Beate drängte sich zurück durch die Menschenmenge und blickte sich nach allen Seiten um. Vielleicht waren Tanja und Maik ja auch hier irgendwo? Sie konnte doch nicht hinnehmen, dass die drei Jugendlichen einfach so verschwanden, oder?
»Alles in Ordnung?«, fragte Steffen, der plötzlich neben ihr stand.
»Nein. Eigentlich ist gar nichts in Ordnung.« Sie seufzte. »Der Bengel ist einfach vor mir weggerannt.« Sie spürte erst jetzt, dass sie wütend war. Auf wen? Auf Andreas? Oder auf sich selbst?
»Ja, klar, du bist für ihn ein Bulle, schon vergessen?« Steffen grinste.
Beate war immer noch nicht nach Lächeln zumute. »Lass uns von hier verschwinden. Können wir nicht einfach ein Bier trinken gehen?«
»Schon die Nase voll von der Konterrevolution?«
Sie lachte nun doch kurz auf. Diesmal war sie es, die sich bei Steffen einhakte. Es tat gut, nicht allein zu sein. Auch in einer Menge von Tausenden konnte man sich verdammt allein fühlen.
»Oder willst du lieber noch bleiben? Ich kann auch …«
»Ich lass mich gern von dir auf ein Bier einladen, Frau Kollegin.«
Sie drückte kurz seinen Arm. Er musste in der Menschenmasse weiter ein Auge auf sie gehabt haben, als sie zu Andreas hinübergegangen war. Sonst hätte er sie doch nie und nimmer so schnell finden können.
»He! Frau Vogt? So heißen Sie doch?«
Beate drehte sich zu der Stimme um.
»Ich suche Andreas! Haben Sie ihn gesehen?« Tanja atmete heftig, als hätte sie einen Sprint hinter sich. »Ich kann ihn einfach nicht finden.«
»Ja, er ist …« Beate blinzelte überrascht, traute ihren Augen kaum. »Tanja! Geht es dir gut? Geht es euch gut? Wir können Andreas auch gemeinsam suchen!«
Tanja warf einen prüfenden Blick zu Steffen hinüber, der sie wortlos musterte, und sah dann wieder Beate an.
»Nee, ich will nur wissen, wo er ist. Können Sie mir das sagen oder nicht?« Sie strich sich fahrig über ihre geröteten Wangen.
»Ist Maik auch hier? Es wäre besser, wenn ihr mit mir mitkommen würdet. Es wird euch nichts passieren, versprochen. Ich übernehme die Verantwortung, dass euch nichts geschehen wird, wenn ihr mit mir mitkommt.«
Tanja schüttelte den Kopf. »Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht?«, fragte sie schroff.
»Ja. Aber er ist weggelaufen, als er mich gesehen hat.« Sie räusperte sich. Es kam ihr vor, als hätte sie versagt.
»In welche Richtung?«
Beate holte tief Luft. »Er war … da drüben auf der anderen Seite …« Sie zeigte in die Richtung. » … und ist dann die Straße dort hochgerannt. Aber … Tanja , bitte !« Sie griff nach dem Mädchen, ohne dass sie das geplant hatte, packte sie am Arm. »Lauf nicht auch noch weg, ich bitte dich!«
»Lassen Sie mich!«, schrie Tanja. »Lassen Sie mich los!«
»Sei doch bitte vernünftig«, bat Beate. »Wir suchen Andreas zusammen, okay?«
Tanja schien sie gar nicht zu hören. »Ich lass mich nicht anfassen! Von euch schon gar nicht!«
»Mensch, Mädel, sie will dir doch nur helfen«, mischte Steffen sich ein. Er hielt ihr seine Zigarettenschachtel hin, aber sie beachtete sie nicht.
»Ja, klar, die Polizei, dein Freund und Helfer! Wollen Sie mich jetzt verhaften?«
Tanjas Stimme war immer lauter geworden. Die Umstehenden blickten misstrauisch zu ihnen herüber.
»Bullenschweine!«, kam ein Ruf aus der Menge. »Bullen raus!«, brüllte eine andere Stimme.
»Lasst das Mädel in Ruhe!«
»Ich will dich nicht verhaften«, sagte Beate und hörte selbst, dass sie zu leise klang, seltsam unglaubwürdig. »Ich will nur dein Bestes!«
»Ha, wissen Sie, wie oft ich diesen Spruch schon gehört habe?«
»Tut mir leid, wirklich. Ich möchte dir … Halt geben. Euch . Deswegen …« Beate fand die richtigen Worte nicht.
