Was ist eigentlich mit dem Kollegen Michaelis?«, wechselte sie das Thema. Sie wusste, dass Steffen gut mit ihm befreundet war.

»Tja. Er hat mich mitten in der Nacht angerufen.« Steffen räusperte sich und zündete sich eine Zigarette an. Seine Stimme wurde noch etwas leiser, und Beate hatte Mühe, alles mitzubekommen, was er vor sich hin murmelte. »Und jetzt halt dich fest: Nicht etwa von zu Hause! Sondern aus Westberlin! Und er hat mir gleich zu verstehen gegeben, dass er nicht wiederkommen wird.«

Beate hielt sich an ihrer leeren Tasse fest. »Ach, du … glaubst es nicht

»Offenbar ist er gleich los, als die Nachricht verkündet wurde, dass die Mauer auf ist. Er wird wohl nicht der Einzige sein, der die Gelegenheit nutzt. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht zurückkehren kann

»Wieso nicht?«

»Als Volkspolizist ist es ihm nicht gestattet, einfach in den Westen zu spazieren. Jedenfalls noch nicht. Also ist das Republikflucht. Paragraph 213 des Strafgesetzbuches der DDR. Er hat wohl das Gewühl ausgenutzt. Wenn man den Fernsehbildern glauben darf, wurde der Antifaschistische Schutzwall beziehungsweise wurden die Grenzübergangsstellen überrannt.«

Beate behielt lieber für sich, dass sie von dem Jahrhundertereignis nichts mitbekommen hatte. Zum einen war ihr das aus irgendeinem Grund peinlich, zum anderen wollte sie nichts von ihrem Ex erzählen. »Denkst du, die machen die Grenze wieder dicht?«

»Wer weiß? Möglich ist alles.«

»Und der normale Bürger kann jetzt einfach so da rüberspazieren? Zum Klassenfeind?« Es fiel ihr schwer, das zu glauben.

»Schau es dir selbst an. Zumindest in der Glotze. Die Nachrichten sind voll davon. Jubelnde Leute, die sich an der Grenzpolizei vorbeischieben.« Steffen lachte leise.

»Und unser Kollege war also gestern Nacht mitten unter ihnen und hat sich einfach so mir nichts, dir nichts in den Westen abgesetzt. Na, wenigstens muss ich mich dank ihm nicht mehr länger mit verstaubten Akten beschäftigen.«

Beate hob schon seit einer geraumen Weile die Hand, doch die Kellnerin übersah sie geflissentlich.

»Willst du auch rüber?«, fragte sie ihren Kollegen.

»Du meinst zum Gucken? Ja, klar, sobald das für unsereins möglich ist. Du nicht?«

»Ich weiß noch nicht. Wahrscheinlich schon. Ganz schön mutig von Michaelis, von heut auf morgen sein Leben zu wechseln.«

»Vielleicht müssen wir das bald alle«, meinte Steffen.

»Wie meinst du das?«

»Na, ist doch gut möglich oder sogar sehr wahrscheinlich, dass wir demnächst alle unser Leben ändern werden. Jetzt, wo die Mauer auf ist …«

Die Kellnerin kam mit einem missmutigen Ausdruck im Gesicht an ihren Tisch.

»Sie wünschen?«

»Ich hätte gern das Würzfleisch«, bestellte Beate und tippte auf die fleckige Speisekarte.

»Ich auch«, sagte Steffen schnell.

»Ist aus«, teilte die Kellnerin gleichmütig mit.

»Dann die Soljanka.«

»Ist auch aus.«

»Was haben Sie denn noch?«, fragte Beate ungeduldig.

»Wiener Würstchen sind noch da. Mit Gurke, Bautz'ner Senf und Toastbrot.«

»In Ordnung.« Sie wechselte einen Blick mit Steffen, und er nickte ergeben. »Zweimal bitte. Und für mich noch ein Kännchen Kaffee.«


Nach ihrer Mittagspause erwartete der stellvertretende Direktor des geschlossenen Jugendwerkhofs, Reinold Spieß, Beate in seinem Büro. Er trug ein rosafarbenes Hemd, darüber eine blau-schwarz karierte Jacke, war von kräftiger Statur, aber nicht übergewichtig, sondern er sah eher so aus, als würde er die Sportübungen, die man den Jugendlichen hier abverlangte, auch selbst beherrschen. Seine borstigen Haare wirkten, als stünden sie ihm zu Berge, was vielleicht in Anbetracht der Situation sogar zutraf.

