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Fünf Minuten nach dem Anruf aus dem Polizeirevier machte sich Beate Vogt mit ihrem Motorrad auf den Weg von Leipzig nach Torgau. Seit Monaten hatte sie auf eine Nachricht aus dieser Stadt gewartet. Es war noch nicht vorbei. Der Fall war nicht abgeschlossen. Nie hatte ihr jemand mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt worden wären.

Das Amt für Nationale Sicherheit, ehemals Ministerium für Staatssicherheit, gab es nicht mehr. Waren die Ermittler der Spezialkommission überhaupt dazu gekommen, sich mit dem Tod des Direktors des geschlossenen Jugendwerkhofs zu befassen? Wieso mussten sie diesen Fall überhaupt noch an sich reißen – so kurz vor Toresschluss? Vielleicht wollten sie ja der Bevölkerung etwas beweisen? Dass die Existenz der Staatssicherheit nicht nur aus der Bespitzelung und Verfolgung von sogenannten Staatsfeinden bestand und doch irgendeinen Sinn ergab? Aber dafür war es wohl zu spät. Und die Ermittlungen, falls es sie überhaupt gegeben hatte, waren offenbar im Sande verlaufen.

Wie auch immer: Der Polizist aus Torgau hatte ihr nicht gesagt, worum es konkret ging. »Kommen Sie einfach her, und dann erfahren Sie es.«

Warum wollte er, dass sie extra kam? Seine Stimme hatte nicht besonders aufgeregt geklungen. Eher so, als müsste er eine nebensächliche Aufgabe erledigen.

An diesem Morgen schien die Sonne durch eine leichte Wolkendecke, die immer wieder aufriss und den Blick auf einen blassblauen Himmel freigab. Das Wetter war angenehm mild für die Jahreszeit. Es war Dienstag, der 2. Oktober 1990. Die Volkskammer wurde heute aufgelöst, wie Beate vorhin im Radio gehört hatte. Ab morgen war die DDR Geschichte. In Berlin bereiteten sich die Politiker aus Ost und West auf die Einheitsfeier vor.

Beate erschien diese ganze Zeit immer noch unwirklich. Aber so langsam gewöhnte sie sich an das Gefühl des Irrealen. Spätestens seit dem Fall der Mauer war nichts mehr wie zuvor. Aber in Leipzig, der »Heldenstadt«, hatte das alles ja schon viel früher angefangen. Die Demos am Montag, dieser Aufruhr, der manchmal Umsturz genannt wurde und manchmal Friedliche Revolution. Nur das merkwürdige Wort Konterrevolution benutzte zurzeit niemand mehr, jedenfalls nicht offiziell. Sogar die Zeitungen und ihre Journalisten hatten sich quasi über Nacht umgestellt. Überhaupt änderte sich der Sprachgebrauch. Genossen und sozialistische Grüße gab es plötzlich nicht mehr. Der Genosse Major Berg hieß jetzt Herr Kriminaloberrat Berg. Daran musste sich Beate erst gewöhnen. Die militärischen Dienstränge bei der Polizei Ost waren sämtlich abgeschafft.

Als sie ihr Motorrad vor dem Polizeirevier in der nordsächsischen Kleinstadt parkte, sah sie, dass die Kollegen gerade damit beschäftigt waren, die DDR-Embleme von den Streifenwagen zu entfernen. Die Volkspolizei-Schriftzüge auf den Motorhauben waren bereits verschwunden. Neue Aufschriften existierten noch nicht. Die Wagen sahen irgendwie nackt aus und schienen zu keinem bestimmten Land zu gehören.

Niemand beachtete Beate. Sie grüßte dennoch mit einem flüchtigen Handzeichen und betrat das Gebäude.

In dem kahlen Gang schlug ihr ein Geruch von Farbe entgegen. Die Wände waren genauso fleckig und grau wie im letzten Jahr. Die könnten tatsächlich mal einen Anstrich gebrauchen, dachte Beate. Anders als sonst standen die Türen weit offen. Beate blickte in einen der Räume hinein und fragte nach Herrn Lüder, der sie angerufen hatte.

»Worum geht es denn?«, fragte eine Frau, die hinter einer Erika-Schreibmaschine saß und gerade ein Farbband wechselte.

Beate erläuterte kurz den Grund ihres Kommens. »Es scheint dringend zu sein«, setzte sie hinzu.

Die Sekretärin musterte sie ohne ein Lächeln. »Die sind alle in der Kantine«, sagte sie.

