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Beate Vogt gab sich Mühe, den Neuen nicht anzustarren.

Das war nicht so einfach, weil er ihr bei der Dienstbesprechung direkt gegenübersaß. Da, wo sonst Lehmann gesessen hatte. Nicht, dass sie ihren alten Kollegen vermisste, aber wieso kam einer aus dem Westen zu ihnen?

Statt Kaffee und Kuchen für den Einstand zu spendieren, hatte er einen Stapel Akten mit Gesetzesblättern mitgebracht, ein paar Ratgeber-Broschüren »für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern« und fünf Exemplare des Grundgesetzes. Als ob sie hier hinter dem Mond lebten.

Soweit Beate wusste, trugen Bayern gerne Lederhosen, tranken Bier aus riesigen Gläsern, aßen weiße Würste und gingen in ihrer Freizeit in den Bergen wandern. Und natürlich waren sie Christen und glaubten an Gott, oder? Ihr neuer Kollege trug ein ordentlich gebügeltes blau-weiß gestreiftes Hemd und war, wie es aussah, frisch rasiert. Das passte zu einem Mann, der Josef Almgruber hieß und aus Bayern kam, fand sie. Die schwarze zerkratzte Lederjacke, in der er den Raum betreten hatte, hing wie ein erlegtes wildes Tier über der Stuhllehne. Dieses Kleidungsstück sprach irgendwie eine andere Sprache.

Bei der Vorstellungsrunde hatte er, abgesehen von seinem Alter – er war zweiundvierzig –, nichts Privates über sich gesagt. Er hatte von der Mordkommission in Nürnberg berichtet, von dem letzten Fall, den er mit Kollegen bearbeitet und aufgeklärt hatte: den Mord an einem Obdachlosen.

»Obdachlose gibt es bei uns nicht!«, hatte Arno Berg dazu gesagt, in einem abwehrenden Ton, als wäre das Fachwissen aus dem Westen daher im Osten nicht nötig. Der Neue war darauf nicht eingegangen.

Wenn die Mieten so hoch wurden wie im Westen, würden sie früher oder später vermutlich auch Obdachlose bekommen, dachte Beate. Wohnraummangel gab es ja ohnehin schon lange. Und viele Leipziger lebten in völlig desolaten Häusern. Ungeduldig wartete sie darauf, dass der formale Akt des Begrüßens endlich abgeschlossen war. Als niemand mehr etwas sagte, legte sie den Brief oder genauer gesagt, den Zettel auf den Tisch.

»Ich habe anonyme Post erhalten«, sagte sie lapidar und las die Sätze vor: »Direktor Karl Zinkner hat das bekommen, was er verdient! Er soll in der Hölle schmoren!«

Sie hob den Kopf und betrachtete die Kollegen der MUK, sah von einem zum anderen. Aber kaum jemand begegnete ihrem Blick. »Ich finde, wir sollten den Fall neu aufrollen.«

Einige Gesichter wirkten verschlossen, andere ratlos. Sie waren einfach zu wenige Leute. Lehmann war weg, und drei ältere Kollegen hatten das Angebot angenommen, in den Vorruhestand zu gehen. Gleichzeitig nahmen seit der Währungsunion und Einführung der D-Mark im Sommer die Gewalttaten wie Einbrüche und Raubzüge zu. Dass Banken, Sparkassen und Tankstellen überfallen wurden, war relativ neu in der DDR. Für Ostgeld hatte sich der Aufwand offenbar nicht gelohnt. Auch der Überfall auf einen Geldtransporter, bei dem der Wachmann niedergeschlagen und die Waffe entwendet, der Fahrer angeschossen und schwer verletzt worden war, hatte noch niemand aufgeklärt. Zum Glück war Beate in diesen Fall nicht involviert.

»Was heißt sollten «, sagte sie etwas lauter und leicht gereizt. »Wir müssen die Ermittlungen wieder aufnehmen!«

»So? Müssen wir?« Arno Berg runzelte die Stirn. »Wegen dieser anonymen Schmiererei?«

»Es könnte eine Art Hilferuf sein«, sagte Beate. »Ich vermute, dass der Brief von Andreas Schwalbe ist, dem Jüngsten der aus Torgau entflohenen Jugendlichen. Vielleicht weiß er etwas, was wir noch nicht wissen. Und womöglich befindet er sich deswegen in Gefahr.«

»Das ist ziemlich weit hergeholt«, wehrte Berg ab. »Da hat jemand seinen Frust über den toten Direktor geäußert. Mehr nicht.«

»Der Fall war nicht abgeschlossen, oder haben Sie andere Erkenntnisse? Ähm, ich meinte … du  … hast du andere Informationen?« Sie lächelte, plötzlich verlegen.