»Ihr Kollege, Genosse Lehmann, hat bereits mit mir gesprochen«, sagte er und reichte ihr seine Hand, die sich kalt und feucht anfühlte. »Aber natürlich beantworte ich auch gern noch Ihre Fragen. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?«

Beate lächelte höflich. »Nein, danke, ich habe gerade am Markt eine Tasse getrunken.« Das war wohl die Untertreibung des Tages. Aber sie konnte ihm ja schlecht erklären, dass sie sich in ihrer Mittagspause drei Kännchen, also mindestens sechs Tassen, gegönnt hatte.

»Ohne Kaffee geht bei mir gar nichts«, sagte Herr Spieß. »Zu Dienstbeginn habe ich manchmal mit dem Boss eine ganze Kanne geleert.« Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, und er stöhnte leise. »Was für ein unglaublicher Verlust. Wie konnte das passieren? Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Das verstehe ich. So ein plötzlicher Tod ist schwer fassbar. Wer hat Sie über den Todesfall informiert?«

»Unser Hausmeister, Herr Braun. Er hat auch die Polizei gerufen und vorher noch Doktor Rehling aus dem Bett geklingelt und um Hilfe gebeten.« Der Mann rang einen Moment nach Atem, als müsste er ein Schluchzen unterdrücken. »Aber die Hilfe kam leider zu spät ! … Über Jahre und Jahrzehnte war Karl Zinkner der Leiter dieser Jugendhilfe-Einrichtung, hatte immer alles unter Kontrolle. Auch wenn es nicht gerade wenige Probleme gab. Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen …« Er hob die Hand und ließ sie wieder fallen, als wäre sie ihm zu schwer. »Vierzig rebellische Jungen und zwanzig freche, widerspenstige Mädchen auf einem Haufen beziehungsweise in einem Haus in den Griff zu bekommen – und das Tag für Tag, Nacht für Nacht –, das ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Und nun so ein Ende!«

Beate nickte unbestimmt. »Was für ein Mensch war der Direktor?«

»Gute Frage, aber nicht einfach zu beantworten«, murmelte Reinold Spieß.

»Versuchen Sie es.«

»Er war eine absolute Respektsperson. Alle kamen seinen Anweisungen sofort nach – nicht nur die Jugendlichen, meine ich … Widerspruch duldete er nicht. Aber das wurde akzeptiert. So gab es unter den Kollegen wenig Ärger. Es war ja klar, wer das Sagen hatte.«

»Hatte er Freunde? Familie?«

»Ich würde ihn eher als Einzelgänger beschreiben, der mit diesem Werkhof verheiratet war. Ihn umgab immer eine Art … Geheimnis . Er vertraute sich selten jemandem an. Behielt alles für sich, offenbar auch seine Probleme. Wissen Sie, dass er sogar in diesem Gebäude gewohnt hat?« Er blickte ihr jetzt direkt in die Augen, als wollte er ihr mit dieser Bemerkung etwas zwischen den Zeilen mitteilen. Beate fragte sich, was.

»Seine Wohnung wurde von unseren Leuten schon auf Spuren und mögliche Hinterlassenschaften durchsucht«, antwortete sie. »Sie meinen mit Ihrer Einschätzung also, dass er keine Familie und keine Freunde hatte?«, fragte sie direkt.

»So kann man es ausdrücken. Ja.« Herr Spieß rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. »Und haben Sie denn schon etwas gefunden?«, wollte er wissen.

