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Als Andreas an einem der typischen maroden Häuser in Leipzig vorbeilief, das in ein Gerüst gehüllt war, dachte er automatisch an den toten Direktor, an sein aufgedunsenes Gesicht, die plumpe Gestalt, die wie ein Sack Kartoffeln dort gebaumelt hatte, an dieser Stange, in dieser Zelle, in die normalerweise Jugendliche gesperrt wurden. Solche wie er. Würde er das Bild dieses Leichnams jetzt für immer und ewig mit sich herumtragen? Und den Anblick dieser düsteren Gestalt, die vielleicht der Mörder war? Aber was hatte er denn gesehen? Einen Schatten, mehr nicht. Jemanden, den er vielleicht erkannt hatte. Vielleicht aber auch nicht. Und überhaupt: Er war jetzt draußen . Am besten, er vergaß das alles, vergaß, was dort drinnen passiert war.

Und wohin sollte er nun? Wo konnte er untertauchen?

Auf keinen Fall wollte er zurück in seinen alten Jugendwerkhof nach Burg. Auf Entweichung stand auch dort Arrest als Strafe. Allein die Vorstellung, wieder in so einem Loch zu hocken mit nichts drin außer zwei an die Wand montierten schmalen Holzbretter – eines als Sitzgelegenheit, das andere als Tischersatz –, einem Eimer und der üblichen Pritsche, die nur nachts benutzt werden durfte, löste Panik in ihm aus. Und auf keinen Fall konnte er zurück nach Torgau. Wieso wollte Tanja unbedingt in dieser kleinen Stadt an der Elbe bleiben und sich dort verstecken? Ausgerechnet in einer Wohnung, in der es nach dem süßlichen Parfüm des Direktors stank? In Leipzig konnte man doch viel eher eine Bleibe finden, oder nicht? Jedenfalls bis ihm etwas Besseres eingefallen war.

Aber wo sollte er danach suchen? Der Winter stand vor der Tür. Er musste dahin, wo es warm war. Vielleicht fand er eine runtergekommene verlassene Bude, in die er einbrechen konnte?

Ein metallisches Scheppern schallte von irgendwoher, und er zuckte nervös zusammen, lief schneller.

In einer Stadt, in der die Leute demonstrierten, gab es sicher viel Polizei. Und die hielten gern Ausschau nach Jugendlichen, die sich herumtrieben. Und womöglich folgte ihm die Polizistin ja doch. Oder sie verständigte ihre Kollegen.

Als er Schritte näher kommen hörte, drückte er sich in einen Hauseingang, lief an einer rissigen Wand mit einer Reihe von verbeulten Briefkästen vorbei, durch die Hintertür wieder hinaus und stand im nächsten Moment auf einem Hof. Das Hinterhaus wirkte in der Düsternis noch verfallener als das Vorderhaus. Nur ein paar matte Lichter glommen hinter einigen wenigen Fenstern. In den unteren Etagen sah Andreas etliche Bretter statt Glasscheiben. Vielleicht waren die meisten Wohnungen unbewohnt.

Auf dem Hof war niemand zu sehen. Eine Ziegelmauer versperrte den Blick auf das Nachbargelände. Eine schwere Tür knallte. Andreas ging um einen Kohlehaufen herum und tauchte in einen Kellereingang, kauerte sich auf die unterste Treppenstufe und wartete.

Ab und zu warf er einen Blick nach oben. Den freien Himmel zu sehen, die blinkenden Sterne und den halben Mond, war immer noch etwas Besonderes. In der Zelle in Torgau hatte er durch die Glasbausteine nichts von der Welt da draußen wahrgenommen, alles blieb schemenhaft und verwaschen, hell oder dunkel. In diesem Raum der Leere fühlte er sich irgendwann selbst leer werden. Manchmal war es ihm vorgekommen, als könnte er aus seiner Hülle steigen, an die Decke schweben und auf sich hinabschauen.

Als Schritte über den Hof hallten, zog er sich zusammen wie ein Embryo. Wenn das wirklich die Polizistin war, musste sie schwere Stiefel tragen. Aber eigentlich klang es nicht nach einer Frau. Vielleicht war es ja einfach nur ein Mann, der nach acht Stunden Arbeit mit schweren Füßen nach Hause kam. Aber eine innere Stimme sagte ihm etwas anderes.

Die Geräusche verstummten, der Unbekannte schien dazustehen und zu lauschen, und Andreas blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Es war still. Zu still.