Ihr Chef sah sie einen Moment verdutzt an. Konnte er sich an den Nordhäuser Doppelkorn und ihre Verbrüderung nicht mehr erinnern?

»Beate«, sagte er gedehnt. »Beate, Beate.« Allmählich schien ihm einzufallen, dass sich ihr Verhältnis verändert hatte.

»Ja?« Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.

Seine Mimik änderte sich. Er blickte sie nun beinahe freundlich an. »Es haben sich durch dieses Schreiben keine wesentlich neuen Dinge ergeben. Aber ich gebe dir recht: Durch die gegebenen Umstände konnte der Fall in der Tat bisher nicht aufgeklärt werden.«

Beate nickte. »Das dachte ich mir. Die anonyme Post sollte nicht ignoriert werden, meiner Meinung nach.«

»Dann finde heraus, was und wer hinter dem Schreiben steckt. Danach sehen wir weiter. Der neue Kollege wird dich dabei unterstützen. So kannst du ihn gleich in den Fall einarbeiten. In Ordnung?«

Beate nickte verdattert. Seit wann fragte Arno Berg, ob eine Weisung »in Ordnung« sei?

»Und für Sie, Herr Almgruber?«

»Passt schon. Kann ich die Akte zu dem Fall bitte vorher einsehen?«

Arno Berg schwieg einen Moment und starrte auf den Stapel mit den Grundgesetz-Exemplaren. Beate sah ihm sein Unbehagen an. Noch vor Kurzem wäre eine Weitergabe von Schriftstücken der MUK an den Staatsfeind im Westen Spionage gewesen oder Landesverräterische Nachrichtenübermittlung oder auch Agententätigkeit. Laut Strafgesetzbuch der DDR standen darauf hohe Gefängnisstrafen.

»Natürlich«, sagte er dann ein wenig gequält. »Sie sind unser Kollege. Und wenn Sie uns mit Ihrer Erfahrung unterstützen können, freut uns das.«


Einen Tag später, am frühen Morgen, forderte Beate Vogt eine der beiden Wartburg-Limousinen an, die der MUK Leipzig zur Verfügung standen. Doch wie sie erfuhr, war bei einem der Wagen der Keilriemen gerissen, der andere befand sich im Einsatz. Ratlos knallte sie den Telefonhörer auf die Gabel. Und nun? Sollte sie den Kollegen aus dem Westen etwa auf den Rücksitz ihrer MZ setzen?

»Wir nehmen mein Auto«, erklärte Josef Almgruber beiläufig. Er saß im Büro, vor der aufgeschlagenen Fall-Akte und warf ihr einen leicht amüsierten Blick zu. »Und keine Sorge, wir verstoßen nicht gegen irgendwelche Vorschriften. Es ist ein Dienstwagen. Und ich bin befugt, ihn für Einsätze in der Zone zur Verfügung zu stellen.«

Sie lauschte einen Moment in seinen Dialekt hinein, der ihr fast so ungewöhnlich erschien wie eine fremde Sprache und aus einer anderen Welt zu kommen schien. In der Zone ? Was für eine Zone denn? Lebten sie hier im Zoo? Immerhin verstand sie ihn ansonsten ganz gut; sicher, weil er sich Mühe gab, Hochdeutsch zu reden.

»Na, dann los!«, sagte sie schroff. Beate spürte keine Lust, sich bei ihm zu bedanken. »Wir fahren nach Burg bei Magdeburg. Da war Andreas im Jugendwerkhof, bevor er in die Geschlossene Disziplinaranstalt nach Torgau kam.«

»Wieso dann nicht gleich nach Torgau?« Almgruber erhob sich und griff nach seiner Lederjacke. »Liegt das nicht näher?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Der Werkhof in Torgau wurde geschlossen und steht zurzeit leer.«

»Und der andere existiert noch?«

Beate blickte auf den Zettel, auf den sie sich Notizen gemacht hatte. »Ja, ich habe gerade mit einer Erzieherin geredet. Der Jugendwerkhof Burg ist jetzt offiziell ein Landesjugendheim.«