Beate warf einen verwunderten Blick auf die Uhr, die an der Wand tickte. »Gibt es schon Mittag?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Da ist am meisten Platz.« Sie erklärte Beate ihre Bemerkung nicht, zeigte ihr mit ihren vom Farbband fleckigen Fingern nur den Weg.

Auf den Tischen des Speisesaals lagen Uniformjacken. Die Polizisten standen über ihre Uniformen gebeugt da, wie Kinder, die etwas bastelten. Beate fragte sich, was sie da taten, und trat neugierig einen Schritt näher.

Mit weißer Textilfarbe schrieben sie das Wort POLIZEI auf den grünen Stoff und benutzten dafür eine Schablone als Hilfsmittel. Beate verkniff sich ein Grinsen. Das Seltsame in dieser Zeit war vollkommen normal geworden. Wie in einem Science-Fiction-Streifen mussten sie alle durch ein Portal in eine neue Zeit eintreten.

Zwei Polizisten, die offenbar mit ihren Jacken schon fertig waren, nahmen sich nun ihre Mützen vor. Das mit dünnen Drähten befestigte DDR-Staatswappen-Symbol mit Hammer und Zirkel wurde aus dem Stoff gezogen und durch einen schwarz-rot-goldenen Knopf ersetzt, der auf den ersten Blick aussah wie ein zu klein geratener Bierdeckel. Das neue Auge des Gesetzes an den alten Schirmmützen wirkte blutunterlaufen. Nur der blecherne Ährenkranz blieb als Umrandung.

»Herr Lüder?«, fragte sie in den Saal hinein.

Ein junger Mann hob den Kopf.

»Ich bin Beate Vogt aus Leipzig. Sie hatten mich angerufen.«

Viktor Lüder begrüßte sie mit einem lässigen Handschlag. Sein Kinn war unrasiert, und sein Haarschnitt sah ebenfalls wenig militärisch aus. Ein paar Locken hingen ihm ins Gesicht. Einige Knopflöcher seines Hemdes standen offen. Vor ein paar Monaten wäre auch die fehlende Anzugordnung noch undenkbar gewesen.

»Ich dachte, es ist besser, wenn Sie herkommen, als wenn ich die Post noch mal mit der Post verschicke«, sagte er mit ironischem Unterton und geleitete sie durch den Flur in ein mit Akten vollgestelltes Büro, das nicht größer war als eine Abstellkammer.

»Verstehe«, murmelte Beate, obwohl sie nur erraten konnte, worum es ging. »Es ist also ein Brief für mich gekommen?«

»Ich nehme an, dass Sie gemeint sind«, sagte er, suchte eine Weile in einer mit Briefen gefüllten Plastikablage und reichte ihr den Umschlag.

An die Polizistin Frau Fokt
Polizei Torgau
7 290 Torgau
DDR

»Ohne Absender«, sagte sie mehr zu sich selbst. Gerade fragte sie sich, warum man sie wegen eines anonymen Briefes extra herbestellte, als sie bemerkte, dass der Umschlag offen war.

»Unsere Sekretärin hat ihn versehentlich geöffnet.« Viktor Lüder räusperte sich verlegen. »Sie hat wohl gedacht, dass die Sendung nicht weiter wichtig wäre.«

»Hm.« Beate fühlte eine leichte Übelkeit, als sie die Seite aus dem Kuvert zog.

Der Brief war handschriftlich verfasst und recht kurz.

Direktor Karl Zinkner hat das bekommen, was er verdient!
Er soll in der Hölle schmoren!

Beate starrte ratlos auf die Sätze. Die Schrift sah kraklig aus. Als hätte ein Kind die beiden Zeilen hastig aufs Papier gebracht. Es fehlten Anrede und eine Unterschrift. Die freundlichen Grüße sowieso. Wer immer das geschrieben hatte, war nicht freundlich, sondern zornig gewesen.

»Wir konnten nicht einschätzen, was sich dahinter verbirgt«, sagte Viktor Lüder. »Womöglich schreibt hier ja der Täter.« Nervös rieb er sich über das unrasierte Kinn. »Oder auch ein wichtiger Zeuge. Und da dachte ich …«

»Schon klar. Danke«, unterbrach sie ihn.

Die Gesichter der geflohenen Jugendlichen tauchten vor ihr auf: Maik, Tanja, Andreas.

Wo befanden sich die drei jetzt? Hatte einer von ihnen den Brief an sie geschrieben und an die Torgauer Polizei geschickt? Und wozu?