Nach einigen Minuten fragte er sich, ob er wieder hervorkommen und nachschauen sollte. Vielleicht war der Typ längst weg. Zwar stand die Kellertür hinter ihm halb offen, aber bei der Vorstellung, in dieses Dunkel zu tauchen, sträubten sich ihm die Nackenhaare.

Wieder hörte er Schritte. Diesmal klangen sie leichter und leiser. Stimmen waren zu hören. Ein Mann fragte etwas, dann folgte eine Antwort. Also war der Unbekannte doch noch da. Nur stand er nun nicht mehr allein dort herum. Andreas strengte sich an, etwas zu verstehen.

Wie es schien, stellte der Mann Fragen.

»Keine Ahnung«, sagte die helle Stimme auf einmal lauter. »Vielleicht ist der Junge ins Haus gegangen. Bei Wolfi steigt heut ’ne Party.«

»Wolfi?«

»Wolfgang Reimann. Dritte Etage oder vierte. Der hat heut Geburtstag.«

Der Mann sagte etwas. Er sprach leise, sodass Andreas ihn nicht verstehen konnte. Kurz darauf klappte wieder eine Tür.

Andreas ging die Kellerstufen hinauf, tauchte aus seinem Versteck auf und umrundete geduckt den Kohlehaufen. Nichts wie weg hier!

Doch da stand jemand auf dem Hof.

Andreas blieb abrupt stehen.

»Er ist da rein«, sagte das Mädchen mit dem Igelhaarschnitt. »Du hast ein paar Minuten, um abzuhauen.«

Er starrte sie an. »Bist du mir gefolgt?«

»Zeit für ein Pläuschchen haben wir jetzt nicht.«

»Ich hab keine Ahnung, wo ich hinsoll«, sagte Andreas leise.

Das Mädchen taxierte ihn kurz. »Kannst du klettern?«

»Klar.« Andreas dachte an die Eskaladierwand auf dem Jungenhof in Torgau. Wie oft waren sie über die gejagt worden? Beinahe jeden Tag, beantwortete er sich die Frage selbst.

»Komm einfach mit.«

Sie steuerte auf die Mauer zu. Irgendwo sprang ein Licht an, das heller war als die anderen, es leuchtete fast wie ein Scheinwerfer. Andreas, der ihr folgte, sah den Schatten ihrer verrückten Frisur auf dem Gemäuer tanzen. In Windeseile griffen sie in die Ziegelwand, zogen sich hinauf und ließen sich auf der anderen Seite einfach fallen. Jemand fluchte und brüllte ihnen hinterher. Aber da waren sie längst auf dem anderen Hof, schlüpften durch eine Lücke in einem Zaun, durchquerten das nächste fremde Areal – wobei das Mädchen sich auszukennen schien. Offenbar wusste sie, wo es langging.

Sie krochen durch einen Busch, umrundeten Gerümpel und landeten schließlich in einer dunklen Seitenstraße.

Das Mädchen griff nach seiner Hand. »Wir tun einfach so, als wären wir ein Paar. Dann fallen wir weniger auf.«

Andreas war viel zu überrascht, um etwas zu erwidern. Ihre Finger fühlten sich kalt und knochig an, als würde sie zu wenig essen, aber ihm wurde warm bei der Berührung.

»Bin übrigens Flora«, murmelte sie. »Kommt von Florena. Weil ich manchmal so weiß bin, als hätte ich mich dick eingecremt. Als Kind hatte ich irgend so ’ne Schwäche, und meine Mutter hat mich mit Lebertran gefüttert deshalb. Den ekligen Geschmack wird man nie wieder los, verstehst du? Bin dann trotzdem manchmal umgekippt in der Schule. Alle haben die Hand zum Pioniergruß erhoben: Für Frieden und Sozialismus, seid bereit! Und wer liegt unterm Tisch und ist kalkweiß in der Gusche?« Sie kicherte.

Er hörte ihrem Geplapper zu, das ihn eigenartig beruhigte, und wollte etwas sagen, sich bei ihr bedanken, aber er brachte keinen Ton heraus.

Sie schien ein Ziel zu haben. Sie schien zu wissen, wohin sie gingen. Das musste genügen.

»Wieso ist der Typ hinter dir her? Wer ist das?«, fragte sie nach einer Weile unvermittelt.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Ich weiß es echt nicht.«

Der Mörder , dachte er. Vielleicht war das ja der Mörder .