Josef Almgruber spazierte über den Leipziger Marktplatz. An einigen der eigens für den Tag der Wiedervereinigung aufgebauten Buden gab es Feuerwerk zu kaufen, an anderen Sektflaschen, so als würde eine große Silvesterparty bevorstehen. Die Menschen standen an den Verkaufsständen Schlange. Sie würden es also heute Abend krachen lassen zur Feier des Tages. Die Trennung in Ost und West war Geschichte, die beiden deutschen Staaten gingen genau um Mitternacht den Bund der Ehe ein. Oder weniger romantisch ausgedrückt: Nach Artikel 23 des Grundgesetzes trat die DDR der Bundesrepublik bei. Von Gleichberechtigung konnte da natürlich keine Rede sein. Allerdings hatten das die meisten Ossis ja so gewollt, oder nicht? Der schnellen Währungsunion folgte der überhastete Anschluss. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte schließlich den Ostdeutschen im Brustton der Überzeugung »blühende Landschaften« versprochen.
Josef wusste nicht, ob er sich über seine Anwesenheit in Leipzig freuen sollte. Seit gestern Abend wohnte er nun offiziell hier – mitten im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Gewandhauses und der Moritzbastei, dem angeblich größten Studentenklub Europas. Auch bis zur Nikolaikirche, die durch die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen weltberühmt geworden war, lief er von seiner Zweizimmerwohnung nur ein paar Minuten. Orte mit Tradition und langer Geschichte umgaben ihn also hier jede Menge. Einer Geschichte, mit der er bisher nichts zu tun gehabt hatte. Er kannte keinen einzigen Ossi, und er war nie zuvor in der DDR gewesen. Wozu auch?
Die Stadt kam ihm auf den ersten Blick grau und trostlos vor. Viele Häuser, an denen er vorbeilief, waren verfallen, einige sogar so baufällig, dass man sie besser heute als morgen abreißen sollte. Ohne Zweifel: Er war in einem anderen Land.
Aber hatte er das nicht gewollt? Nach dem Autounfall vor drei Jahren, bei dem seine Frau ums Leben gekommen war, und nach seinem Klinikaufenthalt wegen einer schweren Depression in der Zeit danach hatte er um Versetzung gebeten – in eine »ruhigere Gegend«. Er war die Fälle leid, die er als Hauptkommissar der Mordkommission in Nürnberg zu bearbeiten hatte – Messerstechereien in Obdachlosenunterkünften, Prostituiertenmorde, Drogendelikte mit Todesfolge, Schießereien, brutale Straftaten von Neonazis gegen Ausländer, getötete Kinder, sogar getötete Babys – die Palette war lang. Beinahe jeden Tag gab es eine schwerwiegende Gewalttat.
Natürlich hätte er einfach kündigen können, aber das wäre noch eine viel größere Flucht gewesen, als nach seiner Lebenskrise woanders neu anzufangen. Aufgeben kam für ihn nicht infrage.
Gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen hatte er daraus keinen Hehl gemacht, dass er aus Nürnberg wegwollte. Und so war es wohl kein Zufall, dass man ausgerechnet ihn auserkor, als »Aufbauhelfer« in den Osten zu gehen.
Der Ortswechsel war auch für seinen Sohn Florian nötig gewesen. Die Nürnberger Wohnung hatte den Jungen zu sehr an seine Mutter erinnert. Auch wenn er zum Glück nicht wie sein Vater in eine Depression gefallen war, eine andere Gegend, neue Eindrücke, vielleicht neue Freundschaften würden ihm wahrscheinlich zugutekommen.
Aber ausgerechnet im Osten? Doch warum nicht? Das Land befand sich in einer Aufbruchstimmung. Und Josef konnte bei all dem Neuen vielleicht mitwirken und sich nützlich fühlen.