Auf der Fahrt nutzten sie nun also das Dienstfahrzeug von Josef Almgruber, einen Opel Rekord, wie er erklärte. Genauso gut hätte er behaupten können, sein Auto sei das Raumschiff Enterprise. Sie hatte keine Ahnung von den Westwagen. Fuhr man nicht eigentlich Mercedes, wenn man in Westdeutschland was zu sagen hatte? Aber vielleicht hatte er in seiner Heimat weniger zu sagen, als sie glaubte. Und spielte sich hier im Osten als Retter in der Not auf. Und nun musste sie ihm all das erklären, wovon er keine Ahnung hatte? Sah ganz danach aus.

Als Erstes versuchte sie, ihm begreiflich zu machen, was es mit den Jugendwerkhöfen auf sich hatte, und hielt auf dem Beifahrersitz einen kleinen Vortrag über die Jugendhilfe der DDR und ihre Spezialheime.

»Verstehe. Heime für Schwererziehbare, gell? Gibt es bei uns auch. Besserungsanstalten sozusagen.«

»Das wage ich zu bezweifeln, dass sich dort, in so einem Spezialheim, ein Kind oder Jugendlicher tatsächlich gebessert hat. Eher im Gegenteil.«

»Im Gegenteil? Sie meinen, die Kids schlagen danach erst recht über die Stränge und werden kriminell?«

»Ich meine«, sagte Beate langsam und dachte an die Zellen in Torgau, an das vergitterte Gebäude, die meterhohe schimmlig graue Mauer. »Ich meine, niemand hat verdient, in so einen mittelalterlichen Kerker oder gar in eine Dunkelzelle gesperrt zu werden. Niemand! Erst recht nicht diese Jugendlichen, die … die wie der Andreas, den wir jetzt suchen, so …« Sie holte tief Luft und suchte nach Worten. »Die so … so verloren sind. So … alleingelassen wurden. Egal, was sie eventuell mal angestellt haben.« Sie nahm wahr, wie ihre Stimme auf einmal brüchig wurde, und verstummte abrupt.

»Verstehe«, sagte Josef Almgruber. Aber an seinem Tonfall hörte sie, dass er sich über ihren Ausbruch wunderte. »Ich habe gestern Abend und heute früh noch die Akte des Falls durchgesehen«, erklärte er zögernd. »Es kam mir so vor, als würden einige Seiten fehlen.«

»Welche?«

»Zum Beispiel der Bericht aus der Gerichtsmedizin.«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen. »Wenn wir Pech haben, sind die Seiten bereits vernichtet.«

»Hä? Wieso das denn?«

Sie wunderte sich kurz über sein . Das klang unhöflich. Zweifelte er an dem, was sie sagte, oder war das Nürnberger Slang?

»Die Spezialkommission des MfS hatte den Fall an sich gezogen. Vermutlich, weil das Opfer sozusagen ein Angestellter des Ministeriums für Volksbildung war, jedenfalls Margot Honecker direkt unterstellt. Es ist ja bekannt, dass das MfS seit dem Mauerfall Akten vernichtet hat, vermutlich diejenigen, die obenauf lagen, zuerst.«

»Allmächdd! Ich meine: Herrgott! Das kann ja heiter werden. Also fangen wir von vorn an?«

»Nicht ganz. Wir haben ja bereits selbst ermittelt, wie Sie an der Akte sehen können. Die Rechtsmediziner konnten keine klaren Aussagen machen, soweit ich das in Erinnerung habe. Insofern hat uns der Bericht ohnehin nicht weitergebracht.« Beate überlegte, ob sie ihm von den Verletzungen an den Händen des Opfers berichten sollte. Aber so weit waren sie noch nicht. Zuerst mussten sie herausfinden, ob das anonyme Schreiben überhaupt mit dem Fall in Zusammenhang stand. Spinner gab es schließlich genug auf der Welt.


