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Major Berg blickte niemanden an, als sich seine Kollegen im Sitzungszimmer der Morduntersuchungskommission Leipzig an dem langen eckigen Tisch niederließen. Der Leiter der MUK blätterte in einer Akte und nippte an seiner Kaffeetasse.

Beate Vogt bemerkte zwei Männer in beigefarbenen Anzügen, mit Aktentaschen und blassen, ernsten Gesichtern, die, ohne sich groß umzusehen, den Raum betraten. Sie kannte sie nicht, hatte sie nie zuvor gesehen. Was hatten die hier zu suchen? Sie warf einen Blick zu Lehmann hinüber, der ihr direkt gegenübersaß. Er wirkte nicht sonderlich überrascht. Wusste er Bescheid? War er eingeweiht, was den Grund dieses Treffens betraf? Beate hatte vorab keine Informationen bekommen, abgesehen vom Termin. Das war zumindest ungewöhnlich.

Major Berg erhob sich und begrüßte die Ankömmlinge mit Handschlag. »Setzen Sie sich bitte. Unsere Sekretärin wird Ihnen gleich Kaffee bringen.«

Moni huschte auch schon mit einem Tablett herein. Das Geschirr klapperte, als sie die Tassen, ein Kännchen Milch und ein Schälchen mit Würfelzucker vor den Besuchern abstellte und den Kaffee eingoss. Sie wirkte nervös.

Was war los?

Beate versuchte, ihren Blick aufzufangen. Immerhin hatten sie heute Morgen schon über das Wetter geplaudert und über den langwierigen Husten von Monis kleiner Tochter. Doch die Sekretärin sah zu Boden und verschwand sofort wieder, nachdem sie ihren Auftrag erledigt hatte.

Ein Gefühl von Unbehagen stieg in Beate auf und machte sich in ihr breit. Sie drehte sich zu Steffen um, der neben ihr saß. Er verzog leicht einen Mundwinkel und hob die rechte Augenbraue. Also war auch er ahnungslos. Beate zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf Major Berg, der gerade alle Anwesenden begrüßte.

Beate fiel auf, dass er die Fremden nicht vorstellte. Sie saßen einfach nur so da – mit unbeweglichen Mienen und ohne einen Ton zu sagen.

»Zu Beginn unserer heutigen Sitzung möchte ich Ihnen mitteilen, dass der Fall des tot aufgefundenen Direktors des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau, Genosse Karl Zinkner, von der MUK Leipzig nicht weiterbearbeitet wird. Die Ermittlungen werden von den Kollegen der Hauptabteilung IX des MfS der Bezirksverwaltung Leipzig übernommen. Die Ergebnisse unserer Vorermittlung wurden bereits an die Genossen der Spezialkommission übergeben.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Beate spürte, wie ihre Finger eiskalt wurden. Was hatte das zu bedeuten? Vermutete man einen staatsfeindlichen Hintergrund? Eine Straftat gegen den Staat?

Einer der geheimnisvollen Besucher beugte sich jetzt zum Leiter der MUK hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Major Berg nickte und räusperte sich verlegen. »Entschuldigung, ich habe mich versprochen. Das Amt für Nationale Sicherheit wird den Fall übernehmen. Das Ministerium für Staatssicherheit ist ja nun die veraltete Bezeichnung.« Er räusperte sich noch einmal und warf den beiden Herren einen fragenden Blick zu. Sie schwiegen und deuteten nicht einmal ein Nicken an.

»Wie Sie wissen, war Direktor Zinkner direkter Untergebener von Margot Honecker, der ehemaligen Volksbildungsministerin. Insofern existiert hier ein staatliches Interesse in diesem Fall«, erklärte er knapp.

Die Kollegen aus dem Ermittlerteam sagten auch dazu kein Wort. Nicht einmal ein Murren war zu hören. Wenn das Ministerium für Staatssicherheit anwesend war, behielt man seine Meinung lieber für sich. Da nützte auch die Umbenennung nichts. Beate blickte einen Moment ratlos an die Wand, an den eckigen Fleck. Vor Kurzem hatte da noch das Bild mit dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gehangen. Man hatte es einfach abgenommen und nicht durch ein anderes Foto ersetzt. Jedenfalls noch nicht.

Schließlich hob sie die Hand. »Was ist mit den vermissten Jugendlichen?«

Ihre Finger fühlten sich immer noch an, als hätte sie sie in Eiswasser getaucht. Wenn ihnen der Fall entzogen wurde, konnte sie sich auch nicht mehr um Tanja, Andreas und Maik kümmern, oder?

Major Berg blätterte wieder in seinen Papieren herum, statt sie anzusehen.

»Tanja Wolter wurde in Leipzig aufgegriffen und befindet sich wieder in ihrem Elternhaus«, antwortete er. »Maik Kerner ist in die BRD ausgereist, und nach Auskunft seines Stamm-Jugendwerkhofs befindet er sich derzeit auf … ähm … auf einer spanischen Insel. Er hat von dort eine Postkarte an seinen Werkhof geschrieben. Vermisst wird weiterhin Andreas Schwalbe. Die bisherige Ermittlung hat ergeben, dass er sich zumindest nicht bei seiner Mutter befindet. Der ABV 1 seines Heimatortes hält regelmäßigen Kontakt zu ihr. Falls er doch noch dort auftauchen sollte, werden wir sofort informiert. Die Fahndung nach ihm bleibt also selbstverständlich bestehen. Vermutlich hält der Junge sich zurzeit im Raum Leipzig auf.«

Tanja war aufgegriffen worden? Beate sah die Jugendliche wieder vor sich. Die Aufregung in ihrem Gesicht, ihre fahrigen Bewegungen. Sie hörte ihre Stimme, ihren anklagenden Ton. Tanja hatte auf der Leipziger Montagsdemo völlig aufgelöst auf sie gewirkt.

Und jetzt sollten sie und ihre Kollegen den Fall einfach so abgeben?

Beate hatte es nicht geschafft. Sie hatte es nicht geschafft, Tanja, Andreas und Maik aufzuspüren und zu schützen. Immerhin befand sich Tanja nun wieder bei ihren Eltern. Das war doch eine gute Nachricht, oder nicht?

Die schlechte war: Andreas musste jetzt ganz allein klarkommen. Hätte sie ihm doch hinterherlaufen sollen?

Wie auch immer, es war zu spät, darüber nachzudenken. Sie waren den Fall los.