Dass er für seinen Sohn einen passenden Internatsplatz in Halle an der Saale gefunden hatte, spielte sicher eine Rolle dabei, dass er sich auf dieses Wagnis einließ. Von Leipzig nach Halle war es nur ein Katzensprung. Er konnte seinen Sohn am Wochenende oder nach Dienstschluss besuchen, mit ihm Eis essen gehen oder in den Zoo. Es gab sowohl in Halle als auch in Leipzig einen Zoo, und Florian mochte Tiere. Gestern hatten sie den Tag gemeinsam an der Saale verbracht, sich die Schiffe angesehen, waren durch einen Park gelaufen und auf einen Felsen geklettert. Sein Sohn war sehr aufgeregt gewesen und hatte so schnell gestikuliert, dass Josef kaum hinterhergekommen war.
Zwar hatte er die Gebärdensprache schon vor einer Weile gelernt, aber so gut wie sein Sohn konnte er sie natürlich noch nicht. Wie es aussah, freute sich Florian auf die Kinder, die er kennenlernen würde. Mit der zukünftigen Klassenlehrerin der Gehörlosenschule, Juliane Siebenbach, hatte Josef Almgruber ein paarmal telefoniert. Die Telefonleitungen in den Osten waren immer noch miserabel, und er hatte jedes Mal Stunden gebraucht, die Frau zu erreichen. Aber das war es ihm wert. Er erzählte ihr von seinem Sohn, von seinen Hobbys und Vorlieben; sie hörte zu, beantwortete seine Fragen und berichtete von der Gehörlosenschule und dem Internat. Die Lehrerin wirkte jung am Telefon und schien wirklich nett zu sein. Dass Florian sich gut aufgehoben fühlte, war für ihn das Wichtigste.
Es fiel Josef fast ein bisschen schwer, ohne seinen Sohn durch diese fremde Stadt zu laufen. Er vermisste ihn schon jetzt. An den Tagen vor ihrer Abreise aus Nürnberg hatten sie viel Zeit gemeinsam verbracht. Wie lange würde er brauchen, um hier anzukommen und sich nicht zu fühlen, als wäre er im Ausland unterwegs?
Josef ging in eine Gaststätte, die sich in einem Gewölbekeller befand. Seit der Währungsunion im Juli zahlte man natürlich auch hier mit Westgeld, aber die Gerichte auf der Karte waren ihm zum großen Teil unbekannt. Die alten Angaben in DDR-Mark hatte man einfach durchgestrichen und durch vermutlich sehr viel höhere DM-Preise ersetzt.
Zerstreut betrachtete er die Speisekarte und bestellte ein Gericht, das er zu kennen glaubte. Josef dachte an Florian, den er gestern nach ihrem Ausflug in die Obhut des Internats in Halle gegeben hatte. Sein Sohn teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Jungen, mit denen er sich dem ersten Eindruck nach gut zu verstehen schien. Dass er in einem Doppelstockbett schlafen musste, schien dem Zehnjährigen nichts auszumachen. Anscheinend empfand er das Ganze als ein Abenteuer.
Der Kellner brachte Josef einen Wein, den er sich wegen des Namens ausgesucht hatte: Grauer Mönch . Ein ungarischer Weißwein, reichlich süß für seinen Geschmack. Trockene Weine schien es hier nicht zu geben. Auch das Essen war merkwürdig. Er hatte sich ein Jägerschnitzel bestellt. In seiner Heimat verstand man darunter ein normales Schnitzel mit Champignons, Soße, Pommes frites und Salat. In der Leipziger Gaststätte bekam er stattdessen zwei dicke panierte Wurstscheiben mit Nudeln und Tomatensoße serviert. In Nürnberg hätte er ein solches Essen zurückgegeben, aber er wusste nicht, ob das im Osten üblich war. Und wahrscheinlich lag der Fehler ja bei ihm. Also unterdrückte er den Würgereiz nach dem ersten Bissen und aß brav alles auf. So übel schmeckte es nun auch wieder nicht; das Gericht erinnerte ihn an das Schulessen in seiner Kindheit. Wenn man einigermaßen hungrig war, passte eben auch ein exotisches Essen aus der Vergangenheit.
Obwohl der Kellner ihn ohne ein Lächeln bediente, gab er ihm ein gutes Trinkgeld, verabschiedete sich höflich und kehrte zurück in seine Wohnung, die er möbliert gemietet hatte.
