22

Tanja lief in die Richtung, die ihr die Polizistin gewiesen hatte. Die Häuser kamen ihr dunkel und rußig vor. Die Straßenlaternen schimmerten matt vor sich hin und spendeten nur ein diffuses unheimliches Licht. Wo sollte sie Andreas hier suchen?

Warum war er weggerannt? Er wusste doch, dass sie sich Sorgen machen würde, oder nicht?

Schon in den letzten Tagen hatte er sich komisch verhalten. Stand manchmal in der Torgauer Wohnung bewegungslos herum und schnupperte nur misstrauisch, sah sie dann an, vorwurfsvoll, fragend, als hätte er einen Verdacht, den er nicht aussprechen wollte. Ahnte er, woher sie die Wohnung kannte? Warum sie wusste, dass der Schlüssel unter der Matte lag? Wer dort gewohnt hatte?

Sein Vertrauen zu ihr war schon länger brüchiger als Eis. Und offenbar war es jetzt gebrochen. Andreas verschwand nicht einfach so, nicht zufällig. Lief er auch vor ihr davon?

Tanja stolperte plötzlich über etwas Großes, das im Weg lag. Es schepperte laut. Was zum Teufel …? Eine umgekippte Mülltonne? Sie war tatsächlich über diesen verdammten Kübel geflogen! War das zu fassen? Wieso hatte sie das Ding nicht gesehen? Lag das etwa daran, dass sie heulte? Seit wann vergoss sie denn Tränen wegen eines anderen Menschen?

Sie rappelte sich auf, rieb sich den Dreck von den Händen, die aufgerissen waren und anfingen zu bluten. Auch ihr linkes Knie schmerzte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen.

Die Straße lag öde vor ihr. Andreas war weit und breit nirgends zu sehen. Stattdessen bog ein Polizeiwagen um die Ecke, langsam, als würden die Polypen etwas suchen. Jemanden suchen. Hatte diese Polizistin etwa die Streife gerufen? Bereitschaftspolizei, die sie einfangen sollte? Ihr wurde übel vor Angst. Sie konnte unmöglich wieder hinter Gitter!

Was scherte sie Andreas, wenn er einfach abhaute? Sollte er doch sehen, wie er klarkam. Sie musste sich um sich selbst kümmern. Tanja begriff, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Sie hätten in der Wohnung bleiben sollen, in ihrem Versteck, sich verbarrikadieren gegen die Welt. Abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Über ihre Flucht. Mit klopfendem Herzen schob sie sich so dicht an der Hauswand entlang, dass kleine Gesteinsbrocken sich lösten und auf den Boden rieselten. Verhielt sie sich zu auffällig?

Der Scheinwerfer des Streifenwagens beleuchtete die Straße. Sie mussten sie längst gesehen haben. Was sollte sie tun? Davonrennen? Stehen bleiben? Mit den Polizisten reden? So tun, als wäre sie die Unschuld vom Lande? Sie besaß keinen Ausweis. Sie würden sie auf die Wache bringen und in eine Zelle sperren. Sie würde wieder in irgendeinem finsteren Loch landen.

Warum war sie nicht als Rabe auf die Welt gekommen? Dann hätte sie auf einen Baum flattern und von da oben auf alles hinabblicken können. Und wenn sie genug davon hatte, flog sie einfach davon.

Eine Wagentür klappte. Sie blickte sich nicht um. Jemand stieg also aus.

»Hallo?«, rief der Polizist. »Hallo, junges Fräulein?«

Junges Fräulein ? Tanja hasste es, wenn sie so angesprochen wurde.

Die Männer, die sie so nannten, nahmen sie nicht für voll. Auch diesmal schwang ein Vorwurf in dieser Anrede mit. Sie hatte etwas ausgefressen, musste zur Ordnung gerufen werden. Dennoch war sie froh, dass sie auf diese Weise angeredet wurde und nicht mit ihrem Namen. Sie wussten also nicht, wer sie war und wie sie hieß?

»Meinen Sie mich?« Tanja drehte sich nun doch um.

Der Polizist stand in gehörigem Abstand zu ihr – direkt neben der Tonne, über die sie gestolpert war. Noch konnte sie einfach losrennen … Aber … da saß noch ein zweiter Mann in dem Wagen. Sie würde nicht weit kommen.

