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Wie eine tote Krähe hatte der Schuh auf der Treppe gelegen. Schwarz und plump.

Und Georg Bruckner hatte gleich gewusst, dass das Ärger bedeutete. Vorher schon, als er die Türen offen fand. Alle ausgeflogen. Nie zuvor hatte es so was gegeben. Nie zuvor, soweit er sich erinnern konnte, war auch nur einem Jugendlichen die Flucht aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gelungen. Und jetzt waren gleich drei auf einmal weg!

Einer von den Schwererziehbaren musste die Hellermann überwältigt, ihr den Schlüssel abgenommen und die anderen beiden befreit haben. Dieser Schlaksige mit dem harten Gesicht. Der war Punk gewesen, als er hier reinkam. Daran erinnerte sich Georg noch. Und dann hatten sie ihm seine Stacheln einfach abgeschnitten. Ohne Pardon. Ausziehen, Leibesvisitation. Und er kam in den Arrest. Wie all die anderen. Ein Igel ohne Stacheln. Gedemütigt, fertiggemacht. Ausgeliefert. In ein Loch geschmissen. Eingeschlossen. Kein Entkommen möglich. Die Wut hinter dem leerer werdenden Blick war geblieben. Eine irrsinnige Wut. Ein irrsinniger Hass. Früher wäre Georg Bruckner das nicht aufgefallen. Aber dann waren es nur noch drei statt dreißig gewesen: jugendliche Gefangene, die abgerichtet wurden wie junge Hunde – nur gewalttätiger.

Und er, Georg, der Unsichtbare, der nachts seine Runden drehte, sah sie manchmal, wenn er am frühen Morgen seine Arbeit beendete. Drei sehr unterschiedliche junge Menschen. Jeder auf andere Art widerspenstig, gestrandet in Torgau. Immer noch mussten sie vor die Zelle treten und Meldung machen, als wäre nichts geschehen. Strammstehen. Fertig machen zum Frühsport. Rechts um, links um! Im Laufschritt! Dann: Runden rennen auf dem Hof, Liegestütze, Hockstrecksprünge, Kniebeuge.

Jetzt waren es nur noch diese drei, die man hier festhielt: ein Mädchen, ein Kind und ein Junge. Tanja, Andreas und Maik. Er kannte ihre Namen, auch wenn sie seinen nicht kannten. Er beobachtete sie, auch wenn sie ihn nicht wahrzunehmen schienen. Um Mitternacht lauschte er manchmal an den Türen.

Wenn er Andreas, den Jüngsten hier, in der Einzelzelle weinen hörte, fühlte er seine eigene Verlorenheit, den Schmerz aus Kindertagen, den er versuchte zu verdrängen. Er sah in Andreas das Kind, das er selbst einst gewesen war. Doch der Wunsch, der manchmal in ihm aufkam, etwas für ihn zu tun, ihn zu beschützen, blieb nur ein Wunsch. Die Realität in der Düsternis dieses Gefängnisses war eine, die sich um Wünsche und Träume nicht scherte.

Waren die sogenannten Erzieher gern hier? Empfanden sie Freude daran, ihre Macht auszuüben? Die Hellermann jedenfalls war nicht freundlicher zu den eingesperrten Jugendlichen, nur weil sie eine Frau war. Das hatte er auch mitbekommen. Der einzige Unterschied war die Tonlage: Wenn die männlichen Erzieher brüllten und bellten, hörte er Frau Hellermann keifen und kreischen.

Die zwei Jahre, die er in dieser Einrichtung arbeitete, war er immer froh gewesen, wenn er kurz nach Tagesanbruch gehen konnte. Das Elend nicht mitansehen musste. Die Nacht reichte auch so schon. Das Geflenne und Geheule der sechzig Eingesperrten. Die verzweifelten Rufe nach der Mama, nach dem Zuhause und manchmal nach Gott. Zwanzig Mädchen und vierzig Jungen. Nachts saß das Weinen hinter den Zellentüren, als wohnte es dort. Gewöhnen konnte er sich an diese Geräusche nicht. Sie zerrten an seinen Nerven.

Auch er war gewissermaßen in Torgau gestrandet. Sollte sich bewähren. Nachdem er als Grenzer einen Flüchtling hatte entkommen lassen, ohne einen Finger zu rühren – geschweige denn den am Abzug seiner Waffe. Nicht einmal einen Warnschuss hatte er abgegeben. »Befehlsverweigerung« und »vorsätzliche Verletzung der Dienstpflichten« – so lauteten die Vorwürfe. Beweisen konnten sie ihm damals nichts. Dem Militärknast in Schwedt war er gerade so entgangen. »Unehrenhaft entlassen« aus der Grenztruppe wurde er dennoch. Die Soldaten in seinem Regiment hielten ihn für plemplem, die Offiziere zweifelten ebenso an seinem Geisteszustand. Er taugte nicht als Soldat. Vorübergehend hatten sie ihn sogar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Wenn er diesen Menschen erschossen hätte, wäre er dann mit einem Orden ausgezeichnet worden?


Im Geschlossenen Jugendwerkhof hatte er die Gefängnisgänge auf und ab zu laufen und zu kontrollieren, dass die Zöglinge zwischen Einschluss und Aufschluss der Verwahrräume am Leben blieben, keinen Suizid begingen und sich nicht gegenseitig umbrachten. Seine Aufgabe war es, nachts herumzuschleichen und zu lauschen – auf das, was passierte. Und deshalb wusste er mehr als andere.

Wusste, dass Tanja manchmal nachts fluchte und auf die Erzieher schimpfte, dass Andreas sich in den Schlaf weinte und im Traum nach seiner Oma rief, dass Maik auch mitten in der Nacht auf und ab ging, an die Tür schlug – manchmal auch mit dem Kübel für die Notdurft, sodass es durchs ganze Haus schepperte. Aber er erzählte niemandem etwas über seine Beobachtungen. »Keine besonderen Vorkommnisse«, schrieb er in das Dienstbuch. Ansonsten erledigte er, was erledigt werden musste.

Und auch heute führte er aus, was ihm befohlen wurde: »Die Hellermann ist also verschwunden, wie Sie sagen. Dann suchen Sie sie!«

Er dachte nicht darüber nach. Er führte nur den Befehl vom neuen Chef aus. Ging ohne besondere Eile durch die Gänge des alten Gefängnisses. In den Werkhallen war sie nicht. Im Sportsaal ebenso wenig. Auch nicht in dem Essensraum.

Soviel er wusste, war die Erzieherin alles andere als beliebt. Weder bei den jungen Eingesperrten noch beim Personal.

Einmal hatte er miterlebt, wie sie am späten Abend die Jugendliche Tanja Wolter aus der Arrestzelle geholt und in den Keller gebracht hatte. »Das Mädel kann sich einfach nicht benehmen!«, hatte sie gekreischt, als sie sich auf der Treppe begegneten. Georg hatte geschwiegen. Diese Dinge gingen ihn nichts an. Er war kein Erzieher. »Die Wolter singt noch, wenn sie in der Zelle ist!«, hatte Frau Hellermann empört hervorgestoßen.

Unverbindlich hatte er ihr zugenickt. Singen war nun mal verboten. Singen hinter Gittern – das passte nicht. Singen wurde bestraft. Wie jeder andere Disziplinverstoß auch. So waren nun mal die Regeln. Und an Regeln musste man sich halten. Besonders hier.

Wahrscheinlich hatte Hildegard Hellermann nicht nur diese Jugendliche nach unten in die Dunkelzelle gebracht.

Natürlich! Der Keller ! Da hatte er noch nicht gesucht.