Andreas blickte sich in dem Zimmer um. Es sah ganz normal aus. Trotzdem spürte er eine Gänsehaut. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum fühlte er sich so merkwürdig in dieser Wohnung?
Vor etwa zehn Minuten waren sie hier eingedrungen. Aber Tanja machte den Eindruck, als würde sie sich in den Räumen schon auskennen, als wäre sie keineswegs das erste Mal hier. Sie hatte nicht gesucht – nicht nach dem Haus, das in einem unauffälligen Torgauer Viertel stand, nicht nach dieser Wohnung.
»Ist das nicht verboten?«, fragte Andreas und sah Tanja ängstlich an. Bei ihr traute er sich, furchtsam zu sein. Ihr musste er nichts vormachen. Oder?
»Was?«, fragte sie zerstreut. Sie wühlte gerade in irgendwelchen Schubladen herum. Warf ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu.
»Einfach in diese Bude zu gehen«, antwortete Andreas. »Unbefugtes Betreten nennt man das doch? Oder Hausfriedensbruch?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Tanja. »Hier wohnt keiner mehr.«
»Danach sieht es aber nicht gerade aus.«
Alles wirkte penibel aufgeräumt und sauber. Die Schrankwand mit sorgfältig aufgestelltem, blau gemustertem Keramikgeschirr hinter den Glasscheiben wirkte wie eine dunkle Festung. Kahle Wände. Keine Fotos. Nur eine Uhr hing da, die vor sich hin tickte. Sie zeigte auf die Minute die richtige Zeit an. Eine Couch, ein Sessel, ein Tisch. Es roch ein wenig muffig, als wäre lange nicht gelüftet worden. Aber da lag noch ein anderer Geruch in dem Raum, ein chemisch süßlicher Duft, den er irgendwo schon mal gerochen hatte. Ein Hauch von Parfüm oder Deo-Spray oder Rasierwasser?
Sie befanden sich ganz oben unter dem Dach. Es war die einzige Wohnung in dem Haus, die keine Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite hatte. Der Schlüssel hatte einfach unter der Fußmatte gelegen.
»Vertrau mir. Hier können wir ein paar Tage bleiben.«
»Was ist, wenn jemand kommt?«
»Glaub nicht, dass das passiert«, murmelte Tanja. »Nicht so schnell jedenfalls.«
Sie zog die nächste Schublade auf, beachtete ihn nicht weiter.
»Was suchst du da eigentlich?«
»Geld. Wertsachen. Irgendwas, das wir gebrauchen können.«
Andreas zog unbehaglich die Schultern nach oben. »Wer wohnt denn hier?«
»Niemand«, sagte sie schnell. »Hast du einen Namen an der Tür gesehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Na also.«
»Aber wenn die uns erwischen?«
»Wer denn? Wir müssen einfach leise sein. Und wir bleiben nur so lange, bis die Essensvorräte in der Küche aufgebraucht sind.« Tanja ging zum Fenster und zog die Gardinen zu.
Andreas fragte sich, woher sie diese Wohnung in Torgau kannte. Aber es war offensichtlich, dass sie es ihm nicht sagen wollte. Sie bewahrte ihre Geheimnisse für sich. So wie er sein Geheimnis nicht ausplauderte. Er erzählte ihr nicht von dem Schatten, den er gesehen hatte in jener Nacht. Von der Gestalt, die sich für einen Moment bewegt hatte, aus der Dunkelheit getreten war. Er erzählte ihr nicht … von dem Mörder .
Das Feuerzeug, das vom Tatort stammte, trug er in seiner Hosentasche bei sich. Er benutzte es nicht, noch nicht. Es war Teil des Geheimnisses, das er wie eine Last mit sich herumschleppte.
Wenn er bei ihr bleiben wollte, musste er dann in Kauf nehmen, dass sie ihm nicht alles sagte?
Keinesfalls mochte er allein sein mit dieser unheimlichen Erinnerung. Und mit allem anderen, was geschehen war, was er in den letzten Monaten erlebt hatte. Die Kälte der Einzelzelle steckte ihm noch in den Knochen, das Gebrüll der Erzieher, das Geklirr der Schlüssel, doch er versuchte, nicht mehr daran zu denken. In Tanjas Gegenwart fühlte er sich einigermaßen sicher. Obwohl er wusste, dass er das nicht war. Sie waren nicht sicher. Sie wurden gesucht. Von den Erziehern, von der Jugendhilfe, von der Polizei.
Tanja machte den Fernseher an. Ein krisseliges Schwarz-Weiß-Bild erschien. Sie schaltete um, drehte an den Knöpfen. Männer mit Cowboyhüten ritten durch die graue Prärie.
»Ein Western«, sagte sie. »Magst du Western?«
Andreas zuckte mit den Achseln. »Klar, warum nicht?« Automatisch blickte er zur Tür. Aber hier war kein Erzieher, der sie anschreien und bestrafen würde.
