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Liebe Mutti,
wie geht es Dir? Mir geht es schlecht. Hast Du meinen letzten Brief bekommen? Hier ist noch keine Antwort eingetroffen. Kannst Du mich mal in Burg besuchen kommen? Ich weiß, Du hast wenig Zeit. Acht Stunden arbeiten am Tag ist viel. Danach bist Du sicherlich sehr müde. Und Du musst Dich ja auch noch um meine kleinen Geschwister kümmern. Aber in diesem JWH versteht mich niemand. Man soll nur funktionieren, alles machen, was die Erzieher sagen. Manchmal habe ich dazu keine Lust. Aber wenn man die Ämter nicht richtig erledigt, mal nicht ordentlich putzt oder wenn man sein Bett nicht richtig baut, wird man bestraft. Manchmal bekommt man auch nur Ärger und wird angemeckert. Wegen solcher Kleinigkeiten habe ich aber auch schon Strafen bekommen. Der Ausgang wurde gestrichen, weniger Taschengeld, Urlaubssperre habe ich sowieso. Keine Ahnung, warum, ehrlich gesagt. Glaube, die wollen nicht, dass ich nach Hause komme. Stattdessen drohen die damit, dass ich in den geschlossenen JWH Torgau komme, wenn ich noch mal abhauen sollte. Da will ich nicht hin. Alle, die von da zurückkommen, sind ausgesprochen komisch, lachen nicht mehr, reden kaum noch, sind ganz andere Menschen. Die sehen sogar anders aus. Richtig gruslig ist das. Was passiert mit mir, wenn die Erzieher mich wirklich dahin schicken? So viel kann ich Dir sagen: So eine Behandlung habe ich nicht verdient. Ich bin doch ein Mensch! Und ich möchte doch nur, dass man mich als Menschen sieht und behandelt. Verstehst Du, was ich meine? Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen.
Viele liebe Grüße – Dein Andreas

Beate Vogt räusperte sich, ließ den Brief sinken, als wäre er ihr auf einmal zu schwer, und holte, ohne jemanden im Raum anzusehen, das anonyme Schreiben aus der Tasche.

Direktor Karl Zinkner hat das bekommen, was er verdient!
Er soll in der Hölle schmoren!

Einen Moment war es still. Ihre beiden Kollegen äußerten sich nicht zu dem Gehörten, sie sahen sie nur abwartend an.

»Die zwei Schriftstücke stammen eindeutig aus derselben Feder«, sagte Beate Vogt schließlich und legte die Briefe sorgfältig nebeneinander. »Aber wo steckt Andreas?«

Und wieso hatte er an sie diese merkwürdigen Zeilen geschrieben? War das ein Hilferuf? An sie persönlich? Sie blickte ihre Kollegen an, ohne eine Antwort auf ihre Frage zu erwarten.

»Wenn wir diesen Jungen finden, können wir vielleicht etwas über den Täter herausfinden. Vielleicht aber auch nicht.« Josef Almgruber zuckte mit den Achseln.

»Wenn es einen Täter gibt«, meinte Berg und schlürfte geräuschvoll aus seiner Tasse.

Sie saßen zu dritt in dem Besprechungsraum und tranken dünnen, lauwarmen Kaffee. Aber irgendetwas lag in der Luft, so kam es Beate vor, irgendein Unmut.

»Davon gehe ich aus«, sagte Almgruber. »Ich habe heute früh mit dem Rechtsmediziner telefoniert, der die Leiche untersucht hat. Er will mit mir persönlich sprechen. Nach seinen Andeutungen zu urteilen, gibt es eindeutige Hinweise auf ein Fremdverschulden, die bisher nicht berücksichtigt wurden.«

Arno Berg blickte den Westkollegen überrascht an. »Soll das heißen, Sie ermitteln schon?«

»Ich ermittle erst einmal nach dem verschwundenen Bericht aus der Gerichtsmedizin. Beziehungsweise nach den tatsächlichen Ergebnissen. Offenbar gab es da im Vorfeld eklatante Versäumnisse!« Der letzte Satz klang beinahe wütend.

»Möchten Sie uns erklären, wie wir zu arbeiten haben?«, fragte Berg und knallte die Tasse auf den Unterteller.

»Keineswegs. Aber wenn ich schon in der Zone bin, will ich auch helfen, den Fall aufzuklären. Falls weiterhin Dinge vertuscht werden sollen, kann ich auch wieder die Koffer packen und heimfahren!«

Beate Vogt schüttelte den Kopf. »Nun machen Sie mal halblang, Herr Kollege. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir zum Spaß hier sitzen. Meinen Sie, wir haben kein Interesse daran, den Fall aufzuklären?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber es ist doch wohl eindeutig, dass die bisherigen Ermittlungen im Sande verlaufen sind. Die Leute, die sich zur fraglichen Zeit in dem Torgauer Kinderheim aufgehalten haben, müssen schnellstmöglich noch einmal befragt und die Alibis geprüft werden.«

»Dazu gehören aber auch die drei geflohenen Jugendlichen!«, sagte Beate Vogt, jetzt langsam gereizt. »Und als Kinderheim kann man dieses Zuchthaus nun wirklich nicht bezeichnen!«

