Beate steckte mitten im Gedränge der Demonstranten, die sich vor der Runden Ecke , der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, in Leipzig versammelten.
»Stasi raus!«, »Stasi in die Produktion!«, schrien manche. Oder auch: »Stasi in die Volkswirtschaft!«
Zwei Männer hielten vor dem Eingang des zylinderförmigen Gebäudes ein Transparent in die Höhe, und Beate las zu ihrem Erstaunen einen Reim: Krumme Ecke – Schreckenshaus: Wann wird ein Museum draus?
Sie hörte Steffen neben sich hysterisch kichern, aber sie wusste nicht, ob sie den Spruch lustig finden sollte. Ein Museum? Ausgerechnet hier? Und was würde man dann ausstellen? Orden, Abzeichen und Urkunden? Waffen und Uniformen? Wanzen und andere Abhörgeräte? Oder etwa Akten über die Bespitzelungen? Und wozu sollte das gut sein?
Einige Demonstranten zündeten Kerzen an und stellten sie nach und nach auf dem Platz vor dem Haus und auf den Treppenstufen auf. Immer mehr Flammen flackerten. Das Licht spiegelte sich in den Gesichtern, die gerötet aussahen, als wäre es im November plötzlich sommerlich warm. Verblüfft erkannte sie, dass die Menschen lächelten – auf eine Art, die sie miteinander verband. Ein erstauntes, euphorisches Lächeln. Es tat sich was in dieser Stadt, in diesem Land, und wer dabei war, hatte Glück, dabei zu sein, schien dieses Lächeln zu sagen. Die Menschen, die sich hier an diesem Meer aus Kerzen versammelten, sahen tatsächlich glücklich aus. Müssten sie nicht wütend sein, wenn sie gegen die Stasi demonstrierten? Aber die Leute wirkten wie Kinder, die sich bewusst waren, dass sie etwas Verbotenes taten, und die sich dennoch im Recht fühlten. Weil sie im Recht waren ? Sie wirkten unglaublich stolz. Stolz auf sich selbst, dass sie sich das hier trauten.
»Das wird den Genossen dadrin sicher nicht gefallen«, murmelte Steffen und lachte leise.
Beate wunderte sich über seine Heiterkeit. Immerhin gehörten sie zur Polizei, zur Kripo; die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei befand sich unmittelbar neben dem MfS-Gebäude, wie ihr plötzlich bewusst wurde. Sie waren also ein staatliches Untersuchungsorgan und in gewisser Weise ebenso Vertreter der DDR wie die Stasi, oder nicht?
Natürlich hätte Beate sich niemals vorstellen können, für das MfS direkt zu arbeiten, die Tätigkeit von Horch und Guck war ihr suspekt, aber die Morduntersuchungskommission klärte nichtnatürliche Todesfälle zuweilen auch mit der Staatssicherheit gemeinsam auf, wenn diese »sicherheitspolitisch relevant« waren. Erst vor einigen Monaten, im Frühjahr dieses Jahres, hatte die MUK im Auftrag des MfS bei der Ermittlung zum Tod eines Westdeutschen mitgewirkt, der wegen der Leipziger Buchmesse in der Stadt gewesen und bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Die beteiligte Abteilung IX und ihre Spezialkommission saß in diesem Gebäude, vor dem sie jetzt standen, und gehörte zur Bezirksverwaltung des MfS.
Auch wenn sie bei diesem Fall nicht beteiligt gewesen war – hatte sie ein Recht, hier zu stehen? Auf der Seite der Empörten? Würde sich dieser Zorn nicht auch irgendwann, vielleicht bald, vielleicht morgen oder sogar schon heute, gegen die Polizei richten?
Beate bekam ein mulmiges Gefühl. Wieso wirkte ihr Kollege Steffen so unbefangen und gut gelaunt? Wenn sich das Land verändert, wird sich wohl auch die Polizei ändern, dachte sie. Was kam da auf sie zu? Sie hatte keine Ahnung. Im Moment schien nur der Augenblick zu zählen, die Gegenwart mit brennenden Kerzen, Transparenten und Protestrufen vor dem Stasi-Bau.
