Maik hörte im Halbschlaf, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Wie die Riegel beiseitegeschoben wurden. Erst der eine, dann der andere. Was war hier los?
Benommen kam er hoch und starrte durch das Dunkel hindurch die Tür an.
Welcher Erzieher wollte um die Zeit noch etwas von ihm? Zwar besaß er keine Uhr, aber es war eindeutig Nacht.
Automatisch schob er sich von der Pritsche und nahm Haltung an. Bereitete sich darauf vor, die Meldung aufzusagen, die hier, ganz egal, wie spät es war, verlangt wurde. »Jugendlicher Kerner meldet … Nachtruhe noch nicht beendet, keine besonderen Vorkommnisse.«
Na ja, so ganz stimmte das ja nicht. Keine besonderen Vorkommnisse? Der Mann, den er am meisten hasste, war tot. Abgekratzt. Hinüber.
Diesen Abgang gönnte Maik ihm von Herzen.
Er wartete darauf, dass jemand die Zelle betreten würde. Aber nichts geschah.
Ein schmaler Streifen Licht schimmerte zwischen Schwelle und Fußboden. Einen Moment sah er zwei kreisrunde schwarze Flecken darin. Waren das Füße? Stand jemand vor der Tür?
Maik blinzelte, rieb sich die Augen. Im normalen Leben hätte er gefragt: Wer ist denn da? Wer stört um diese Zeit? Oder etwas in der Art. Aber hier war das nicht erlaubt. Keine Fragen. Keine Bemerkungen. Nicht singen, nicht pfeifen, nicht lärmen. Das stand so in der Arrestbelehrung. Sich mit anderen Jugendlichen zu unterhalten war streng verboten. Reden durfte er nur, wenn er vom Erzieher ausdrücklich dazu aufgefordert wurde.
Maik war lange genug im Geschlossenen Jugendwerkhof, um zu wissen, welche Gesetze an diesem Ort herrschten. Jeder falsche Ton, jedes Wort konnte eine Strafe nach sich ziehen. Und er wollte raus aus diesem Loch. So schnell wie möglich. Er verstand ohnehin nicht, warum er noch immer eingesperrt war. Als einer der letzten Insassen.
Der Streifen Licht verschwand nicht, aber die Schuhe, die er glaubte, gesehen zu haben, waren nicht mehr da. Und kein Erzieher kam herein und brüllte ihn an.
Misstrauisch schlich Maik zur Tür und drückte vorsichtig dagegen. Tatsächlich: Sie gab nach. Was zum Teufel …?
Ehe er sichs versah, stand er draußen auf dem Gang. Unsicher blickte er sich um. Wenn er jetzt erwischt wurde … Aber niemand stürmte auf ihn los. Es blieb ruhig. Nur über sich, in der Mädchenetage, nahm er eine Bewegung wahr. Durch die Glasbausteine konnte er erkennen, dass dort jemand entlanglief. Maik hielt den Atem an, konzentrierte sich auf die schemenhafte Gestalt. Eine Frau. Das konnte nur die Hellermann sein.
Mit der wirst du fertig, sagte etwas in seinem Kopf.
Maik winkelte die Arme an, machte sich bereit, im Laufschritt durch den Flur zu rennen. Dann fiel ihm ein, dass das nicht notwendig war. Kein Erzieher da, der ihn antrieb. Er zwang sich beinahe dazu, langsam zu gehen. Und leise. Vorsichtig. So eine Gelegenheit kam nicht so schnell wieder. Auch das Etagengitter stand sperrangelweit auf. Er könnte hinunterschleichen und im unteren Trakt nach Andreas suchen. Nach dem Todesfall, nach dem Fund des toten Direktors hielten sie die beiden Jungen strikt voneinander getrennt. Nicht einmal zum Essen sahen sie sich. Damit sie sich nicht absprechen konnten?
Gingen die Polizisten davon aus, dass sie etwas mit dem Fall zu tun hatten?
Maik hörte ein Schlüsselklirren über sich. Und die Stimme der Hellermann. Sie nuschelte irgendwas vor sich hin. Redete sie mit jemandem? Er lauschte einen Moment. Nein, sie war allein. Offenbar führte sie nur Selbstgespräche.
Gute Gelegenheit. Mit der wirst du schon fertig.
Er spürte sein Herz schneller schlagen. Obwohl es kalt war in dem Knastgebäude, trat ihm der Schweiß auf die Stirn.
Ihm fiel ein, wie ihn die Hellermann vor zwei, drei Wochen im Speiseraum angeschnauzt hatte. Wegen was? Das hatte er vergessen. Jedenfalls hatte er hungrig hinter seinem Stuhl strammstehen müssen, während alle anderen schnell ihr Essen herunterschlangen. Und ihm fiel ein, wie er bei seiner ersten Einweisung nackt in der Kleiderkammer gestanden hatte und warten musste. Lange. Sehr lange. Und dann kam eine große, stämmige Frau, die er damals noch nicht kannte. Die eine Leibesvisitation bei ihm durchführte. Erst sollte er den Mund weit aufmachen. Und dann … dann musste er sich bücken … vor dieser … dieser … Elefantenkuh .
Maik spürte die Übelkeit wieder. Er schüttelte sich, als wollte er so die Erinnerung loswerden.
Doch die Wut in ihm blieb. Diese Wut hatte sich längst in ihm festgekrallt. Denn die Frau hatte noch etwas anderes getan: Hatte ihn, als er sich einmal wehrte gegen den Befehl, alles in der Arrestzelle noch einmal zu putzen, was er gerade mit der Bürste sauber geschrubbt hatte, in diesen Fuchsbau gezwungen. In ein Loch, in dem er nicht stehen konnte, nur kauern, die Arme um sich selbst geschlungen, oder liegen, zusammengekrümmt wie ein Embryo, auf dem eiskalten Boden. Wo er in seiner Einsamkeit vor sich hin vegetiert hatte – bis er sich selbst nicht mehr spürte. Bis er sich selbst verloren ging.
Es war nicht nur Wut. Es war schwarzer Hass.
Maik zwang sich zu einem Lächeln, als er sich über das Geländer beugte und zu der Erzieherin hochsah. Ein böses Grinsen für eine böse Frau.
Er hatte mehr als nur eine Rechnung mit ihr offen.
Sie redete mit ihm. Aber in seinen Ohren rauschte es. Kaum konnte er verstehen, was sie sagte. Nur dass es ein Befehl war, nahm er wahr. Und er würde keinen ihrer Befehle mehr befolgen. Nie wieder.
»Ich komm jetzt rauf zu Ihnen«, hörte er sich schließlich selbst. »Und dann geben Sie mir den Schlüssel.«
Seine Stimme klang beinahe sanft.