Wieso zum Teufel tauchte diese Polizistin hier auf?
Dr. Rehling fror augenblicklich seine Gesichtszüge ein, versuchte, sich seine Überraschung, sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen.
»Frau Vogt, ach ja, ich erinnere mich.« Dr. Rehling sah sie durch seine große eckige Brille prüfend an. »Setzen Sie sich doch. Entschuldigen Sie, dass ich Sie vorhin nicht gleich erkannt habe. Hier im Krankenhaus ist immer viel zu tun, wissen Sie? Gerade im Herbst und im Winter, da häufen sich die Infekte, und manche davon arten aus, werden zum Beispiel zu beidseitigen Lungenentzündungen. Und die sind dann schnell lebensgefährlich. Sie haben ja keine Vorstellung, wie häufig das vorkommt. Nicht nur bei älteren Herrschaften.«
Er sprach langsam, fast schleppend. Manche Patienten schien das zu beruhigen, vielleicht half es auch bei dieser Polizistin. Dabei zog er seine Mundwinkel leicht nach oben. Er versuchte ein Lächeln und hoffte, dass es echt wirkte.
Wieso kam sie zu ihm? Oberleutnant Lehmann hatte ihn doch schon verhört. Nicht besonders interessiert allerdings an seiner Geschichte, an dem Leichenfund und der Diagnose. »Unklare Todesursache«, hatte er auf dem Totenschein vermerkt. »Meinen Sie, es war ein Suizid?«, hatte ihn Lehmann gefragt. »Sehr wahrscheinlich«, hatte er geantwortet. »Jedenfalls keineswegs unwahrscheinlich«, war er nach kurzer Überlegung etwas zurückgerudert.
Genosse Lehmann hatte genickt. Und nicht unzufrieden gewirkt. Ein Suizid bedeutete wohl eben weniger Arbeit. Die Polizisten waren Stümper, jedenfalls kamen sie ihm wie Stümper vor.
Bei den sogenannten besonderen Vorkommnissen im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau hatten sie nie herausbekommen, worum es eigentlich ging. Anscheinend hatten sie sich nie die Mühe gemacht, die Hintergründe des Geschehens näher zu beleuchten.
Als ein Junge in die Elbe gesprungen und dabei ertrunken war – ein missglückter Fluchtversuch –, hatte auch die Polizei ermittelt. Wirklich?
Der Junge, der sich letztes Jahr in der Einzelzelle erhängt hatte. Psychische Probleme, hieß es danach. Ernsthaft ?
Ein anderer, der sich vor ein paar Jahren in seiner Zelle verbrannt hatte. Ein Feuer in Torgau – und niemand hatte es rechtzeitig bemerkt?
Natürlich hatte er die Dinge auf sich beruhen lassen, nur das Nötigste mit dem Direktor Zinkner besprochen. Zum Glück war er jedes Mal, wenn es zu so einem Zwischenfall kam, im Urlaub gewesen. Wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, hatte sich der Sturm schon wieder gelegt. Eigentlich waren diese Zufälle seltsam, aber er hatte nie länger darüber nachgedacht.
Die Polizistin, die ihm gegenübersaß, wäre ihm als Insassin des Werkhofs kaum aufgefallen. Sogar im grellen Licht seines Behandlungsraums wirkte sie jünger, als sie vermutlich war. Dieser wache, trotzig misstrauische Blick signalisierte ihm, dass er aufpassen musste, was er sagte. Sie schien ihm nicht alles abzukaufen. Bei der musste er vorsichtig sein. Wusste Lehmann überhaupt, dass sie hier war?
Die Vogt war einfach hier aufgetaucht, ohne sich vorher anzumelden. Hatte mit der Hellermann gesprochen, dieser dummen Nuss. Er behielt diese Patientin lieber noch etwas unter Aufsicht, ehe sie sich unbedacht äußerte. Damit, dass diese junge Polizistin hier ohne Ankündigung reinplatzte, hatte er nicht gerechnet. Hatten die Polizisten des Volkes nichts Besseres zu tun?
»Ich dachte, der Fall wäre abgeschlossen«, sagte er langsam.
»Wie kommen Sie darauf?«
Er zuckte mit den Schultern, begegnete ihrem lauernden Blick. »Ich habe nichts mehr von dem Genossen Lehmann gehört. Und … Es passiert gerade so viel in dieser Stadt, in diesem Land, alles ändert sich, und ich dachte …«
»Was dachten Sie?«
»Er war ein sehr einsamer Mensch, müssen Sie wissen.«
»Der Direktor?«
Er nickte. Was für eine Frage war das denn? Um wen ging es denn sonst? »Keine Familie. Keine Freunde. Keine Aussicht auf eine Zukunft mehr. Als die Mauer fiel, war sein Leben vorbei.«
»Aha.« Sie sah ihn an. Wartete. Lauerte. So kam es ihm vor. Glaubte sie ihm nicht? Saß da ein ironisches Glitzern in ihren Augen?