»Selbstverständlich sollten wir die Fahndung nach den Teenagern wieder aufnehmen, und wir müssen möglichst bald den Tatort noch einmal unter die Lupe nehmen und das gesamte Gebäude. Bekommen wir von Ihnen nun grünes Licht, Herr Berg?«

Der Angesprochene holte tief Luft. »Bleibt mir etwas anderes übrig?«

»Ehrlich gesagt nein!«, erwiderte Almgruber. »Es sei denn, Sie möchten einen Skandal riskieren.«

Arno Berg runzelte die Stirn. »Wollen Sie mich etwa erpressen, Herr Kollege?«

»Natürlich nicht! Ich gehöre doch jetzt selbst zum Team. Es könnte uns aber auf die Füße fallen, wenn wir alles so belassen, wie es ist.« Er wühlte nervös in seiner Aktentasche herum und legte das Gruppenfoto, das die Erzieherin, Frau Herrmann, ihnen gegeben hatte, auf den Tisch. »Wer von denen ist nun eigentlich Andreas?«

Beate beugte sich über das Bild und deutete auf einen schmächtigen blassen Jungen, der etwas abseitsstand. »Er hier ist es.«

»Dachte ich mir«, sagte Almgruber.

»Warum?«

»Weil ich ihn schon mal gesehen habe.« Er hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. »Bei dem Einheitsfest in Leipzig. Er rannte zusammen mit einem Punkmädchen vor einer Horde Neonazis davon. Seine Frisur sah allerdings anders aus.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Berg.

»Sonst würde ich es nicht sagen.«

»Neonazis!«, rief Beate erschrocken. »In Leipzig habe ich ihn auch das letzte Mal gesehen. Das war im vorigen Jahr bei einer Montagsdemo. Das deutet darauf hin, dass er in der Stadt geblieben ist.«

»Die beiden sind in die Moritzbastei geflüchtet«, erklärte Josef Almgruber. »Da sollten wir einmal nachfragen, ob jemand sie kennt. Das Mädchen trägt eine ziemlich auffällige Liberty-Spikes-Frisur.«

»Eine was ?«, fragte Berg.

»Das sind sozusagen Stachelhaare, die in alle Richtungen vom Kopf abstehen. Sieht ein bisschen wie ein Igel aus. Oder wie die Krone der Freiheitsstatue.« Almgruber grinste. »Die Freiheitsstatue in New York haben Sie doch sicher schon mal im Fernsehen gesehen, oder?«

»Nee«, sagte Beate grimmig und verschränkte die Arme. »Wir kennen nur Pittiplatsch und Schnatterinchen.«

Irgendwie war sie wohl noch sauer auf ihren Kollegen, wie sie gerade selbst merkte. Er hatte sie nach ihrer gemeinsamen Tour nach Burg auf dem Rückweg einfach unterwegs am Bahnhof von Halle abgesetzt. Mit der vagen Erklärung, er hätte in der Stadt noch privat zu tun. Was zum Teufel hatte jemand, der gerade erst nach Leipzig gezogen und vorher noch nie im Osten gewesen war, wie er ihr erzählt hatte, privat in Halle an der Saale zu suchen?

Wollte er sie loswerden? Jetzt schon?

Arno Berg sah etwas verwirrt von Beate Vogt zu Josef Almgruber. »Mir scheint, Sie werden beide ein gutes Team«, sagte er betont ernst. »Um auf die Frage von vorhin zurückzukommen, Herr Almgruber: Sie werden die Ermittlung in diesem Fall ab sofort übernehmen. Ist das grünes Licht genug?«

»In Ordnung«, sagte der Hauptkommissar und blätterte in den Unterlagen. »Was die drei geflohenen Jugendlichen betrifft, wissen wir nur von dem Mädchen den aktuellen Aufenthaltsort, richtig?«

Beate nickte zögernd. »Von Tanja Wolter. Richtig. Zumindest haben wir die Adresse ihrer Eltern und den Hinweis, dass sie sich bei ihnen aufhält.« Sie wusste nicht, ob sie froh oder enttäuscht sein sollte, dass ihr Chef nicht sie die Ermittlung leiten ließ. Traute er ihr so wenig zu? Andererseits hatte der Neue mehr Erfahrung und wusste, welche Gesetze und Regeln neuerdings auch in diesem Teil Deutschlands galten. Sollte er sich doch die Zähne am Osten ausbeißen. Wenn etwas schiefging, war es immerhin nicht ihre Schuld. Trotzdem ärgerte es sie, dass sie übergangen wurde. Natürlich würde sie sich ihren Unmut nicht anmerken lassen.

»Das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt«, sagte Almgruber. »Dann würde ich vorschlagen, dass wir nach meinem Termin beim Rechtsmediziner gleich aufbrechen und der Familie Wolter einen Besuch abstatten. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Vogt?«

»Was ist mit der Moritzbastei?«, fragte sie.

»Das erledigen wir auf dem Rückweg. Abends ist da ohnehin mehr los.«