Ratlos stand Beate in der Mitte ihres Wohnzimmers und sah sich um, als wäre sie fremd in ihren eigenen vier Wänden. Jemand war also in ihrer Wohnung gewesen. Aber wer? Und wozu? Wieso machte sich der Unbekannte die Mühe, komische Dinge hierherzubringen? Eine kopflose Nixe? Die Attrappe einer Schlange im Gehege ihrer Meerschweinchen? Ein Einbrecher, der nur Eier klaute? Was sollte das?
Wenn sie das ihren Kollegen erzählte, würden die sie für durchgeknallt halten. Reif für die Klapsmühle. Sogar Toni hatte sie einen Moment angeguckt, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank. Beate fühlte eine Gänsehaut und schüttelte sich. Aber mit irgendwem musste sie doch darüber reden, oder nicht? Sonst würde sie wirklich noch die Nerven verlieren.
In Gedanken ging sie die Gesichter ihrer Kollegen durch. Doch egal, an wen sie dachte: Sie sah nur Erstaunen, Verständnislosigkeit und Häme vor ihrem geistigen Auge.
Bis auf … Ja, einer käme vielleicht doch in Frage. Und er war sogar noch vom Fach, wenn es um verdächtige Spuren ging. Beate lief zum Telefon und blickte in den Spiegel, während sie wählte. Ihre Stirn war immer noch in Falten gelegt, aber um ihren Mund zeigte sich ein erstes zaghaftes Lächeln. Nun, sie wollte sich lieber nicht zu früh freuen. Vielleicht war er ja nicht zu Hause?
»Hallo?«, fragte da am anderen Ende der Leitung Steffens Stimme. Beinahe sofort hatte er den Hörer abgenommen, als würde er auf einen Anruf warten.
Beate schluckte. Wie sollte sie ihm ihr Dilemma auf die Schnelle erklären?
»Wer ist denn da?« Es klang eher neugierig als genervt.
»Ich bin’s. Beate«, sagte sie, plötzlich verlegen. »Kannst du zu mir kommen? Ich habe da … ein Problem.« Den letzten Satz sprach sie langsam. Als müsste sie noch über die Worte nachdenken. Wie sollte sie dieses komische Problem am Telefon beschreiben?
»Klar«, sagte Steffen einfach. Er fragte gar nicht nach. »Bin schon auf dem Weg.«
Eine knappe Stunde später saß ihr Steffen gegenüber. Der Kriminaltechniker, der auch in Leipzig lebte und ein Jahr jünger war als sie selbst, soweit sie wusste, hörte ihr zu und musterte sie fragend. Er nahm den Gummikopf der Nixe vom Tisch, drehte ihn in seinen Händen hin und her, zupfte an den blonden Haarsträhnen herum, als müsste er das Ding nach Spuren von Blut und sonstigen Sekreten untersuchen.
»Es ist ja nur eine Puppe«, sagte Beate und lachte nervös. »Vielleicht hat es auch nichts zu bedeuten.« Insgeheim war sie froh, dass Steffen gleich gekommen war. Er schien sich nicht einmal darüber zu wundern, dass sie ausgerechnet ihn um Hilfe bat.
»Na ja«, sagte er. »Entweder es erlaubt sich jemand einen makabren Scherz mit dir, oder …«
Beate sah ihn an und wartete ab.
» … oder es steckt tatsächlich etwas dahinter.« Steffen räusperte sich. »Ich würde das an deiner Stelle aber nicht herumerzählen. Mal im Vertrauen: Einige der Kollegen reden sowieso schon über dich.«
»Inwiefern? Was reden sie denn?« Beate spürte zu ihrem Ärger, dass sie rot anlief.
»Dass du der Arbeit in der MUK nicht gewachsen bist.«
»Sagt wer?«
Steffen zuckte mit den Achseln. »Einige. Das übliche Gequatsche eben. Du bist noch relativ neu, jung, unerfahren. Kein Wunder, dass sie dich auswählen für ihr Geschwätz. Als ich mit der Arbeit anfing, war ich auch eine Zeit lang Mode. Ich habe das damals ignoriert. Inzwischen schalte ich bei Klatsch und Tratsch möglichst ab. Kann dir nicht mal genau sagen, wer das nun erzählt oder weitergegeben hat. Jemand meinte, du wärst zu freundlich zu den befragten Jugendlichen, die Genosse Lehmann für negativ dekadent oder gar staatsfeindlich hält. Bei den Verhören wärst du zu lasch.«
»Selbst wenn es ein Tötungsdelikt war, was wir nicht hundertprozentig wissen – bis jetzt haben wir doch noch nicht mal einen Verdächtigen«, entgegnete sie.