Die Möbel waren alt und zerkratzt und stammten nach Auskunft des Vermieters aus einem Leipziger Antikkaufhaus und Wohnungsauflösungen. Josef fühlte sich ein wenig wie im Haus seiner Großmutter. Abgesehen von dem etwas muffigen Geruch störte es ihn aber nicht. Nur die Matratze des Bettes würde er wohl so schnell wie möglich auswechseln müssen. Er versank in ihr beinahe wie in einer Hängematte. Von der letzten Nacht schmerzte sein Rücken noch immer.
Als an diesem Abend die ersten Raketen gezündet wurden, warf Josef einen Blick aus dem Fenster. Doch er konnte nicht viel erkennen. Die Straße war offenbar eine unbeleuchtete Sackgasse. Der Krach von draußen drang fast ungefiltert zu ihm durch. Da der offizielle Beitritt um Mitternacht stattfinden sollte, war wohl an Schlaf vorerst nicht zu denken.
Josef zog seine schwarze Lederjacke über, die er sich vor etlichen Jahren in Haight-Ashbury, dem Hippie-Viertel von San Francisco, in einem Secondhand-Shop gekauft hatte, und warf noch einen Blick in den Spiegel, bevor er die Wohnung verließ. Sah man ihm an, dass er aus dem Westen stammte? Oder sogar, dass er ein Polizist von »drüben« war?
Na, wie ein Sachse wirkte er vermutlich nicht. Und spätestens, wenn er ein paar Worte im Nürnberger Dialekt sagte, verriet er sich mit Sicherheit.
An der Straße begrüßte ihn ein Hupkonzert. Junge Leute schwenkten deutsche Fahnen aus den heruntergekurbelten Fenstern ihrer verbeulten Gebrauchtwagen, die aus Westdeutschland stammten und die sie vermutlich zu überhöhten Preisen gekauft hatten. »So ein Tag, so wunderschön wie heute!«, sang eine vielleicht Zwanzigjährige und winkte ihm ausgelassen zu. »So ein Tag, der dürfte niiiieee vergehn!« Sie hing in ihrem angetrunkenen Zustand halb aus dem Auto heraus, und Josef machte sich einen Moment Sorgen um sie.
Eine Weile lief er ziellos durch das Zentrum, am Kino Capitol und an der Thomaskirche vorbei, überquerte den Kirchhof und musterte die Bronzestatue von Johann Sebastian Bach, die dunkle, etwas mürrische Mimik des Komponisten. Täuschte er sich, oder zog der Mann eine Augenbraue hoch, als er auf Josef hinabblickte?
Auf seinem Weg durch die Stadt betrachtete Josef die Gesichter der Leute, die ihm entgegenkamen. Einige tranken Sekt. Nicht aus Gläsern, sondern direkt aus der Flasche. Ausgerechnet den von Faber, den billigsten Sekt, den es im Westen zu kaufen gab und der jetzt offenbar literweise in den Osten schwappte. Obwohl man von dem garantiert Kopfschmerzen bekam. Aber wen interessierte, was morgen sein würde? Die Party war schon voll im Gange.
Josef fragte sich, ob er zur Feier des Tages auch irgendwo ein Gläschen trinken sollte. So nüchtern zwischen den vielen Alkoholisierten fühlte er sich noch mehr als Außenseiter.
Eine Weile irrte er durch Straßen, die voller Menschen waren, bog in eine Gasse ein und landete schließlich in einer kleinen, dunklen gemütlichen Gaststätte, die Zum Kaffeebaum hieß.
In dem offenbar historischen Kaffeehaus trank er ein paar Schnäpse, bis er sich angeheitert genug fühlte. Morgen musste er ja noch nicht so früh aufstehen. Der 3. Oktober war Feiertag für alle Deutschen in Ost und West – egal, ob die Vereinigung für sie ein Grund zum Feiern war oder nicht. Josef fand das merkwürdig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in Nürnberg heute jemand mit einer Flasche Sekt auf die Straße ging oder eine Deutschlandfahne schwenkte. Die Ossis schienen tatsächlich dankbar zu sein, dass sie Honecker und die Grenze endlich los waren. Jedenfalls heute.