»Darüber darf ich nichts sagen.«

»Verstehe. Aber Karl war nicht der Typ, der Abschiedsbriefe schreibt. An wen auch?«

»Hatte Ihr Chef irgendwelche Feinde?«

»Feinde?«, fragte er überrascht zurück. »Sie meinen also, es war kein Selbstmord?«

»Wir sind erst am Anfang der Ermittlung. Sie glauben, es war ein Suizid?«

»Er hat gerade alles verloren«, wich er aus und hob jetzt beide Hände. »Da weiß man nicht, wie ein Mensch reagiert. Zumal einer, der sich nicht in die Karten gucken lässt. Aber … Zu Ihrer Frage: Sicher hatte er auch Feinde. Nicht jeder von unseren Jugendlichen hat begriffen, dass wir nur zu ihrem Besten handeln.«

»Sie meinen, manche, die hier festgehalten wurden, haben Rachegelüste?«

»Das kann man wohl kaum ausschließen.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Trotz all unserer Bemühungen, verweigern sich manche der Umerziehung. Leider müssen wir auch die UVBs entlassen, wenn sie achtzehn und damit volljährig werden.«

»UVBs?«

»Unverbesserliche.«

»Aber niemand kommt hier so einfach rein oder raus«, sagte Beate nachdenklich. Sie sah zum Fenster hinüber, das hier weder vergittert war noch aus Milchglas bestand. Ein einsamer, halb vertrockneter Kaktus stand auf dem Fensterbrett. »Wir brauchen eine Liste der Leute, die einen Zugang zum Gebäude haben, und natürlich die Namen derjenigen, die in der fraglichen Nacht Dienst hatten.«

»Die Namen des Personals und weitere Informationen habe ich bereits an Ihren Kollegen, Oberleutnant Lehmann, gegeben. Und sonst … gelangen nur Leute hinein, die einen Grund dafür haben. Der Fahrer, der die Jugendlichen in ihre Stammwerkhöfe bringt, die Bauarbeiter, die Postfrau … Aber die meisten, die nicht zum Personal gehören, kommen auch nicht direkt in den Teil des Werkhofs, in dem sich die Jugendlichen befinden, sondern höchstens auf den Hof oder in den Eingangsbereich der Verwaltung.«

»Und die Eltern der Jugendlichen?«

»Besuch ist nur im Besucherraum gestattet.«

»Und wo befindet der sich?«

»In der Verwaltungsabteilung.«

Klar, dachte Beate. Der Anblick des Gefängnistrakts könnte ja unangenehme Fragen aufwerfen.

»Wo werden eigentlich die Schlüssel für den Jugendwerkhof aufbewahrt?« Beate dachte an Andreas und seine Beobachtung: Irgendjemand musste vor Tagesanbruch seine Tür geöffnet haben. Wer? Und wozu?

»Die Erzieher und das Personal tragen ihre Schlüssel bei sich. Sonst würden sie hier nicht weit kommen. Warum fragen Sie?«

»Ich möchte nur wissen, an wen ich mich wenden muss, wenn ich die einzelnen Räume inspizieren will.«

»Jederzeit an mich, Frau Vogt!« Er zeigte ihr ein wohlwollendes Lächeln, als würde er ihr gleich ein frisch gezapftes Pils ausgeben. »Sie bekommen selbstverständlich die Unterstützung, die Sie benötigen.«

»Davon gehe ich aus«, sagte sie trocken und erhob sich. Als sie an der Tür stand, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Ach ja, eine Frage noch: Warum bringt man die Minderjährigen eigentlich in Zellen unter?«

»Zellen ?« Reinold Spieß hob erstaunt die Augenbrauen. »Wir haben hier keine Zellen. Das sind Schutzräume. Die Jugendlichen müssen vor sich selbst geschützt werden.«

»Vor sich selbst?« Sie lächelte säuerlich.

»Die Jugendlichen, die hier eingewiesen werden, sind unberechenbar«, antwortete er. »Keiner von denen ist ein Unschuldslamm.«

Beate hörte den verächtlichen Ton und fragte sich, ob sie noch bleiben und nachhaken sollte. Doch sie hielt die Klinke schon in der Hand, und kurz dachte sie an ihre Meerschweinchen, die sie sicher mit einem hungrigen Quieken empfangen würden. »Über Ihre Ansichten zu den Heiminsassen sprechen wir noch ein anderes Mal«, sagte sie.