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Tanja war sich nicht sicher, ob das der richtige Zeitpunkt war, um zu fliehen. Doch sie konnte doch unmöglich in der Zelle hocken bleiben, oder?

Sie starrte Maik an, der plötzlich wie ein Geist vor ihr aufgetaucht war.

Er hatte aufgeschlossen, als wäre weiter nichts dabei, sie angegrinst, und nun sagte er etwas, das sie nicht glauben konnte, das viel zu unwahrscheinlich klang: »Die Hellermann ist im Fuchsbau, und ich hab den Schlüssel.« Als müsste er das noch beweisen, hob er den eisernen Ring, an dem die schweren Metallteile matt glänzten – wie fette Fische, die er gerade geangelt hatte.

War das ein Traum? Aber sie träumte nicht mehr in Torgau, schon lange nicht mehr. Seit Wochen blieb ja auch ihre Regel aus. Gab es da einen Zusammenhang? War sie innerlich hohl? Karl Zinkner hatte sie ein paar Tage vor seinem Tod zum Frauenarzt gebracht, hatte sich besorgt um sie gezeigt und ihr sogar die Handschellen abgenommen, bevor sie die Praxis betraten – was keineswegs üblich war. Doch der Doktor, der sie im Beisein des Direktors untersuchte, stellte nur fest, dass sie nicht schwanger war; sie musste also keinen Abbruch vornehmen lassen. Und er sagte ihr: »Das Ausbleiben der Menstruation kommt gelegentlich vor, bei Stress und zu hohen Belastungen.« Er sah sie nicht an, während er mit ihr redete, blickte auf ein Stück Papier auf seinem Schreibtisch, wollte ihr ein Medikament verschreiben, ein paar Tabletten Rudotel zur Beruhigung. Doch Direktor Karl Zinkner erklärte dem Arzt, dass sie keine Medizin brauche, da sie ja vollkommen gesund sei. So groß und breit, wie er war, schien er den kleinen Untersuchungsraum auszufüllen, und der Doktor sah dagegen klein und schmächtig aus – irgendwie wie ein Wurm. Und ein Wurm hatte nichts zu sagen. Ein Wurm war etwas, das man zertrampeln konnte.

Doch jetzt hatte der Direktor nichts mehr zu sagen , weil er nämlich tot war.

Tanja gewöhnte sich erst allmählich an den Gedanken. Dieser Tod war einfach zu plötzlich gekommen, zu überraschend, zu unerwartet. Wie etwas, das vor ihren Füßen explodierte, obwohl Silvester längst vorbei war. Sie befand sich nun nicht mehr in der Obhut dieses Mannes. Ein für sie noch immer unvorstellbarer Umstand.

Sie lief Maik nach. Sie musste nichts weiter tun, als ihm zu folgen. Er schien zu wissen, was er tat. Sie war froh, dass sie nicht selbst über die nächsten Schritte nachdenken musste.

Maik stoppte vor einer Zelle im Jungentrakt, und sie sah hoch, blickte aus der Benommenheit, in der sie sich befand, zu ihm auf. Er grinste sie an, und dann tat er etwas Merkwürdiges: Er klopfte – als wäre das eine ganz normale Tür. Wer klopfte denn in einem Knast? Auch wenn das hier offiziell ein Spezialheim für die Schwersterziehbaren war: Niemand der Erzieher wäre je auf diese Idee gekommen. Natürlich konnte Andreas ihm nicht öffnen. Höchstwahrscheinlich hörte er das leise Pochen an der Eisentür nicht einmal. Tanja wartete, bis Maik aufschloss, die Riegel beiseite knallte, als wäre er darin geübt.

Andreas stand da wie eine Puppe; er wirkte erstarrt, regungslos. In seinem kalkweißen Gesicht fand sich nichts. Kein Erstaunen, keine Freude. Hinter der Blässe saß die nackte Angst. Maik versetzte ihm einen leichten Schlag gegen die Schulter, wie um ihn zu wecken. »Was ist, kommst du mit?«

Tanja hörte die Frage, als würde sie ihr gelten. Einen Moment überlegte sie, zurück in ihre Zelle zu gehen, sich auf die Pritsche zu legen und zu warten, bis Frau Hellermann kam, um sie anzuschreien und zum Frühsport zu treiben.