Sie lümmelten sich auf das Sofa, schauten »Westfernsehen«, ließen den Ton so, dass sie die Dialoge gerade noch verstehen konnten. Wenn geschossen wurde, stellten sie etwas leiser.
»Wo Maik jetzt wohl ist?«, fragte er.
»Ist doch egal«, murmelte sie.
Nach der Flucht waren sie zum Torgauer Bahnhof gelaufen. Aber auf den Bahnsteigen hatten sich unzählige Menschen gedrängelt – darunter auch solche in Uniformen. Was war hier los? Es hatte ausgesehen, als wären gleich ein paar Züge hintereinander ausgefallen.
»Das ist viel zu riskant. Wir verstecken uns erst mal, tauchen unter«, hatte Maik gesagt. »Niemand wird uns in Torgau suchen. Die uns verfolgen, denken, wir sind schon über alle Berge.«
Die ersten Tage und Nächte hatten sie noch gemeinsam in Datschen und auf Dachböden verbracht. Dort geschlafen und am Morgen Kleidung aus Truhen, Schränken und von den Wäscheleinen gestohlen. Sie passte kaum, aber wenigstens fielen sie damit nicht so auf wie mit den blauen Arbeitsoveralls, in denen sie geflüchtet waren.
In der letzten Nacht hatte sich Maik ohne viel Federlesen verabschiedet. »Ich geh jetzt meine eigenen Wege. Macht’s gut.« Er hatte ihnen noch zugewinkt. Mit der Zigarette in der Hand. Die angebrochene Schachtel F6 hatte er aus einem der Wochenendhäuschen mitgehen lassen. Andreas starrte zum Abschied auf den Glimmstängel, auf den Punkt, der wie ein Glühwürmchen in der Nacht tanzte.
»Wo willst du denn hin?«
»Irgendwohin«, antwortete Maik lakonisch.
Und weg war er. War in die Dunkelheit getaucht und verschwunden.
Andreas rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Er war es nicht gewohnt, auf etwas Weichem zu sitzen. Fast versank er in dem Polster, und der widerlich süßliche Geruch schien noch zuzunehmen. Irgendwie musste er an den Direktor denken. Hatte es nicht so gerochen, wenn der mit grimmigem Blick durch die Gänge seines eisernen Reiches gelaufen war? Aber das konnte doch nicht sein, oder? Dass es hier so roch wie dort ?
»Meinst du, wir sehen Maik noch mal wieder?« Er wollte es nicht wirklich wissen. Er wollte nur, dass Tanja sich mit ihm unterhielt. Egal worüber. Es beruhigte ihn, ihre Stimme zu hören. Sie schien zu wissen, was jetzt zu tun war. Er wusste es nicht.
»Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Sie wirkte gleichgültig. Es schien ihr nicht viel auszumachen, dass Maik weg war. Machte es ihm etwas aus? Andreas versuchte darüber nachzudenken. Maik war sein Kumpel, kein Freund, aber ein Kumpel. Aber er dachte wohl, dass er allein besser klarkam.
Tanja ging in die Küche und kam mit zwei Tassen, einer Kanne Pfefferminztee und mit einer Schüssel, in der Walnüsse lagen, zurück. Während sie ihm zeigte, wie man sie knackte, fragte er sich, ob sie sich irgendwann auch so von ihm abwenden würde wie Maik. Einfach Tschüs sagen, winken und verschwinden.
Ihm wurde kalt bei dem Gedanken. Er zog sich die Ärmel des Pullovers, den er gestern von einer Wäscheleine gestohlen hatte, über die Hände. Das war kein Problem. Er war ihm ohnehin etwas zu groß. Außerdem bunt gestreift – vermutlich gehörte er einem Mädchen, das ziemlich lange Arme hatte. Aber er konnte nicht wählerisch sein.
Tanja drückte jeweils zwei Nüsse mit beiden Händen gegeneinander. Die besonders harten legte sie beiseite. Schließlich stand sie auf, steckte die Nuss in den Türrahmen und zog die Tür sanft zu, bis die Schale dieses leise unheimliche Geräusch machte – als würden kleine dünne Knochen brechen.
»Raben können das auch«, sagte sie.
»Was?«
»Nüsse knacken. Sie lassen sie auf die Straße fallen und warten, dass ein Auto drüberfährt.« Sie lächelte.
Er nickte ihr zu, nahm eine Nuss und schob sie in den Türrahmen. Er tat einfach das, was sie tat. Tanja schien Bescheid zu wissen, lavierte ihn durch das Labyrinth, in dem er sich jetzt befand.
Als die Tagesschau angekündigt wurde, wollte Andreas umschalten.
»Nein, lass mal«, sagte Tanja.