»Du weißt doch, wie das ist: Jeder ist mal Zielscheibe.« Er seufzte. »Nimm es dir nicht so zu Herzen.«
»Mach ich nicht«, sagte sie schnell, obwohl ihr seine Worte Stiche versetzten. »Aber wer zum Teufel ist hier eingedrungen? Das ist doch irgendwie … gruslig!«
Steffen nickte nachdenklich. »Wenn es keine Einbruchspuren gab, besaß derjenige also einen Schlüssel oder die nötige Technik.«
Beate horchte auf. Sein Tonfall klang, als hätte er eine Ahnung. Eine Vermutung, von der er ihr lieber nichts sagen wollte?
»Außer Toni und mir hat niemand einen Schlüssel von meiner Wohnung.«
Steffen sah sie einen Moment an, als wäre sie etwas naiv. Als wäre des Rätsels Lösung greifbar nahe und sie müsste gleich von selbst draufkommen.
»Du solltest auf alle Fälle dein Schloss auswechseln«, sagte er.
Beate lauschte dem Unterton in seiner Stimme und nickte ihm zögernd zu. »Das hatte ich ohnehin vor. Nach so einer Trennung muss man erst mal begreifen, dass man mit allem allein dasteht.«
Steffen grinste. »Hast du etwa Angst? Wie ein Mimöschen wirkst du eigentlich nicht auf mich.«
Sie lachte auf. »Nichts gegen Mimosen. Eine gewisse Sensibilität braucht man in meinem Job. Und in deinem ja auch. Zum Beispiel dafür, Dinge zu erkennen, die andere übersehen.«
Beate war sich gerade nicht sicher, ob sie nicht etwas übersah, was ihr Kollege zumindest schon ahnte.
»Das stimmt nun auch wieder.« Steffen ließ seine Blicke durch das Zimmer schweifen. Es war das erste Mal, dass er sie besuchte. »Hübsch hast du es hier. Aber … besitzt du eigentlich gar keinen Fernseher?«
»Den hat mein Ex mitgenommen bei seinem Auszug.« Beate räusperte sich. Sie hatte keine Lust, Steffen die unschönen Details zu erklären.
»Verstehe. Dann hast du sicher nicht die Nachrichten gesehen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»In Leipzig waren heute wieder die Leute auf der Straße und haben für Reformen demonstriert. Zwar wesentlich weniger als sonst, weil viele im Westen mit ihrem Begrüßungsgeld einkaufen sind, aber es waren immer noch Tausende.« Er machte eine kleine Pause und sah sie mit leuchtenden Augen an. »Und einer von ihnen war ich.«
Beate musterte ihn überrascht. »Hast du keine Angst, deinen Job zu verlieren?«
»Nein. Die Zeiten ändern sich. Alles ist jetzt möglich, verstehst du? Die Zeit der Angst ist vorbei! Das Neue Forum hatte zum ersten Mal eine Genehmigung für die Demo. Und ich hab schon vor einer Weile so einen Aufruf unterschrieben. Den Aufbruch 89. B in jetzt Mitglied sozusagen. Du verrätst mich doch nicht?« Steffen zwinkerte ihr zu. »Ich treffe mich auch gleich noch mit Leuten aus der Bürgerbewegung. Es ist einfach wichtig, finde ich, dabei zu sein, wenn sich endlich was tut in diesem Land.«
Beate lächelte verwirrt. »Das geht alles so schnell«, sagte sie. »Im Oktober haben sie die Leute noch reihenweise verhaftet. Und jetzt …? Willst du eigentlich auch abhauen in den Westen?«
»Wozu denn? Jetzt, wo es spannend wird?« Steffen blickte auf die Uhr und sprang auf. »Tut mir leid. Ich muss los!«
Beate erhob sich und reichte ihm die Hand. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Keine Ursache. Gern geschehen.«
»Nimmst du mich mal mit?«, hörte sie sich auf einmal zu ihrer eigenen Überraschung fragen.
»Wohin?«
»Zu einer Demo?«
»Warum nicht? Zeit wird’s.« Er lachte. »Gleich am Montag?«
Sie nickte. Immer noch überrascht über sich selbst. Wollte sie das wirklich?
»Geht klar. Und wenn du das nächste Mal komische Dinge in deiner Wohnung findest, ruf mich gleich an, okay? Lass das Zeug stehen und liegen und greif zum Telefonhörer.«