»Wird der Fall wieder neu aufgerollt?«, fragte der junge Polizist neugierig.

»Das muss ich mit meinem Vorgesetzten, Major Berg, besprechen. Ähm, Kriminaloberrat Arno Berg.«

»Ich wäre lieber bei der Kripo, wissen Sie?« Viktor Lüder lächelte sie an.

»Dann bewerben Sie sich doch«, schlug sie vor. »Im Moment fehlen Kollegen. Einige sind in letzter Zeit in den Vorruhestand gegangen.«

»Meinen Sie, ich habe eine Chance?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte sie ausweichend. »Aber wie heißt es so schön: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, stimmt’s?«

Sie sah, wie seine Augen einen kurzen Moment aufleuchteten. »Da haben Sie recht.«


Auf dem Rückweg machte sie noch einen kleinen Umweg und fuhr am ehemaligen Jugendwerkhof vorbei. Das Gebäude sah aus wie eine verlassene Burg. Die Gefängnisschleusen waren geschlossen. Alles wirkte verriegelt und verrammelt. Die Scheibe eines großen Fensters war zerstört, als hätte jemand Steine geworfen.

Der mysteriöse zweizeilige Brief hatte etwas in Beate geweckt. Ihr alter Spürsinn war nur eine Weile verschüttet gewesen und regte sich auf einmal wieder. Am liebsten würde sie sofort in das Haus marschieren und alles noch einmal gründlich untersuchen. Auch wenn die Spuren der Tat längst verwischt waren – bestimmt ließ sich irgendetwas finden, was in dem Fall weiterhalf. Vielleicht lagen in den Verwaltungsräumen ja noch irgendwo die Akten der Jugendlichen und andere Schriftstücke, die irgendwie Hinweise geben könnten auf ein Mordmotiv. Allerdings brauchte sie laut Vorschrift einen Kollegen, der sie begleitete. Und sie würde sich erst einen Schlüssel und eine Genehmigung zum Betreten des Objektes besorgen müssen, um hineinzugelangen.

Beate überlegte kurz, wie sinnvoll das war. Sie musste zunächst mit Berg sprechen. Wenn klar war, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden, würde sie den Ort des Geschehens noch einmal genauer unter die Lupe nehmen. Sie war sich sicher, dass sich hinter den grauen Mauern noch Geheimnisse verbargen, von denen sie im Moment nichts ahnte.


Ihr Chef sah nicht besonders begeistert aus, als sie ihm die kraklige Schrift unter die Nase hielt. Sie saßen sich gegenüber, und Beate kam es vor, als würde sie einen Hauch von Alkohol wahrnehmen.

»Was soll das sein?«, brummte Berg schlecht gelaunt. Er rieb sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. Ein neu aufgelegter Mordfall hatte ihm in dem Wirrwarr dieser Zeit vermutlich gerade noch gefehlt.

»Ein Hinweis. Vielleicht eine neue Spur? Der Fall ist nicht abgeschlossen, und wenn es tatsächlich Mord war … der verjährt bekanntermaßen nicht. Kollege Lehmann und ich sollten die Ermittlungen sofort wieder aufnehmen«, sagte Beate. »Dieses Schreiben schreit doch geradezu danach, finden Sie nicht?«

Ihr Vorgesetzter hob schwerfällig den Kopf und blickte sie an. »Dann haben Sie es noch nicht gehört?«

»Was gehört?«

Arno Berg seufzte so laut, dass es wie ein Stöhnen klang.

Einen Moment fragte sich Beate, ob Major Berg, der jetzt kein Major mehr war, wohl entlassen werden sollte. Immerhin wäre er nicht der erste Abteilungsleiter, der gehen musste. Zwar trug er seinen Bonbon , sein Parteiabzeichen, nicht mehr und war, wie es schien, aus der SED, die jetzt PDS, Partei des Demokratischen Sozialismus , hieß, ausgetreten. Aber genügte das?

»Genosse Lehmann … ich meine … Herr Lehmann hat soeben seinen Dienst quittiert«, erklärte der Mann. »Er steht für Ermittlungen nicht mehr zur Verfügung.«

»Lehmann?!«, rief sie erstaunt aus. »Aber warum? Ich verstehe nicht. Wieso?«

»Das fragen Sie ihn am besten selbst. Allerdings wird er Ihnen die Gründe vermutlich nicht nennen.«

»Aha.« Beate versuchte, den Blick ihres Gegenübers zu ergründen. »Weshalb soll ich ihn fragen, wenn er mir nicht antworten wird?« Sie mochte Lehmann nicht, und diese Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Dennoch waren sie Kollegen. Und so schlecht war ihre Zusammenarbeit nun auch nicht gelaufen.