Auf dem Rückweg fegten ihm immer noch Raketen um die Ohren. Einige der Betrunkenen schrien jetzt: »Deutschland! Deutschland!« Und dann immer wieder und immer wieder: »Deutschland! Deutschland!« Josef fragte sich, warum sie den Namen des Landes stets zweimal hintereinander riefen. Und weshalb sie sich überhaupt auf diese Art vergewissern mussten, wo sie lebten. Es klang ein wenig wie ein Schlachtruf im Fußballstadion.
Ein paar der Jüngeren sahen aus wie die Neonazis, die er aus Nürnberg kannte. Wo kamen die denn plötzlich her? Sie trugen Lonsdale-Sweatshirts und Bomberjacken, und sie hatten sich Mühe gegeben mit ihren Frisuren. Die Haarschnitte sahen schon sehr ordentlich aus, wie Josef feststellte.
Das Geschrei artete irgendwann aus in Radau. Josef bekam Kopfschmerzen, auch ohne Billigsekt. Er wollte jetzt nur noch zurück in seine Wohnung. Sich in sein Hängemattenbett legen und schlafen.
Als er sich nach den Krakeelern umblickte, sah er ein paar von den Neonazis, die im Osten Faschos genannt wurden, wie er schon wusste. Sie jagten gerade zwei junge Punks durch die Straße. Ein Mädchen mit Igelhaarschnitt und einen Jungen mit einem Iro, der wohl erst noch wachsen musste. Kirchenglocken begannen zu läuten. Es war also Mitternacht. Ein Feuerwerk knallte in den Himmel. Josef blieb seufzend stehen, schaute zu den Funken hinauf und fühlte sich fremd. Morgen würde er nach Halle fahren, Florian im Internat besuchen und ihn in den Arm nehmen. Er wollte ihm zu verstehen geben, dass er in der Nähe war, falls etwas sein sollte.
Die Punks, die jetzt in Panik an ihm vorbeirannten, waren vermutlich nicht älter als fünfzehn. Der Polizist in ihm schoss zwei scharfe Fotos, die er in seinem Gedächtnis speicherte. Reine Gewohnheit. Man konnte ja nie wissen.
»Andy, hier lang!«, schrie das Mädchen.
Der Junge stolperte kurz, fing sich wieder und folgte ihr. Die beiden flüchteten Richtung Moritzbastei.
Josef seufzte noch einmal, als er in die Innentasche seiner Jacke griff. Das war bestimmt nicht erlaubt, was er jetzt tat, aber das war ihm in diesem Moment egal. Im Osten herrschte ohnehin gerade eine Art Anarchie, oder nicht?
Er stellte sich den Verfolgern in den Weg.
»Mach Platz da, Alter!«
Josef zog in aller Ruhe seine Waffe und richtete sie auf den Ersten, der eine hübsche frisch frisierte Scheitelfrisur trug. Wie lange der Bub dafür wohl vor dem Spiegel gestanden hatte?
»Polizei! Keinen Schritt weiter!« Josef setzte eine grimmige Miene auf, die er sonst nur benutzte, wenn er bei Verhören nicht weiterkam.
Wie erstarrt blieben die Faschos vor ihm stehen. Die Waffe machte wohl Eindruck. Dass sie nicht geladen war, brauchten sie ja nicht zu wissen.
Eine Feuerwerksrakete pfiff über ihre Köpfe hinweg. Der Junge mit dem Seitenscheitel zuckte nervös zusammen. Mit angespannten Sinnen musterte Josef die Jugendlichen. Auch sie waren noch jung. Fünfzehn bis siebzehn Jahre alt. Unbewaffnet. Sie besaßen noch nicht einmal Baseballschläger. Vermutlich würde sich das bald ändern. Er registrierte ihre Gesichter und speicherte sie ab. Nur den Mann, der offenbar ein Erwachsener war, konnte er nicht erkennen. Er hielt sich im Hintergrund und trug eine Sturmhaube. Sein Gesicht war mit schwarzem Stoff verhüllt.
Die Schritte der flüchtenden Punks verhallten. Die Treibjagd war für heute beendet.
»Geht mal lieber nach Hause, Jungs«, sagte Josef einfach.