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Beate kroch in den Schlund, den der Wachmann Georg Bruckner Fuchsbau genannt hatte. Wohl war ihr dabei nicht. Ganz und gar nicht! Sie fühlte sich wie in einem Albtraum. Nur war sie ziemlich sicher, dass es keiner war. Sondern Realität – eine Realität, die sie vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten hätte.

In diesen Kabuff sperrte man Jugendliche ein? Das durfte ja wohl nicht wahr sein!

»Frau Hellermann? Geht es Ihnen gut?«

Das ist vielleicht nicht die passende Frage, dachte sie. Wie mochte man sich fühlen, wenn man in diesem Loch steckte?

Sie versuchte, etwas zu erkennen, und sah den gebeugten Rücken und die dreckigen Stiefelsohlen der Nachtwache vor sich. Dann entdeckte sie die Erzieherin, ihre massige Gestalt lag ausgestreckt da – wie ein riesiges Stück Fleisch. Ihr dauergewelltes Haar kringelte sich im Schmutz.

»Frau Hellermann!«, rief Beate laut. »Hören Sie mich?«

»Ich versuche, um sie herum zu kriechen, und schiebe«, sagte der Wachmann. »Und Sie ziehen, okay?« Er sprach ruhig. Nicht in einem Befehlston. Beinahe zu ruhig, als hätte er so eine seltsame Aktion schon häufiger durchgeführt. Wohl oder übel musste sie Vertrauen zu ihm fassen.

Beate stemmte sich ein Stück hoch, sodass sie unter der erdrückenden Kellerdecke halb saß, halb hockte, und wartete ab, bis er an der Liegenden vorbeigerobbt war.

Frau Hellermann lag gefesselt und geknebelt auf dem nackten Boden. Es war schwer zu erkennen, ob sie überhaupt noch atmete. Es kam Beate zwar so vor, aber sie hätte es nicht beschwören können.

»Sie lebt«, murmelte Georg Bruckner.

»Gott sei Dank.«

Beinahe ruppig entfernte er den Knebel aus ihrem Mund.

Wie es aussah, war es ein Strumpf. Der Mann ließ ihn angewidert fallen.

Die Erzieherin schien nicht schwer verletzt zu sein. Sie hatte nur ein paar Schürfwunden im Gesicht, an den Armen und Händen und an ihrem nackten Fuß, soweit Beate das erkennen konnte. Wahrscheinlich war sie nicht gerade sanft in dieses Verlies befördert worden.

»Greifen Sie unter die Kniekehlen der Frau. Ich versuche, sie etwas anzuheben.« Er klang besonnen. Beinahe so, als müsste er ein Möbelstück von A nach B bewegen, ein schweres unhandliches Sofa – und das möglichst konzentriert und schnell.

Sie nickte ihm zu.

Es stank bestialisch in dem engen Raum. Nach Urin und noch etwas anderem, Säuerlichem. Vielleicht hatte sich Frau Hellermann übergeben, bevor sie ohnmächtig wurde. Beate wollte es sich lieber nicht so genau vorstellen und vermied es, nach dem Erbrochenem Ausschau zu halten. Mit angehaltenem Atem folgte sie den Anweisungen des Wächters. Während sie die Bewusstlose gemeinsam ein paar Zentimeter anhoben, starrte er Beate direkt in die Augen.

Es kam ihr vor, als würde sie in einen Tunnel sehen, der schwarz und tief vor ihr lag. Aber sie hielt dem Blick stand, packte Frau Hellermann – die nicht gerade ein Fliegengewicht war – noch ein wenig fester, bewegte sich rückwärts kriechend aus dem Fuchsbau heraus. Als sie die Erzieherin nach draußen befördert und im Gang abgelegt hatten, sah sie plötzlich etwas aufblitzen. Der Wachmann beugte sich mit einem Messer in der Hand über die Bewusstlose. Beates Herz machte einen Sprung. Doch dann löste er schnell, mit ungeduldig rücksichtsloser Bewegung die Fesseln der Frau.

Ein Zucken lief durch den Körper der Liegenden, und auf einmal stöhnte sie leise.

»Frau Hellermann? Keine Sorge. Wir helfen Ihnen«, sagte Beate, erleichtert darüber, dass sie ein Lebenszeichen von sich gab.

»Hildegard! Aufwachen!«, sagte Georg Bruckner streng, hob ihren Oberkörper an, schüttelte ihn und versetzte der Frau eine heftige Ohrfeige.

Die Erzieherin riss plötzlich die Augen auf und schnappte nach Luft. »Was … Was erlauben Sie sich?«, stieß sie hervor.

»Wir haben Sie da rausgeholt«, erklärte Beate Vogt schnell. »Aus diesem …« Sie deutete auf die kleine eckige Öffnung.

Mit einem Fuchsbau hatte dieses Loch eigentlich nichts zu tun. Jeder Fuchs lebte bequemer und hatte mehrere Ausgänge, die ihm im Notfall die Flucht ermöglichten.