»Lassen Sie mich sofort gehen! Was Sie wollen, interessiert mich einen Scheiß!«
Mit einem Ruck riss sich Tanja los. Beate spürte die Kraft, die in diesem Mädchen steckte, den Willen, der in diesem Moment viel stärker war als ihrer. Vielleicht war es auch Trotz, Verzweiflung. Es hatte keinen Sinn, sie aufhalten zu wollen. Eher instinktiv langte sie dennoch nach dem Ärmel, versuchte ein letztes Mal, sie zurückzuhalten. Nicht als Polizistin, nicht mit einem Polizeigriff, sondern aus einer unbestimmten Ahnung heraus.
»Ihr seid womöglich in Gefahr«, sprach sie den Gedanken aus, der ihr erst jetzt bewusst wurde.
In Tanjas Miene sah sie nichts als Abwehr. »Sie ist ein Bulle! Sie will mich verhaften!«, kreischte sie plötzlich in einem unnatürlich hohen Ton, als wäre Beate schon dabei, ihr eine Knebelkette anzulegen, mit der sie sie abführen konnte.
Tanja entzog sich ihr, lief, sie im Blick behaltend, ein paar Schritte rückwärts, wandte sich von ihr ab und drängelte sich zwischen zwei Leuten hindurch.
Ein Mann in schwarzer Kleidung, stämmig und groß, baute sich breitbeinig vor Beate auf, verschränkte die Arme vor der Brust. Es war klar, dass er sie nicht durchlassen wollte. Aber Beate hatte gar nicht die Absicht, der Flüchtenden zu folgen. Es hatte einfach keinen Sinn.
Sie spürte die Berührung ihres Kollegen an ihrem Arm. Vorsichtig zog er sie ein Stück beiseite. »Komm schon«, sagte er. »Lass uns von hier verschwinden.«
Ein paar Minuten später lief sie mit Steffen wieder an der Runden Ecke vorbei. Es befanden sich nur noch wenige Menschen dort; die Kerzen auf den Steinstufen waren fast heruntergebrannt.
»Du darfst den Leuten das nicht übel nehmen, dass sie so sind, wie sie sind. So … feindselig, meine ich«, sagte Steffen. »Sie haben noch im Kopf, was am 7. Oktober geschah. Die vielen Verhaftungen. Die brutalen Zuführungen. Das war wirklich kein Ruhmesblatt! Einige unserer Kollegen von der VP haben sich richtig ausgetobt. Die Menschen wurden wie Vieh auf LKWs geworfen. Sie mussten in Pferdeställen die ganze Nacht auf eiskaltem Beton stehen. Das waren noch nicht mal alles Demonstranten. Manche gerieten zufällig in das Desaster. Wer nicht parierte, bekam Schläge mit dem Gummiknüppel übergezogen.«
Beate rang einen Moment nach Fassung. »Woher weißt du das?«
»Eine Nachbarin von mir hat die Nacht zum 8. Oktober in dem besagten Pferdestall verbracht. Es gab nicht einmal Stroh dort. Sie hat jämmerlich gefroren. Und … na ja … sie war im fünften Monat schwanger. Das hat sie den Wachposten mitgeteilt. Auch, dass sie nicht bei der Demo war und von einem Arztbesuch kam. Und sie wurde trotzdem erst am nächsten Morgen laufen gelassen.«
Beate blinzelte ihn ungläubig an. Machte er ihr etwa Vorwürfe, weil sie zur Volkspolizei gehörte? Machte er sich selbst Vorwürfe?
»Ich habe mich gegen diese Gewalt auf den Leipziger Montagsdemos eingesetzt, wie du weißt«, sagte sie. »Hab dagegen protestiert und bin abgestraft worden. Wenn Kollege Michaelis nicht in den Westen getürmt wäre, würde ich immer noch Akten sortieren, Blumen gießen und Büromikado spielen.«
»Ja, klar weiß ich das. Du warst mutig … mutiger als ich jedenfalls. Alle anderen haben ihre Klappe gehalten. Aber glaub mal nicht, dass die da deinen Protest vergessen haben.« Steffen deutete mit dem Kinn auf das Stasigebäude. »Du stehst vielleicht unter Beobachtung. Wer weiß, ob es nicht die Genossen von Horch und Guck waren, die in deine Wohnung eingedrungen sind.«
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie überrascht. »Du meinst ernsthaft, die Stasi legt mir eine Puppe mit abgerissenem Kopf ins Badezimmer? Und wozu soll das gut sein?« Ihre Stimme klang ärgerlicher, als sie wollte. Warum erzählte er ihr solche … Schauermärchen?
Steffen zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, ist nur so ein Gedanke. Vielleicht liege ich falsch, und es steckt doch dein Ex dahinter.«
Beate blieb einen Moment stehen und sah ihn entgeistert an. »Eins ist jedenfalls glasklar: Ich brauche jetzt dringend ein Bier für meine strapazierten Nerven.«