Beinahe im Schritttempo fuhren sie eine schmale Straße der Kleinstadt entlang, die ungefähr fünfundzwanzig Kilometer von Magdeburg entfernt lag. Das ehemalige Gut Lüben und jetzige Jugendheim, das vor Kurzem noch Jugendwerkhof gewesen war, lag in einer ländlichen Gegend. Eine Weile fuhren sie an Feldern und Brachflächen vorbei, ehe sie das Areal von unscheinbaren Häusern erreichten, die zu dem Anwesen gehörten. Beate Vogt sah auf der einen Seite Gebäude mit einem Turm in der Mitte, auf der anderen einen hässlichen grauen Anbau mit vergitterten Fenstern. Offenbar der Zellentrakt des Jugendwerkhofs, in dem auch Andreas mindestens eine Strafe abgesessen hatte, soviel sie wusste. Wurden die Zellen noch genutzt? Sollte sie ihren neuen Kollegen darauf aufmerksam machen?

Aber da bemerkte sie die Frau, die unter einem Torbogen in einem Hauseingang stand und offenbar auf sie wartete.

Josef Almgruber fuhr um die Ecke, parkte den Wagen auf einem Hof, und sie stiegen aus. Die Frau kam ihnen ein Stück entgegen.

Ihre Frisur wirkte, als würde sie einen grauen Helm tragen; auch von ihrem Gesichtsausdruck ging eine Autorität aus, die sogar der Polizistin vermittelte, dass Widerspruch – ganz egal, aus welchem Grund – vollkommen zwecklos war. Mit verkniffenem Lächeln reichte die Erzieherin ihnen die Hand, und Beate fühlte einen unangenehm zupackenden Griff.

»Vogt, Kripo Leipzig«, stellte sie sich vor. »Und mein Kollege, Hauptkommissar Almgruber.«

»Herrmann«, sagte die Frau knapp. Ihr prüfender Blick blieb einen Moment zu lang an Josef Almgruber hängen. »Na, dann folgen Sie mir mal!«

Sie marschierte voraus, und sie tauchten in einen engen Gang, der offenbar zur Verwaltung gehörte. In einem Büro, das extra aufgeräumt wirkte, setzten sie sich an einen eckigen Tisch, auf dem eine Akte lag. Andreas’ Akte.

»Wir suchen ein von Andreas Schwalbe verfasstes Schriftstück«, sagte Beate. »Ganz egal, was es ist. Wir brauchen von dem Jungen eine Schriftprobe.«

Frau Herrmann nickte. »Das sagten Sie bereits am Telefon. Wir haben hier einen zurückgehaltenen Brief von ihm.« Ohne Umschweife reichte sie Beate das Schreiben über den Tisch. »Darf ich fragen, was der Jugendliche angestellt hat?«

Beate warf einen Blick auf den Brief. »Zu einer laufenden Ermittlung dürfen wir uns nicht äußern«, sagte sie. »Das Schriftstück werden wir mitnehmen. Sie bekommen es später zurück.«

Frau Herrmann winkte ab. »Die Akten der Jugendlichen, die noch im Büro stehen, gehen in Kürze sowieso an die Jugendämter. Wir haben keine Verwendung mehr dafür. Sie brauchen sich also nicht bemühen.«

»Wir beschlagnahmen gleich die gesamte Akte, um uns ein besseres Bild zu verschaffen«, sagte Josef Almgruber plötzlich. »Dann ersparen wir Ihnen und uns, dass wir noch mal herkommen müssen. Das verstehen Sie doch?«

»Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

Beate verkniff sich ein Grinsen. Offenbar machten Kleider Leute. Oder auch der Opel Rekord auf dem Parkplatz. Die leichte Arroganz, die Herr Almgruber – vielleicht von Natur aus – verströmte, zeigte ebenfalls Wirkung. Die Erzieherin zuckte nicht mit der Wimper, als er mit der größten Selbstverständlichkeit den Ordner an sich zog und darin zu blättern begann.

»Weshalb ist Andreas Schwalbe hier eingewiesen worden?«, fragte Beate Vogt.