Frau Hellermann blickte verständnislos um sich. Sie kam ein Stück hoch und streifte die Hand des Wächters mit einer empörten Geste von der Schulter. »Wo ist mein Schuh? Wo ist mein Strumpf?«, fragte sie verwirrt.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Beate.

»Na, Sie sind gut, junge Frau. Das sind Salamander -Schuhe aus dem Exquisit ! Wissen Sie, wie teuer die waren?«

Beate schüttelte den Kopf. Beinahe hätte sie über die Bemerkung gelacht. Doch wahrscheinlich stand die Erzieherin unter Schock.

»Sie waren bewusstlos. Wir werden jetzt erst mal einen Arzt rufen.« Beate griff nach ihrem Funkgerät und verständigte Lehmann.


Eine Stunde später saß Beate im Erzieherzimmer Georg Bruckner gegenüber und versuchte, nicht an Urfin, die Gestalt aus ihrem alten Kinderbuch, zu denken.

Frau Hellermann war mit der Schnellen Medizinischen Hilfe auf dem Weg ins Krankenhaus. Lehmann, der sie so bald wie möglich befragen wollte, und Reinold Spieß begleiteten sie. Den Wachmann überließ man ihr. Sie hatte ja schließlich schon nähere Bekanntschaft mit ihm geschlossen.

»Als Sie kamen, waren die Türen also geöffnet?«

»Ja.«

»Alle?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das Schleusentor auf dem Hof stand einen Spaltbreit offen. Die Etagengittertüren waren nicht verschlossen. Und die Zellen der drei Jugendlichen fand ich ebenfalls geöffnet vor, Frau Kriminalpolizistin

Er redete sachlich – so wie in dem winzigen Verlies, in dem sie Hildegard Hellermann geborgen hatten. Aber unter diesem Ton lag etwas anderes, ein zynischer Klang, und in seinen dunklen Augen saß ein spöttisches Funkeln.

»Zeigten sich Spuren von einem gewaltsamen Eindringen?«, hakte sie nach.

Er lachte kurz auf, beugte sich über den Tisch und kam ihr auf eine Art nahe, die ihr unangenehm war. »Gewaltsames Eindringen, Frau Kommissarin?« Er sah ihr direkt in die Augen. »Hier? Das wäre schlichtweg unausführbar.«

»Wir müssen allen Möglichkeiten nachgehen«, sagte sie matt und lehnte sich ein Stück zurück. Sie wurde aus dem Mann nicht schlau. Aber das musste sie ja auch nicht, oder? Und außerdem: Ohne ihn hätte sie Frau Hellermann nicht gefunden. Oder jedenfalls nicht so schnell.

»Sicher«, sagte er. »Sicher müssen Sie das. Alle Möglichkeiten sind natürlich auch ganz schön viele.« Er lachte.

Sie nickte, fragte sich, ob das ein Witz sein sollte, schenkte ihm ein unverbindliches Lächeln und gähnte plötzlich.

Der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar. Ein starker Kaffee wäre nicht schlecht. Richtiger Bohnenkaffee. Nicht dieser Muckefuck, nach dem es in dem Büro roch. Beinahe sehnsüchtig dachte sie an ihr gemütliches Nest, in dem sie jetzt eigentlich liegen sollte. Es kam ihr auf einmal gar nicht mehr so schlimm vor, dass Tonis Bett verschwunden war. Sie konnte ohnehin nicht in zwei Betten gleichzeitig schlafen.

»Welche Variante des Entkommens halten Sie denn für möglich?«, fragte sie ihr Gegenüber.

Er zuckte mit den Schultern. »Die Jugendlichen haben wohl einen Schlüsselbund gehabt.«

»Und woher?«

»Von Frau Hellermann, von wem sonst?« Er klang auf einmal leicht genervt.

»Aber … alle drei Minderjährigen waren eingeschlossen, soweit ich informiert bin.«

»Das ist in diesem Hause so üblich«, sagte er sarkastisch.

»Meinen Sie, Ihre Kollegin hat eine Zelle betreten und ist dort überwältigt worden?«

Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie nachts allein in einen Verwahrraum gehen?«

»Was denken Sie, was passiert ist?«

Er zuckte mit den Achseln. »Normalerweise wird penibel darauf geachtet, dass alle Türen und vor allem die Räume, in denen sich die Jugendlichen befinden, zugeschlossen sind.«

Beate nickte. »Waren sie dann aber wohl nicht.«

»Richtig.«

»Und das heißt?«

»Entweder hat der diensthabende Erzieher beim Einschluss einen Fehler gemacht, oder …«

Georg Bruckner verstummte. In seinen dunklen Augen lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.

»Oder?«

»Na ja, jemand, der einen Schlüssel hatte, hat aufgeschlossen, was sonst?«