Es gab doch keinen Grund mehr wegzulaufen, oder? Schließlich sollte sie bald in dieses Wohnheim kommen – wo sie fast ein freier Mensch sein würde. Doch wenn es stimmte, was Maik erzählt hatte, befand sich die Hellermann im Keller, und dann konnte sie ja nicht an Tanjas Tür erscheinen und sie anbrüllen. Der ganze perfekt geordnete Tagesablauf war damit abhandengekommen. Und für Maiks Irrsinnstat würden sie alle drei büßen müssen. Vielleicht kamen sie sogar in die Dunkelzellen. Jeder in ein Extraloch, und da konnten sie dann hocken, bis sie so schwarz wurden, wie es da unten schon war. Wahrscheinlich würden die Erzieher sie nicht mehr herauslassen, nie mehr. Frau Hellermann würde sich an ihnen rächen. Zuerst an Maik. Dann an Tanja und schließlich an Andreas. Sie wären geliefert.

Da unten im Rabenschwarz konnten sie klopfen, brüllen, weinen, so viel sie wollten. Niemand würde sie hören. Sie würden sich selbst in Raben verwandeln. In Rabenkinder. Die Flügel gestutzt. Von allen verlassen. Unglücksraben waren sie ja ohnehin schon. Ihre Gedanken schienen Karussell zu fahren, Kettenkarussell. Alles wirbelte umher. Der Boden unter ihr gab nach. Sie schwankte kurz, taumelte, dann fing sie sich. Reiß dich zusammen, dachte sie. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben.

Andreas drehte sich noch einmal um und betrachtete seine Lagerstätte. »Ich hab das Bett noch nicht gemacht«, stellte er fest. Seine Stimme klang in all dem Harten, das sie umgab, viel zu weich.

Tanja ging einen Schritt auf ihn zu, griff instinktiv nach seiner Hand, zog ihn entschieden heraus aus der Zelle, schlug die Tür zu. »Du brauchst dein Bett nicht mehr bauen. Nie mehr! Kante auf Kante ist vorbei! Verstehst du?«

Andreas antwortete nicht. Doch er überließ sich ihrem Griff, trabte hinter ihr her, als wäre er ein Kindergartenkind, das noch ein bisschen müde war. Und Tanja hielt ihn fest; sie wusste, dass sie ihn so schnell nicht loslassen würde.

Sie rannten im Laufschritt durch die Gefängnisgänge, so wie sie es gewöhnt waren. Tanja spürte die Finger von Andreas allmählich warm werden. Hand in Hand mit einem Jungen zu laufen – wie viele Tage Arrest hätte das gegeben?

Maik spielte den Erzieher, der Gitter und Türen aufschloss. Nur dass er »vergaß« zuzuschließen, nur dass er nicht brüllte: »Tempo!«, »Dalli, dalli!«, »Schlaft nicht ein, ihr lahmen Enten!« Stattdessen verbeugte er sich mit ironischer Geste, wenn er sie durch die Absperrungen ließ. Sagte albern lachend: »Simsalabim, Sesam öffne dich!«

Sie erkannte ihn kaum wieder. Er hatte sichtlich Spaß in seiner neuen Rolle, wirkte leicht, erleichtert. Beinahe schwebte er durchs Haus – so schien es Tanja. Vielleicht war er ja doch ein Geist? Es kam ihr fast zu einfach vor, ihm zu folgen.

Als der eisig kalte Novemberwind sie empfing, kam sie endgültig zu sich. Drückte die schmale Hand, die in ihrer lag, noch etwas fester. Wechselte einen Blick mit Andreas. Ein schüchternes, ungläubiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

Passierte das tatsächlich?

Alles fühlte sich so unwirklich an. Der Boden unter ihren Füßen kam ihr wie aus Gummi vor.

Waren sie gerade dabei abzuhauen?

Aber wo sollten sie jetzt hin?