»Keine Antwort ist eben manchmal auch eine Antwort«, sagte Arno Berg. »Gerade in Zeiten wie diesen.«

Beate überlegte, was ihr Boss ihr damit sagen wollte. Dann fiel ihr das Formular mit den Fragen ein, das sie kürzlich erhalten hatte. Sie war noch nicht dazu gekommen, sich näher damit zu beschäftigen. Innerhalb der nächsten Zeit sollte sie Auskunft über sich selbst geben: zum Beispiel, ob sie Mitglied in der SED gewesen sei und dort irgendwelche Funktionen ausgeübt oder jemals offiziell oder inoffiziell, hauptamtlich oder wie auch immer für das Ministerium für Staatssicherheit oder das Amt für Nationale Sicherheit gearbeitet habe. Und für den Fall, dass sie »Ja« ankreuzte, musste sie angeben, wie, wo und wann die Tätigkeit für das MfS erfolgt war.

Sie brauchte sich darüber keine Gedanken zu machen, glaubte sie zumindest, denn sie konnte guten Gewissens zweimal »Nein« ankreuzen. Aber was war mit ihren Kollegen?

»Hat das Ganze was mit dem Personalfragebogen zu tun?«, fragte sie leise.

Arno Berg seufzte schon wieder, als würde ihm etwas wehtun. Er beugte sich unter seinen Schreibtisch und tauchte mit einer halb gefüllten Flasche Nordhäuser Doppelkorn und zwei Schnapsgläsern wieder auf.

»Trinken Sie zur Feier des Tages einen Schluck mit?« Ohne eine Antwort abzuwarten, füllte er eines der Gläser und schob es ihr zu. »Na dann: Prost! Auf die deutsche Einheit!«

Er erhob sich, und Beate blieb nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun.

»Einigkeit und Recht und Freiheit – für das deutsche Vaterland!«, rief er zu ihrem Schreck.

Wollte er jetzt etwa die Nationalhymne singen? Beate sah ihn verblüfft an und wartete auf das, was da noch kommen würde.

»Und was sagen Sie dazu, Frau Kriminaloberassistentin

»Zu was?«

»Na, zur Wiedervereinigung. Weshalb stehen wir beide denn sonst so feierlich hier herum?«

Beate fühlte sich nicht in Feierlaune. Sie zuckte mit den Schultern und antwortete mit der Liedzeile, die ihr zuerst einfiel: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland!«

Arno Berg nickte ihr zu. Offenbar akzeptierte er ihren Trinkspruch. Er hob sein Glas. Und dann tranken sie.


Normalerweise ließ Beate die Finger von hochprozentigem Alkohol. Aber dieser Tag und diese Situation waren wohl eine Ausnahme.

Als sie eine Stunde später reichlich benebelt zur Tür wankte, über der – wie ihr in diesem Moment auffiel – statt Erich Honecker jetzt Michail Gorbatschow hing, rief ihr Arno, mit dem sie indessen verbrüdert war, noch etwas nach.

Beate drehte sich um – vorsichtig, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor.

»Ach übrigens: Wir bekommen einen neuen Kollegen!«

Ihr Chef schien mehr zu vertragen als sie. Er lallte kein bisschen, im Gegenteil, er wirkte vollkommen klar.

Beate dachte an Viktor, den jungen Polizisten aus Torgau. Hatte er sich etwa doch schon beworben?

»Wen denn?« Wenn sie zu ihrem Chef sah, drehte sich alles. Sie griff nach einem Halt.

»Hauptkommissar Almgruber. Josef Almgruber wird uns zukünftig unterstützen.«

Mit der Klinke in der Hand blieb sie stocksteif stehen. Was war das denn für ein komischer Name? »Noch nie … gehört«, brachte sie mit schwerer Zunge heraus.

»Tja, er ist ja auch nicht von hier. Josef Almgruber aus …« Arno Berg blätterte in seinen Unterlagen, die sich auf dem Tisch stapelten. »Aus Nürnberg.«

»Auch noch nie gehört«, murmelte sie. »Liegt das nicht … in der Nähe … von Thüringen?« Beate schwor sich in diesem Moment, nie wieder einen Nordhäuser Doppelkorn zu trinken. Schon gar nicht auf fast leeren Magen.

»Weiter drunter«, erklärte Arno Berg. »Weiter im Süden. Also im Westen.«