Wieso hatte Tanja ihn an diesen lauten, beunruhigenden Ort gebracht?
Andreas wünschte sich, er wäre in der Wohnung in Torgau geblieben, in ihrem gemeinsamen Versteck. Am liebsten würde er jetzt auf dem Sofa sitzen, Nüsse und Cornflakes knabbern, einen alten Western gucken oder einen Trickfilm, Tom und Jerry oder so. Am liebsten würde er sich verkriechen .
Jetzt waren sie hier. Im Draußen. In Leipzig. Inmitten Tausender Menschen, wie eine Sardine in einer Büchse zwischen ihnen eingequetscht. Nein, schlimmer. Diese Fremden konnten ihn plötzlich anrempeln. Kamen ihm bedrohlich zu nahe. Brüllten ihre komischen Worte in seinen Nacken. So wie der dicke, nach Schweiß stinkende Mann, der direkt hinter ihm mit einer Fahne herumfuchtelte und diesen Spruch brüllte. »Deutschland! Einig! Vaterland!« Andreas begriff nicht, was das bedeuten sollte, was das alles bedeuten sollte.
Nicht einmal mit Tanja konnte er sich unterhalten. Zwar stand sie neben ihm, war aber gleichzeitig weit weg. Sie hörte ihn nicht, wenn er etwas sagte. Er sprach wohl zu leise. Mutlos, matt, mit trockener Kehle. Ab und zu schaute er zu ihr auf. Ihre Augen glänzten – das sah er deutlich. Wie konnte sie an diesem schrecklichen Ort so glücklich sein? Andreas fühlte sich alleingelassen in seinem Unglück. Sie würde ihn verlassen. Ihn im Stich lassen. Eigentlich verließ sie ihn jetzt schon, auch wenn sie noch da war. Und er bekam kaum Luft inmitten der fremden Leiber. Er musste hier weg. Sofort!
»Ich … ich muss mal«, stammelte er und kam sich dämlich vor. Wie ein kleines Kind, das an irgendeinem Rockzipfel hing. Zum Toilettengang vortreten! Rechts um! , hörte er den Erzieher in seinem Kopf brüllen. Was hatte der da noch zu suchen? Wieso hallten diese kalten Befehle in ihm nach? Andreas war doch geflohen. Aber das bedeutete ja nicht, dass sie ihn nicht wieder einfangen würden.
Tanja gab ihm jetzt doch irgendeine Antwort. Sie sah ihn aber nicht an dabei, als wäre er gar nicht mehr da. Sein Herz klopfte so laut vor Verzweiflung, dass er die Worte nicht verstand. Er quetschte sich zwischen zwei Männern hindurch, die ihm nur unwillig Platz machten. Er stolperte gegen eine Frau mit roten Haaren. »Pass doch auf!«, schimpfte sie und schubste ihn von sich weg.
Die Kerze eines Mädchens mit gestylter Punkfrisur erlosch. War das seine Schuld? Er kramte das Feuerzeug aus der Hosentasche. Das Feuerzeug des Mörders . Zündete mit zitternder Hand die Kerze wieder an, bis die Flamme wie ein kleiner Geist vor seinem Gesicht tanzte. Das Mädchen betrachtete ihn, während er ihr Feuer gab. Mit ihren Stachelhaaren sah sie ein bisschen wie ein Igel aus. Andreas fragte sich einen Moment, wie sie das machte, dass die Frisur in dieser verrückten Form hielt, und nickte ihr zu. Dann schob er sich weiter, ohne auf ein Danke zu warten – das vermutlich sowieso nicht gekommen wäre. Weg von dem Pulk, den er nicht ertrug. Bis er eine Wand erreichte. Ein Haus, das ihm den Weg versperrte. Stieg die Stufen zum Eingang hinauf; bis zur Tür, die verschlossen war. Drehte sich um. Sah in die Menge und hielt nach Tanja Ausschau. Würde sie ihn vermissen, wenn er jetzt weglief?
Andreas konnte sie nicht entdecken. Stattdessen traf sein Blick plötzlich auf ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Die Frau starrte ihn an, und er sah, dass sie ihn auch erkannte. Sie musterte ihn, redete mit dem Mann, der neben ihr stand, und zeigte auf ihn. Ihm wurde warm und dann kalt.
Die Polizistin! War sie etwa hinter ihm her?
Statt einer Stimme in seinem Kopf hörte er nun ein Geräusch: das Klicken von Handschellen. Leise und unwiderruflich. Er fühlte die Schwere des Metalls, die ihn hinabziehen wollte. Diese Frau von der Kripo glotzte immer noch zu ihm. Irgendwie sah sie besorgt aus. Eigentlich war sie ihm nett vorgekommen. Aber, so viel war ihm klar: Sie würde ihn zurückbringen, wenn sie ihn erwischte.
Wenn sie ihn erwischte.
Er konnte sehen, dass sie sich von dem Mann wegbewegte und auf ihn zukam. Worauf wartete er noch?
Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung. Schienen ihm zuzurufen: Hau ab! Hau ab! Hau ab!
Er dachte nicht weiter darüber nach, wohin er eigentlich wollte. Schnell rennen hatte er auf dem Gefängnishof in Torgau gelernt. Runde um Runde … Mehr Tempo, du lahme Ente! , brüllte der Erzieher in seinem Kopf.
Andreas rannte auch vor dieser Stimme davon, entfernte sich immer mehr von der Menschenmenge, von den Demonstrierenden … von Tanja. Von der Polizistin, die, als er sich nach ihr umsah, einfach stehen geblieben war. Ihre Hände hielt sie erhoben oder nach ihm ausgestreckt.
Du kriegst mich nicht, keine Chance, dachte er.
Aber da waren noch andere Schritte. Und sie folgten ihm.