War es riskant, sich in Leipzig herumzutreiben?
Tanja sah sich nach allen Seiten gleichzeitig um und nagte nervös an ihrem Daumennagel. Sie spürte Andreas an ihrer Seite, er hielt sich dicht an ihr, während sie durch die Straßen liefen – wie ein verängstigtes Kind. Es war ein Montag. Und an den Montagen ging hier die Post ab, wie Tanja nun wusste. In den Nachrichten sprachen sie darüber. Und es gab Sondersendungen im Fernsehen. Sie hatte Andreas überreden müssen, in diese Stadt zu fahren, die etwa fünfzig Kilometer von Torgau entfernt lag. Die Züge waren immer noch überfüllt. Auch die Straßenbahn in Leipzig war überfüllt. Kaum jemand schien in diesen Zeiten zu Hause zu hocken. Aber niemand kontrollierte sie. Niemand beachtete sie.
»Ich muss das mit eigenen Augen sehen«, flüsterte Tanja in sein Ohr. »Vorher glaube ich das nicht. Ein Aufstand? Gegen die Regierung? Gegen diese beknackte Partei? Ist das wirklich wahr?«
Sie zitterte vor Aufregung oder auch vor Kälte. Sie wusste es nicht so genau. Das Bibbern lief durch ihren ganzen Körper. Sie befanden sich auf dem Leipziger Ring, inmitten einer Menschenmenge, zwischen unübersehbar vielen Leuten, die irgendwas riefen von Freiheit und von Demokratie. Und sie lachte. Tanja lachte mit klappernden Zähnen.
Andreas sah sie stirnrunzelnd an. »Viel zu viele Menschen hier«, beklagte er sich. »Alles Fremde.« Sein junges Gesicht sah plötzlich alt aus.
»Keine Sorge, die beachten uns gar nicht.« Sie streifte ihn mit einem prüfenden Blick. Er wirkte alles andere als glücklich.
Seit einigen Tagen schien er in sich selbst versunken. »Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, hatte er sie einmal gefragt.
»Wir müssen erst herausfinden, was hier passiert. Was hier gerade läuft. Und dann sehen wir weiter«, hatte sie ausweichend geantwortet.
Und jetzt standen sie auf diesem Platz in Leipzig, eingequetscht zwischen den Leibern, die hin und her wogten und sich schließlich in Bewegung setzten. Mit Transparenten, Kerzen und Deutschlandfahnen. Eine DDR-Fahne sah Tanja nicht. Nur die Fahne von drüben. Die Fahne aus dem Westen, die doch eigentlich verboten war. Und die Träger riefen etwas davon, dass sie »ein Volk« wären, brüllten plötzlich: »Deutschland, einig Vaterland!« Sie waren lauter als die anderen Demonstranten. Es klang trotzig. Und es war verrückt. Kein Polizist kam, um die Staatsfeinde zu verhaften.
Deutschland, einig Vaterland?
Was genau sollte das bedeuten? Wie sollten zwei verfeindete Staaten eins werden? Ein Vaterland?
Tanja dachte unwillkürlich an ihren Vater. Hatte er von ihrem Ausbruch gehört? War die Polizei schon da gewesen? Sicher war sie das. Im Elternhaus suchte sie immer zuerst. Dort konnte sie also nicht hin. Aber in der Wohnung des Direktors gefiel es ihr nicht schlecht – jetzt, da der Direktor tot war und er sie nicht mehr als sein persönliches Eigentum betrachtete. Niemand schien von der Existenz dieser zweiten Wohnung etwas zu wissen. Abgesehen von den Jugendlichen, die er dorthin »eingeladen« hatte.
Sie wollte nicht mehr daran denken. Den Ekel hatte sie eingeschlossen – so wie sie eingeschlossen worden war. Der Ekel kam in das kleinste und ausbruchsicherste Verlies: in den Keller mit den Dunkelzellen, in den Fuchsbau – so stellte sie es sich vor. Dort konnte er vermodern, bis sie all das vergaß, was gewesen war. Auch diesen Ekel vergaß, der sich verband mit dem Geruch nach Schweiß und Sperma und diesem süßlichen Parfüm, das der Genosse Direktor, dieser Drecksack, benutzte. Der Parfümgestank hing immer noch in der Wohnung. Er hatte seinen Träger überlebt. Einen Geruch konnte man nicht einsperren, oder?
Tanja schnappte nach Luft. Griff sich an den Hals. Würgte einen Moment. Wieso dachte sie jetzt daran, wenn sie nicht mehr daran denken wollte? Ausgerechnet hier? Unter dem Himmel dieser neuen, aufregenden Freiheit ? Sie konnte es immer noch nicht fassen, doch die Menschen um sie herum machten alles andere als einen ängstlichen oder erstaunten Eindruck. Mal abgesehen von Andreas, der jetzt irgendwas vor sich hin brabbelte. Musste er pinkeln? Ausgerechnet jetzt? »Geh doch, ich bleib hier«, sagte sie, ohne groß auf ihn zu achten. Das Volk – was war das eigentlich? Diese Leute … Sie meinten es ernst mit … Was auch immer .
»Wir sind das Volk!« mischte sich mit anderen Rufen, mischte sich mit: »Wir sind ein Volk!«
Ihr fiel auf, dass die Menschen, die die verschiedenen Sprüche riefen, auch verschieden aussahen. Die einen trugen Kutten und lange Haare, wirkten wie die Hippies, die in den besetzten Häusern lebten, bei denen Tanja auf ihren Fluchten aus den verschiedenen Jugendwerkhöfen oft untergekommen war. Die anderen, die Deutschlandfahnen schwenkten, sahen eher aus wie Kerle, die angeheitert vom Fußballspiel oder aus der Kneipe kamen und jetzt mit Gesang und Gebrüll einen draufmachen wollten.
»Ist das nicht alles vollkommen irre?«, fragte sie und wandte sich nach Andreas um.
Aber die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, war leer.
Er wollte doch nach der Pinkelpause wieder herkommen, oder?
Tanja wartete und hielt Ausschau. Zehn Minuten vergingen, zwanzig, eine halbe Stunde.
Wieso kam er nicht zurück? War er etwa erwischt worden? Von der Polizei? Aber wie sollten die ausgerechnet ihn in dieser Menschenmenge ausfindig machen?
Sie drehte sich ein paarmal um sich selbst, stellte sich auf die Zehenspitzen, versuchte, über die Köpfe zu spähen.
»Andreas!«, schrie sie. »Scheiße, wo steckst du?«
Doch sie erhielt keine Antwort.
Er war weg.