»Wenn Sie mich fragen, hat Herr Zinkner konsequent gehandelt. Das ist tragisch, aber nachvollziehbar.« Er hoffte, dass seine Stimme sachlich und emotionslos klang.
»Es ist nach wie vor unklar, ob es sich um einen Suizid oder ein Tötungsdelikt handelt«, entgegnete die junge Frau. In ziemlich kühlem Ton, wie er fand.
»Bei meiner Erstuntersuchung des Leichnams vor Ort konnte ich keine Zeichen eines Fremdverschuldens feststellen.«
»Und die Verletzungen? Der Tote hatte doch Spuren an den Händen?«
»Die kann er sich selbst zugefügt haben. Manche überlegen es sich im allerletzten Moment anders. Wenn die Schlinge sich zuzieht und sie keine Luft mehr bekommen, versuchen sie, sich zu befreien. Das ist dann natürlich zu spät.«
»Kannten Sie den Direktor so gut, dass Sie einen Suizid für wahrscheinlich halten?«
»Ich äußere nur eine Vermutung. Immerhin arbeite ich seit sechzehn Jahren in der Disziplinaranstalt. Zweimal die Woche hatte ich da meine ärztliche Sprechstunde für die Eingewiesenen. Der Leiter des Werkhofs wollte einen Bericht von mir, wenn etwas Besonderes vorgekommen war.«
»Was war denn etwas Besonderes ?«
»Na, zum Beispiel, wenn sich ein Jugendlicher im Arrest selbst verletzt hatte, versuchte, sich die Pulsadern zu öffnen, oder im Arbeitsbereich zu viele Schrauben, Muttern, Büroklammern oder Desinfektionsmittel schluckte, oder wenn es dort einen Unfall gab, der über das Übliche hinausging.«
Dr. Rehling blickte ihr prüfend ins Gesicht. Wurde sie blass? Verriet er zu viel?
»Wie war das Verhältnis der Zöglinge zu Direktor Zinkner?«
Er schwieg einen Moment, tat so, als würde er über ihre Frage nachdenken. Ahnte sie bereits, was sich hinter den Torgauer Mauern abgespielt hatte?
Vielleicht sollte er ihr etwas liefern – etwas, womit sie sich eine Weile beschäftigen konnte. Woran sie sich die Zähne ausbiss, wie es so schön hieß.
»Die Jugendlichen haben ihn akzeptiert. Die meisten hatten Angst vor ihm, vor seiner uneingeschränkten Macht, aber im Großen und Ganzen haben sie ihn akzeptiert. Er war der große Boss, der das Sagen hatte. Und er hat sich um jeden Einzelnen gekümmert. Auf seine Weise.«
Die Polizistin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. »Wie meinen Sie das?«
»Manche haben sich ihm und seinem System unterworfen, andere nicht. Einige blieben rebellisch. Und das konnte er sich natürlich nicht bieten lassen. Er musste entsprechend reagieren. Er nannte das: die Erziehungsbereitschaft herstellen. Mit manchmal etwas drastischen Mitteln. Und dann gab es noch diejenigen, mit denen er eine Art besonderes Mitleid zu haben schien, um die er sich besonders kümmerte.«
»Wie sah dieses Kümmern aus?«, fragte die Polizistin, während sie sich ein paar Notizen machte.
»Wie gesagt: Er war einsam. Er sehnte sich nach einer Familie.«
Sie hob den Kopf. »Das heißt konkret?«
»Es konnte vorkommen, dass der Direktor einen Jugendlichen mit in den Urlaub nahm, zum Beispiel. Und … dann gab es noch die Spezialfälle.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. Wieder bekam er das Gefühl, zu viel zu verraten. Aber was sollte passieren? Zinkner war tot.
»Er erwog sozusagen, die aussichtsreichsten Kandidaten zu adoptieren beziehungsweise sie zunächst als Pflegekinder zu übernehmen.«
»Und das war legal?«
»Natürlich. Na, hören Sie: Er war der Leiter des einzigen Geschlossenen Jugendwerkhofs der DDR, der direkt unter der Aufsicht des Volksbildungsministeriums und der Ministerin Margot Honecker stand. Alles wurde abgestimmt mit den Organen der Jugendhilfe. Vielleicht sogar mit Genossin Honecker persönlich.«
»Und das heißt?« Die junge Frau runzelte die Stirn. »Welche Jugendlichen betraf das denn?« Sie wirkte jetzt beunruhigt, beinahe gequält.
»Sie haben sie kennengelernt. Er hat die drei nicht zufällig zurückgehalten. Er hatte die Absicht, sie zu sich zu nehmen. Maik Kerner, Tanja Wolter und Andreas Schwalbe. Der Mauerfall machte diese Pläne natürlich zunichte.«
Er lehnte sich zurück, strich sich über den stets ordentlich anliegenden Seitenscheitel und verschränkte die Arme.