Erschöpft vom Tag und immer noch hungrig, stieg Beate die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Die Tür eines Nachbarn knallte zu, als sie daran vorbeilief, und sie zuckte zusammen. War das Absicht? Oder Zufall? Vielleicht nur ein Windstoß? Wie auch immer: Ihre Nerven lagen blank. Sie hatte Feierabend und musste dringend abschalten. Sie nahm sich vor, jetzt nicht mehr an die geflüchteten Jugendlichen, Frau Hellermann, Dr. Rehling und den toten Direktor zu denken. Stattdessen würde sie sich mit ein paar Eierkuchen belohnen. Eier, Zucker und Mehl hatte sie zu Hause, und wenn sie sich nicht irrte, auch noch ein Glas Apfelmus. Seit sie ein Kind war, aß sie diese süße Speise am liebsten. Toni hatte die Begeisterung für dieses einfache Gericht allerdings nicht geteilt und meist die Nase gerümpft, wenn sie es auf die Schnelle zubereitete. Er war eher ein Fleischesser und sein Lieblingsgericht Rinderrouladen mit Thüringer Klößen, und dafür brauchte man mindestens zwei bis drei Stunden.
Als sie die Tür aufschließen wollte, merkte sie, dass sie nur angelehnt war. Hatte sie etwa am Morgen vergessen abzuschließen? Sie war überstürzt aufgebrochen, in aller Eile die Stufen hinuntergerannt. Aber das kam ja nicht so selten vor, und bisher hatte sie doch immer daran gedacht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und herumzudrehen – oder etwa nicht?
Mit einem mulmigen Gefühl betrat sie ihre Wohnung. Einen Moment stand sie im Flur und lauschte. Vielleicht war Toni ja gerade da, um wieder etwas abzuholen. Sie besaß noch ein paar Bücher und Schallplatten von ihm.
»Hallo?«, fragte sie halbherzig. »Ist da wer? Toni, bist du da?«
Es blieb still. Dann quiekte Susi lauthals. Beate verriegelte die Tür und ging in die Küche, um Futter für die Meerschweinchen zu holen.
Als sie den Küchenschrank öffnete, lächelte ihr in Augenhöhe die Matroschka entgegen. Aha, dachte sie, also ist er doch hier gewesen. Offenbar hatte sich Toni einen Scherz erlaubt. Nur konnte sie gerade nicht darüber lachen. Auf Dauer würde sie ohne Kühlschrank nicht auskommen, doch im Moment fehlte ihr das Geld, um einen neuen zu kaufen.
Sie angelte Mohrrüben, Gurke und Salatblätter aus dem provisorischen Gemüsefach und zupfte etwas Petersilie von dem Bund, der in einer Vase stand. Mittlerweile hörte sie alle vier Meerschweinchen quieken.
»Ja, ja, ich beeil mich ja schon!« Sie seufzte. Wieso hatte ihr Ex die Tiere nicht gefüttert, wenn er hier schon ungebeten auftauchte?
Zuerst erschien das hell-pelzige Gesicht von Susi, die Männchen machte und gierig nach Nahrung Ausschau hielt. Auch die anderen drei Schweinchen versammelten sich nun erwartungsvoll, streckten sich in die Höhe und schnupperten. Gerade als sie begann, die Tiere zu füttern, fiel ihr auf, dass etwas anders war in dem Gehege. Beate stutzte, dann lief ihr ein Schauer über den Rücken. Träumte sie oder lag da tatsächlich … eine Schlange im Heu? Ihr Herz machte einen Sprung, sie ließ die Gemüsestückchen fallen und zog ihre Hand zurück. Erst dann erkannte sie, dass das vermeintliche Reptil sich nicht bewegte.
Ein Spielzeug! War das noch so ein komischer Scherz?