»Das sind bloß blöde Nachrichten.«
»Ich weiß. Aber …«
»Aber?«
»Findest du es nicht komisch, dass die Erzieher uns in den letzten Wochen keine Aktuelle Kamera mehr gucken ließen?«
Andreas zuckte mit den Achseln. »Na und?« Er hasste diese Sendung. Sonst hatten sie die täglich ansehen müssen und wurden anschließend abgefragt. Meist ging es irgendwie um Erich Honecker, der immer gleich aussah, immer die gleichen schrecklichen Klamotten trug, die gleiche Mimik zur Schau stellte, der immer das Gleiche sagte und tat.
»Etwas muss passiert sein. Sonst würden die doch nicht den Geschlossenen Jugendwerkhof auflösen.« Natürlich hatten die Erzieher ihnen nichts erklärt. Sie erklärten ihnen nie irgendetwas. Sie redeten nicht mit den Jugendlichen, als wären sie normale Menschen. Sie brüllten sie an, erteilten Befehle, von morgens bis abends.
»Vielleicht wird der ja gar nicht aufgelöst. Vielleicht wollen die den nur renovieren? Die Farbe blättert schon lange von den Wänden. Oder sie bauen endlich mal Toiletten in die Zellen ein?«
»Glaub ich eher nicht. Die sind nicht um unser Wohl besorgt. Das waren die noch nie«, murmelte Tanja.
»Na ja, aber die Erzieher riechen doch auch, dass es aus den Kübeln nach Scheiße und Chlor stinkt«, entgegnete er bockig.
Tanja sah an ihm vorbei zum Fernseher und stellte die Nachrichten lauter.
»Guten Abend, meine Damen und Herren. Weit mehr als eine Million Besucher sind heute aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen.«
Andreas warf Tanja einen ungläubigen Blick zu. »Was hat der Typ da gesagt?«
»Sei mal still. Ich kapier’s auch nicht. Vielleicht hat der einen über den Durst getrunken?«
»Oder das sind gar keine Nachrichten. Sondern das ist irgend so ein Science-Fiction-Film«, sagte Andreas.
»Hast du das eben gehört? Was soll das denn heißen: Wieder wurde ein neuer Grenzübergang eröffnet ? Hat er das wirklich gesagt?«
Andreas nickte. Aber er hörte nicht mehr zu, was der Nachrichtenmann sagte. Das Große da draußen war ihm zu groß. Es schwappte ungefragt in ihren Unterschlupf, in ihre Höhle hinein. Aus irgendeinem Grund tastete er nach dem Feuerzeug in seiner Hosentasche. Es war eckig und aus Metall. Bisher hatte er es noch nicht ausprobiert. Aber er war sicher, dass es funktionierte. Zur Not konnte er etwas damit anzünden. Diese Wohnung zum Beispiel. Die Wohnung, die womöglich die Wohnung des toten Direktors war.
Wie kam er denn auf diesen Gedanken? Der hatte doch gar nicht hier, sondern direkt im Werkhofsgebäude gelebt? Sicher hatten seine Fenster keine Gitter gehabt, oder?
Andreas blickte zu den zugezogenen Gardinen. Der Stoff war weiß-braun und hässlich. Ein Muster aus verwelkten Rosen zog sich über die Fenster. Die Dornenranken schienen sich auf ihn zuzubewegen, als wollten sie nach ihm greifen.
Er spürte plötzlich Lust, die Gardinen anzuzünden, und wandte schnell den Blick ab. Versuchte, sich wieder auf den Bildschirm zu konzentrieren. Auf Tanja, die rote Wangen bekam vor Aufregung über das, was sie da hörte und sah.
»Guck dir das an!«, sagte sie. »Hör zu, was der sagt!«
Andreas versuchte, sich auf die Nachrichten zu konzentrieren. Der Sprecher berichtete jetzt etwas von Sonderzügen, die maßlos überfüllt waren.
»Deswegen war es so voll auf den Bahnsteigen! Die wollen alle rüber! Nach drüben! Wie kann das sein?«
Tanja griff nach seinem Arm, dann kicherte sie plötzlich. »Neue Regierung? Öffnung der innerdeutschen Grenze? Besucheransturm ? Nicht zu fassen! Ich glaub, mein Schwein pfeift! Die fahren in den Westen und gehen da einkaufen, als wäre da weiter nichts dabei!«
Die Bilder wechselten. Menschenmengen wurden gezeigt, die »Wir sind das Volk!« und »Demokratie! Jetzt oder nie!« riefen.
»Alle nicht«, sagte Andreas. »Alle fahren nicht einkaufen. Da demonstrieren ja welche. Jede Menge sogar. Wo ist das?«
Sie beugten sich näher zum Fernsehgerät und lauschten der Stimme des Nachrichtensprechers, die ihnen in einem merkwürdig sachlichen Ton Unvorstellbares verkündete.
»Das ist in Leipzig.«