Und mit den Kameras am Gebäude, die sie jetzt gerade filmten? Mitten im Getümmel von Staatsfeinden? Jedenfalls aus Sicht von Lehmann, der sich sicher freuen würde, wenn sie Schwierigkeiten bekam.
Das Unbehagen breitete sich in ihr aus, schnürte ihr einen Moment die Kehle zu. Sie griff sich an den Hals und räusperte sich. »Wir müssen hier weg«, brachte sie heraus.
Die Rufe nach Deutschland, einig Vaterland! wurden in dem Moment lauter. Steffen zuckte mit den Achseln, er hatte seine Kollegin offenbar nicht verstanden. Sie zupfte an seinem Ärmel herum. »Ich würde ganz gern weitergehen. Noch mehr von der Demo sehen!«, rief sie ihm jetzt lauter zu.
Erst mal weg von hier. Weg von diesem unheilvoll wirkenden Stasi-Haus, weg von der Bezirksbehörde der Volkspolizei, weg von Kameras und Überwachung.
Zu ihrer Überraschung hakte sich Steffen bei ihr unter. Zu zweit marschierten sie durch das Gedränge. Es roch nach Kerzen, Rauch und Schweiß.
Jemand drückte ihr eine weiße Haushaltskerze in die Hand. Sie brannte schon, und automatisch löste sie sich von Steffen, schützte die Flamme mit ihrer Hand vor dem Wind.
Mit einer Zigarette im Mund beugte er sich zu ihr und nahm sich Feuer. Seine Augen leuchteten, als er sie ansah. Kam das von dem Licht der Kerze?
»Hab ich dir zu viel versprochen?«, fragte er, als wäre diese Demo irgendwie sein Verdienst.
»Versprochen?« Sie lächelte irritiert, ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Und auf einmal sah sie … Konnte das sein ? War das nicht …?
»Mensch, da laust mich doch der Affe! Da ist er! Auf der anderen Straßenseite! Da ist einer von diesen entwichenen Jugendlichen! Es ist … Andreas !«
Steffen zog uninteressiert an seiner Zigarette. Pustete irgendwie unwillig den Qualm in ihre Richtung. »Wo denn? Ich sehe keinen. Und wenn schon. Ach, lass den doch.«
Beate reckte den Hals und starrte über die Köpfe hinweg. Oder versuchte es zumindest. »Eben war er aber noch …«
»Selbst wenn er das war, was willst du denn tun? Ihn einfangen? Hier ?«
Steffens gute Laune schien im Nu verflogen. »Was denkst du, was passiert, wenn du in dieser aufgebrachten Masse einen Jugendlichen verhaftest?«
Ich bin Polizistin, dachte Beate. Die Jugendlichen sind abgehauen, möglicherweise ist Andreas ein Zeuge für einen Mord . Aber sie hielt sich zurück, schwieg und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Spähte nervös umher, drängte von Steffen weg, weiter durch die Menge. Heißes Wachs kleckerte auf ihre Hand, und sie ließ die Kerze fallen. Und schließlich erblickte sie seine schmächtige Gestalt: Er war es tatsächlich. Andreas. Der Junge kauerte in einem Hauseingang wie ein Häufchen Elend. Irgendwie verschüchtert. Als wäre ihm alles zu viel.
Und dann sah sie, dass er sie sah. Er schreckte hoch, tastete sich an der porösen Mauer des Hauses entlang und rannte los. Beate sah ihm nach, ohne sich zu rühren. Es hatte keinen Sinn, ihm zu folgen, ihm zwischen all den Demonstranten mit ihren Bannern und Kerzen hinterherzurennen. Steffen hatte recht. Sie konnte Andreas jetzt sowieso nicht festhalten. Ohnehin war sie nicht im Dienst und sozusagen privat hier.
Nur: Sie hätte versuchen können, mit ihm zu reden. Vielleicht brauchte er Hilfe?