27

Das Mädchen mit der Igelfrisur riss Andreas ungestüm mit sich, erst die Straße entlang, dann im rasenden Tempo die Stufen der Moritzbastei hinunter. Andreas musste aufpassen, dass er nicht hinfiel.

»Die hätten uns fast gehabt!« Flora keuchte, lachte nervös und blickte die Mauer der Bastei hinauf. Aber sie wurden nicht mehr verfolgt. Sie betastete ihre aufgestellten Haare, als müsste sie sich vergewissern, dass ihre Stacheln noch richtig vom Kopf abstanden.

»Der Typ mit der schwarzen Lederjacke hat sich denen einfach in den Weg gestellt«, sagte Andreas verwundert. »Hoffentlich kriegt er jetzt keine Dresche.«

»Hat der nicht was von Polizei gerufen?«, fragte Flora. »Dass er von der Polente ist?« Sie zog ihn in das Gebäude zwischen den Studenten hindurch, die alle durcheinanderredeten. Niemand achtete auf sie.

»Weiß nicht. Hab nur die Knallerei gehört.«

»Wäre ja ein Wunder, wenn sich ein Bulle mal für uns einsetzt«, murmelte Flora.

Sie liefen die verwinkelten Kellergänge in der Moritzbastei entlang und verzogen sich in eine Nische des Ziegelgewölbes. Auf einem zerkratzten Holztisch brannte eine Kerze. Andreas ließ sich auf eine Bank fallen und spielte automatisch mit der Flamme und dem warmen Wachs. Flora griff sich eine Bierflasche, die fast noch voll war, trank einen Schluck und reichte sie an Andreas weiter.

»Vielleicht bekommen wir hier irgendwo noch was zu futtern«, sagte sie.

Andreas trank nur einen kleinen Schluck. Bier schmeckte ihm nicht besonders. »Ja, ein bisschen Hunger hab ich jetzt auch.« Er hob den Kopf und schnupperte. »Riecht es nicht nach Bratwurst?«

»Das hat mein Bauch gehört, und jetzt knurrt er.« Flora lächelte ihn an, dann kaute sie auf ihrem Daumennagel herum.

Andreas drückte das Wachs in die Flamme hinein. Die Wärme an seiner Haut, der Geruch der Kerze beruhigten ihn ein wenig. Der Bratwurstduft stieg ihm nun deutlicher in die Nase. Außer ein paar Süßigkeiten, die zur Feier des Tages kostenlos auf dem Markt verteilt worden waren, hatten sie noch nichts gegessen.

»Warte mal Andy, beweg dich nicht vom Fleck. Ich geh auf Beutefang, komm gleich wieder.«

Andreas nickte ihr zu, obwohl ihm mulmig wurde. Er sah die schwarze Gestalt mit der Sturmmütze wieder vor sich, die ihnen inmitten der Faschos hinterhergerannt war. Sah er Gespenster? Oder wurde er tatsächlich verfolgt? Nicht zum ersten Mal bekam er das Gefühl, dass jemand hinter ihm her war. Besonders wenn er allein war, sah er Schatten herumschleichen, hörte komische Geräusche oder Schritte, die ihm nachzugehen schienen. Er erzählte Flora nichts davon. Sie würde ihn für plemplem halten, für überängstlich und paranoid. Und vielleicht war er das ja auch?

In dem Abrisshaus, in dem sie zurzeit wohnten, knarrte ständig eine Diele, rieselte der Putz von der Wand oder quietschte eine Tür. Bei starkem Wind ächzte manchmal das ganze Haus, wie ein alter Mann, der nur noch schwer die Treppe hinaufkam. Die besetzte Wohnung ließ sich nicht abschließen, auch weil sie gar keinen Schlüssel besaßen. Im Grunde konnte jeder zu jeder Zeit hereinspaziert kommen.

Und wenn der Mörder noch auf freiem Fuß war … Andreas schluckte. Natürlich war er das! Suchte die Kripo überhaupt nach ihm? Hatte sein anonymer Brief, den er an die Polizei in Torgau geschickt hatte, irgendwas gebracht? Beschäftigte sich diese Polizistin, die ihn befragt hatte, überhaupt noch mit dem Fall? Und war er in Leipzig sicher?