Frau Herrmann streifte sie mit einem verwunderten Blick. »Aus den üblichen Gründen«, sagte sie beinahe gelangweilt. »Mutter überfordert, seinen Vater hat er nie kennengelernt. Zu einer ordentlichen Erziehung war die Mutter nicht in der Lage. Sie arbeitet in Schichten in einem Braunkohlewerk, hat noch mehr Kinder von verschiedenen Vätern. Ich habe mir seine Akte gerade noch einmal angesehen: Aufenthalt im Normalkinderheim. Wiederholte Entweichung. Einweisung ins Spezialkinderheim. Dann, mit vierzehn, Überführung in unseren Jugendwerkhof August Bebel. Anfangs bemühte sich der Jugendliche Schwalbe um Anpassung ans Kollektiv, kam seinen Verpflichtungen nach, erledigte seine Ämter, doch dann – aus heiterem Himmel sozusagen – erneute Flucht. Nachdem ihn unsere Volkspolizei zurückgebracht hatte, kam er in die Zelle. Strafe muss natürlich sein. Im Arrest zündete er seine Decke und die Holzpritsche an. Irgendwie ist es ihm gelungen, eine Schachtel Streichhölzer mit in den Raum zu schmuggeln. Er legte Feuer, beschädigte Volkseigentum und gefährdete sich und andere aufs Gröbste! Zum Glück haben wir den Qualm rechtzeitig bemerkt. Noch am selben Tag stellte der Heimleiter einen Antrag an die Genossen des Volksbildungsministeriums, den Jugendlichen Schwalbe nach Torgau in den Geschlossenen Jugendwerkhof zu überweisen. Dem Antrag wurde stattgegeben.«

Beate nickte – mit irgendwie steifem Hals. Mit anderen Worten: Andreas hatte eben Pech gehabt. Schon sein ganzes Leben lang. Eigentlich von Geburt an. Seine Eltern konnte man sich schließlich nicht aussuchen. Und das System, in das man hineingeboren wurde, auch nicht.

»An wen hat er den Brief geschrieben?«, fragte sie.

»An seine Mutter. Er hat immer wieder an seine Mutter geschrieben. Und sie hat ihm nie geantwortet.«

Beate schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Der arme Junge«, murmelte sie.

»Es gibt keinen Grund, Mitleid mit ihm oder den anderen Jugendlichen zu haben, die in den Werkhof eingewiesen wurden«, sagte die Erzieherin schroff. »Das sind alles keine Unschuldslämmer. Und eine straffe Führung, ein geregelter Tagesablauf und Arbeit haben noch niemandem geschadet! Ganz im Gegenteil: Unsere Erziehung hat vielen Gestrauchelten geholfen, ordentliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden.«

Beate dachte an den Zellentrakt, den sie gesehen hatte. Half das Einsperren den Heiminsassen auch? Oder wohl eher den Erziehern, die ihre Ruhe haben wollten? Aber es hatte keinen Sinn, zu widersprechen und einen Streit anzufangen. »Wissen Sie, wo sich Andreas zurzeit aufhalten könnte?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Unwillkürlich sah Beate zu der altmodischen Frisur hinauf. Kein einziges Haar löste sich.

»Er wurde, wie bereits erwähnt, nach Torgau überwiesen. Nach seinem Aufenthalt dort sollte er zu uns rücküberführt werden. Aber hier tauchte er nicht auf. Und die Kollegen aus Torgau haben sich nicht mehr gemeldet. Indessen mussten die dort ja den Schlüssel abgeben.«

»Sie haben also keine Ahnung, wo …«

»Wissen Sie eigentlich, was bei uns los ist?«, fiel die Frau ihr ins Wort. »Seitdem der Antifaschistische Schutzwall nicht mehr existiert, herrschen Unordnung und Chaos! Glauben Sie, die Jugendlichen lassen sich in unserer Einrichtung noch länger halten? Und da kommen Sie und fragen nach einem einzelnen Jungen?« Frau Herrmann ballte die Fäuste, beugte sich über den Tisch und starrte Beate vorwurfsvoll an. Einen Moment sah die Erzieherin aus, als wollte sie der jungen Polizistin an die Kehle springen.

Beate Vogt hielt dem Blick stand. Sie antwortete nicht.

»Wir verstehen, wie schwer Ihre Lage sein muss«, mischte sich Josef Almgruber in das Gespräch ein. »Danke für Ihre Hilfe. Haben Sie noch ein Foto von Andreas Schwalbe? Leider ist in seiner Akte keines zu finden.«

Die Erzieherin entspannte sich beinahe sofort. »Einen Augenblick, Herr Hauptkommissar. Da muss ich nachsehen.« Beflissen sprang sie auf und trat an den Aktenschrank heran.

Beate wechselte einen verwunderten Blick mit Almgruber. Wieso fraß ihm diese Betonkopffrau aus der Hand?

Fünf Minuten später stiegen sie mit der Akte und einem Gruppenfoto, auf dem Andreas zu sehen war, in den dunkelblauen Opel. Frau Herrmann stand unter dem Torbogen und winkte. Beate wusste natürlich, dass das Winken nicht ihr galt.