»Was soll das denn?«, murmelte sie, während sie das Ding hochhob. Die Schlange bestand aus beweglichen Holz-Gliedern und hatte rote Plastikaugen und eine rote Zunge, die sie Beate herauszustrecken schien. »Mein Gott, hast du mich erschreckt.«
Beate erinnerte sich an einen kleinen alten Pappkoffer mit Spielzeug, den ihr Freund mal wegen irgendwelcher nostalgischer Kindheitserinnerungen aus seinem Elternhaus angeschleppt hatte, und seufzte tief. Was wollte ihr Verflossener ihr mit diesen Späßen sagen? Und wieso hatte er den Stapel mit Schallplatten und Büchern nicht mitgenommen, der abholbereit auf dem Tisch lag? Höchste Zeit, ihm den Schlüssel abzunehmen! Aber vielleicht sollte sie lieber das Schloss austauschen.
Als sie sich nach der Meerschweinfütterung die Hände waschen wollte, stieß sie einen erschrockenen Laut aus. Im Waschbecken fand sie einen weiblichen Kopf mit langen blonden Haaren. Diesmal erkannte sie zwar sofort, dass es sich um ein Spielzeug handelte, dennoch wirkte das Ding gruslig. Eine Gummipuppe. Die hellblauen Augen strahlten sie an. Das Gesicht war merkwürdigerweise geschminkt. Die Haare sahen beinahe echt aus. Im nächsten Moment entdeckte sie auch den Rest der Puppe: Der Körper, der zu dem Kopf gehörte, saß irgendwie verloren auf der Toilettenbrille. Wie Beate feststellte, war der Rumpf eine Nixe mit Fischschwanz und nackten Brüsten. Sie fühlte eine Gänsehaut und schüttelte sich.
Gehörte das Zeug wirklich ihrem ehemaligen Freund?
Er war eigentlich nicht der Typ, der mit Gumminixen spielte. Sie lachte laut auf. Vielleicht wollte er das erreichen. Dass er sie zum Lachen brachte. Einen seltsamen Sinn für Humor besaß er jedenfalls.
Sie drückte den Kopf der Meerjungfrau auf den Gummileib. Es fühlte sich merkwürdig an, weich und klebrig, aber immerhin passten die Teile zusammen. Noch einmal wusch sie sich gründlich die Hände, dann ging sie in die Küche, um sich endlich ihren Eierkuchen zu widmen.
Sie griff nach der Packung aus weißem Kunststoff, in der zwölf Eier sein müssten. Doch sie war leer. Sie merkte es gleich, als sie sie anhob. Nichts drin. Nicht das kleinste Stück Schale.
»Jetzt reicht’s«, murmelte sie. »Was zu viel ist, ist zu viel.«
Sie musste eine Weile in den Schubladen ihres Schreibtisches suchen, ehe sie den Zettel mit der Adresse fand, der erst gestern in ihrem Briefkasten gelegen hatte. Toni wohnte ebenfalls in Leipzig, nur ein paar Straßen weiter. Dort konnte sie zu Fuß hingehen. Sie stopfte drei seiner Taschenbücher in eine Tasche, die Holzschlange, die Gumminixe und die Eierpackung ohne Eier. Die Schallplatten und die restlichen Bücher waren ihr zu schwer und unhandlich. Die sollte er sich gefälligst selbst abholen. Aber nur, wenn sie ihm einen Termin dafür gab.
Ihre Wut verrauchte allmählich, als sie in die dunkle Seitenstraße einbog, in der Toni jetzt lebte. Vielleicht sollte sie besser umkehren. Womöglich würde er es falsch auslegen, wenn sie plötzlich vor seiner Tür stand. Würde gar denken, sie liefe ihm hinterher. Aber ihr knurrender Magen stachelte sie an weiterzugehen. Ihr Verflossener nahm sich einfach zu viel heraus. Verschleppte Kühlschrank, Fernseher, Bett und nun auch noch die Eier aus ihrer Wohnung. Ohne mit ihr zu reden!