»Allerdings meine ich dich«, sagte der Uniformierte.

Tanja schwieg, wartete ab. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Sie zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.

»Was haben wir denn falsch gemacht?«, fragte der Volkspolizist.

»Wir?« Einen Moment war sie irritiert. Dann verstand sie, zog die Mundwinkel noch weiter nach oben, als würde er nur mit ihr scherzen.

»Du. Was hast du falsch gemacht?«

Sicherlich so einiges, dachte sie. Was wollte er hören? Dass es dumm gewesen war, aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof wegzulaufen? So kurz vor ihrer möglichen Entlassung? Dass sie es bereute? Sie hatte einfach nur eine Chance genutzt. Eine Chance, die nur einmal kam im Leben.

»Welchen Fehler meinen Sie?«

Er lachte auf, kam aber immer noch nicht näher. »Na, was soll ich wohl meinen?« Er legte den Kopf spöttisch schief und sah sie an, als würde er sie für dumm halten.

Er unterschätzte sie also, das war gut.

»Es tut mir leid«, sagte Tanja vorsichtshalber. »Kommt nicht wieder vor.«

»Das will ich hoffen. Und jetzt räumst du die Sauerei hier weg, und zwar dalli!« Er versetzte der Mülltonne einen leichten Tritt. Bei dem metallischen Ton zuckte sie leicht zusammen. »Hast du mich verstanden?«

Tanja nickte. Mit tauben Beinen und schmerzendem Knie humpelte sie auf den Kübel zu. Die Tonne hatte bereits im Weg gelegen, als sie gekommen war. Es war nicht ihre Schuld gewesen. Nicht ihre Sauerei . Aber spielte das eine Rolle?

Sie beobachtete den Polizisten, der jetzt wieder in den Streifenwagen stieg. Das Auto fuhr noch nicht los.

Sie bemerkte die Blicke und stellte die Tonne auf, die sich kalt, dreckig und schmierig anfühlte, aber nicht besonders schwer war. Dann hockte sie sich auf den Boden. Widerwillig griff sie in etwas Schlieriges, Schleimiges und beförderte es in den Mülleimer. Das Zeug stank erbärmlich und brannte in ihren Wunden. Hoffentlich bekam sie jetzt keine Blutvergiftung. Ohne so genau hinzusehen, sammelte sie ein, was auf dem Bürgersteig lag. Irgendwelche Essensreste, gammlige Zwiebeln und Kartoffelschalen vermutlich. Sie griff in Asche, die noch warm war. Ein Funken Glut brannte sich in ihre Haut, und sie zuckte erschrocken zusammen, schüttelte ihre Hand.

Der Wagen stand immer noch am Straßenrand, nur zwei bis drei Schritte von ihr entfernt. Die Polizisten saßen da und glotzten sie an. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, dass einer von ihnen in ein Funkgerät sprach.

Sie fuhren nicht weg. Verdammt noch mal! Sie fuhren einfach nicht weg!

Schon wieder wollten Tränen in ihre Augen steigen, und sie blinzelte gegen sie an, schaufelte jetzt mit beiden Händen Abfall in den Eimer. Erneut stieg einer aus dem Wagen, kam auf sie zu. Diesmal war es der andere. Er war größer, stämmiger. Und sein Gesicht sah grimmig und entschlossen aus. Langsam, wie in Zeitlupe, erhob sie sich, wischte sich die schmutzigen Hände an ihrer Jacke ab und sah ihm entgegen. Es war seltsam: Sie fühlte auf einmal eine Kälte, als würde aus heiterem Himmel ein Schneetreiben einsetzen; eine eiskalte Gleichgültigkeit machte sich in ihr breit.

»Wir wissen, wer du bist«, sagte der Mann in Uniform mit einer tiefen, fast väterlich klingenden Stimme und lächelte sie breit an. »Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Du wirst gesucht, Tanja Wolter. Und denk bloß nicht, dass du noch entkommen kannst.«

Also doch, dachte sie oder etwas in ihr. Also doch, jetzt haben sie dich wieder mal einkassiert.

Mit einer ruhigen Bewegung streckte sie ihre Arme vor und wartete darauf, dass der Polizist ihr die Handschellen anlegen würde.