Sicher, sie hatte in den Wochen vor seinem Auszug auch nicht mehr mit ihm geredet. Aber sie nahm ihm nicht einfach Dinge weg, die er zum Leben brauchte. Das fand sie nun doch ziemlich würdelos. Immerhin hatten sie drei Jahre zusammengelebt. Das letzte halbe Jahr waren sie allerdings schon eigene Wege gegangen – in ganz und gar unterschiedliche Richtungen, wie ihr schien. Toni hatte nicht verstanden, dass sie von der Streife zur Kripo und dann noch zur Morduntersuchungskommission gewechselt war. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«, hatte er ihr vorgehalten. »Du überschätzt dich. Du bist nicht so stark, wie du denkst.«
Sie hatte sehr wohl registriert, dass er sie mit seinen Worten gleich doppelt abwertete. Aber sie hatte sich ohnehin immer weniger für das interessiert, was er von sich gab. Auch wenn er von seiner Arbeit in der Deutschen Bücherei geredet hatte, war sie ihm nur noch halbherzig gefolgt. Die Zeit, in der er ihr ab und zu ein verbotenes Buch aus dem Westen herausgeschmuggelt hatte, war ohnehin lange vorbei. Damals, als sie sich kennenlernten, beeindruckte er sie damit, dass er für sie heimlich George Orwells 1984 aus dem sogenannten Giftschrank besorgte. Niemand durfte davon wissen. Schon gar nicht, dass sie, eine Volkspolizistin, das verbotenste aller verbotenen Bücher der DDR las. Sie fand Tonis Aktion damals romantisch. Immerhin hatte er wegen ihr seinen Job riskiert. Aber das war lange her.
Wie sich herausstellte, wohnte Toni in einem der vielen heruntergekommenen Häuser, die Leipzig zu bieten hatte. Natürlich musste sie erst einmal etliche Stufen durch ein Treppenhaus steigen, das nach Katzenurin stank. Durch die kaputten Fenster drang ungehindert die kalte Luft. Nicht auf jeder Etage funktionierte das Licht.
Schließlich fand sie seinen Namen auf einem Zettel, der an die Tür geklebt war. Darunter stand der Spruch: »Klingel kaputt, bitte pfeifen.« Es roch nach Essen. Kam das aus seiner Wohnung? Beate seufzte leise und klopfte gegen das marode Holz. Ein paar lose Farbsplitter fielen wie vertrocknete Herbstblätter zu Boden. Nichts geschah, und sie klopfte noch einmal, diesmal etwas energischer.
Toni blickte sie verschlafen an, als er ihr die Tür endlich öffnete. Seine Haare sahen strubblig aus, er war unrasiert, und seine Brille saß irgendwie schief in seinem Gesicht. Er trug eine fleckige Küchenschürze, an der er sich jetzt seine Hände abrieb.
»Was machst du denn hier?«, fragte er verblüfft.
Statt zu antworten, hielt sie ihm die Eierpackung aus Styropor unter die Nase.
»Musste das sein?«, fragte sie.
»Was denn?«
»Na … das . Deine ganze … scheiß Klauerei.«
Sie sprach leise oder jedenfalls nicht lauter als sonst. Trotzdem schob er sich ein Stück in den Hausflur hinaus und schaute, ob sie jemand belauschen könnte.
Beate spürte, wie ihre Wut zurückkehrte, und hob nun absichtlich die Stimme. »Erst der Fernseher, dann der Kühlschrank und schließlich das Bett … und nun auch noch meine Eier?«
»Komm doch erst mal rein«, sagte Toni. »Dann kannst du dadrin weiter Theater machen.«
»Was heißt hier Theater?«, fragte sie gereizt.
Er sah sie beinahe belustigt an. »Wie würdest du das denn bezeichnen?«
»Eine nötige Aussprache?«
»Na gut. Dann komm rein, damit wir die nötige Aussprache in meinem neuen Domizil führen können.« Er grinste sie an.
Irgendwie schien er sich zu freuen, dass sie hier auftauchte. Oder täuschte sie sich?
War das eine gute Idee, seine Wohnung zu betreten?
Aber dann stieg ihr der Geruch von Gebratenem in die Nase. Sie spürte die Leere ihres Magens jetzt überdeutlich. In Zukunft würde sie die Mittagspause einhalten, nahm sie sich vor.
»Ich hab Hunger, hast du was zu essen?«, fragte sie und ging direkt in seine Küche.
»Willkommen in meinem Heim«, sagte er ironisch und folgte ihr.
In der Bratpfanne brutzelten zwei Schnitzel. Beate sog unwillkürlich den Duft ein.
»Das riecht aber lecker«, sagte sie und versuchte, nicht zu gierig zu klingen. Es kam ihr vor, als hätte sie nie etwas Besseres gerochen.
»Da kommst du ja gerade richtig. Setz dich. Ich deck den Tisch.«
»Danke«, brachte sie hervor. Eigentlich wollte sie ein Fass aufmachen, und jetzt bedankte sie sich bei ihm? »Hab den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
»Ach, ist ja ganz was Neues.« Er schob ihr einen Teller über den Tisch. »Leider kann ich dir kein Spiegelei dazu braten, weil ich nämlich keine Eier dahabe.«
»Du warst heute nicht in meiner Wohnung?«
»Nein.«
Beate blickte sich in der Küche um. Viel zu sehen gab es nicht. Ein kleiner Gasherd, ihr gemeinsamer Kühlschrank, der jetzt offenbar ihm allein gehörte, eine Kiste mit etwas Geschirr und Besteck, ein Tisch, zwei Stühle.
»Wer hat denn sonst meine Eier geklaut?«
»Vielleicht hast du sie doch selbst gegessen?«
Beate schüttelte den Kopf.
»Oder erst gar keine gekauft?«
»Ach Quatsch.« Sie holte das Spielzeug aus ihrer Tasche und legte es neben den leeren Teller. Die Schlange, der jetzt ein Auge fehlte. Die Meerjungfrau, deren Kopf wieder abgefallen war.
»Kommt dir das bekannt vor?« Sie angelte noch nach dem Gummiblondschopf und schob ihn neben die anderen Dinge.
Er lachte. »Was ist das denn für Zeug? Sieht aus wie von der Müllkippe.«
»Stammt das nicht aus deinem alten Spielzeugkoffer?«
»Mit Sicherheit nicht. Wo hast du das her?«
»Das lag heute in meiner Wohnung. Die Tür stand offen und …« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hatte dich in Verdacht«, sagte sie kleinlaut.
»So? Wenn das ein Einbrecher war, solltest du die Polizei rufen«, sagte er sarkastisch.
»Außer den Eiern fehlt nichts.« Eigentlich hatte sie nicht so genau nachgesehen. Aber welcher Einbrecher brachte solch komischen Spielzeugkrempel mit?
»Seltsam.« Er runzelte die Stirn.
Beate lächelte ihn künstlich an. »Ist mein Schnitzel … fertig?« Gerade noch so vermied sie das Wort endlich in ihrer Frage.
Beiläufig registrierte sie, dass er ihr das größere Stück Fleisch servierte. Als Soße gab es einen Klecks Ketchup.
»Kartoffeln sind auch alle«, sagte Toni.
»Macht nichts«, murmelte Beate mit vollem Mund.
»Schmeckt’s dir?«
»Mhm.« Das Schnitzel war heiß, knusprig und nur ein bisschen fettig. »Wirklich lecker.«
Er nickte zufrieden. Ansonsten aßen sie schweigend.
»Ist das schon mal vorgekommen?«, fragte ihr Exfreund, als er die Teller abräumte.
»Was?«
»Dass jemand in deiner Wohnung war und …«
»Du warst in meiner Wohnung«, unterbrach sie ihn.
»Das meine ich nicht.«
»Aber ich! Ohne mir wenigstens Bescheid zu sagen!« Sie klang verletzt, das hörte sie selbst.
»Das Bett war ja auch meins«, murmelte er. »Die anderen Möbel, die wir gemeinsam gekauft haben, kannst du dafür behalten.«
»Na, du bist ja großzügig!«
»Den Plattenspieler, das Radio und den Brotröster überlasse ich dir ebenfalls.«
»Das Radio gehörte meiner Großmutter.«
»Ich hatte nichts in dieser Wohnung hier. Gar nichts. Ich gebe dir etwas Geld als Entschädigung, okay?«
»Ein Farbfernseher kostet mindestens viertausend Mark. Ein Plattenspieler höchstens fünfhundert. Für den Toaster haben wir dreißig Mark bezahlt, glaube ich. Für den Kühlschrank … ich weiß nicht mehr, eintausend?«
»Tausendfünfhundert.«
»Aha.«
»Willst du den Kühlschrank zurück?« Toni sah sie an. In seinem Blick lag die Resignation der vergangenen Wochen und Monate.
Beate senkte die Lider und schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich ja nur wegen der Eier gekommen«, sagte sie verlegen.