»Sie nehmen meine Tochter doch nicht mit, oder?«, fragte Frau Wolter.
Josef Almgruber schüttelte den Kopf. »Das haben wir nicht vor. Wie gesagt: Wir wollen nur ein paar Fragen stellen. Auch an Sie und Ihren Mann.«
»Mein Mann ist noch auf Arbeit.«
»Wo ist er denn beschäftigt?«
»Er arbeitet für eine Baufirma. Heute sind sie in einem Nachbardorf.«
»Gut, dann unterhalten wir beide uns erst mal. Wollen wir uns nicht setzen?«
Sie standen in der Küche und Josef deutete auf einen Küchenstuhl. Tanjas Mutter strich verlegen über die Kittelschürze, die sie trug, und setzte sich zögernd. Sie legte den Kopf schief und sah ihn misstrauisch an. »Worum geht es denn eigentlich?«
»Wir suchen nach Andreas Schwalbe, der wie Ihre Tochter Insasse in der Torgauer Erziehungsanstalt war. Und wir ermitteln im Fall des tot aufgefundenen Direktors Zinkner. Ich nehme an, Ihre Tochter hat Ihnen davon berichtet?«
»Wenig. Nur dass der plötzlich gestorben ist.« Sie sah zu ihm auf, und an ihrer Miene erkannte er, dass sie sich unbehaglich fühlte. »Ich weiß nicht, ob ich ohne meinen Mann mit Ihnen reden sollte.«
»Das können Sie ja immer noch entscheiden, wenn ich Ihnen die Fragen stelle, ob Sie mir antworten, gnädige Frau.« Josef ließ sich ihr gegenüber nieder und lächelte sie so charmant er konnte an.
Frau Wolter betrachtete ihn verblüfft. »Sie sind nicht von hier, oder?«
Josef ruckte mit dem Stuhl hin und her. Der schien ihm nicht besonders stabil zu sein. »Sieht man mir das an?«
»Allerdings. Sie wirken auf mich wie jemand aus dem Otto-Katalog.« Sie lächelte verlegen. »Ich meine, so adrett.«
Josef lachte unwillkürlich auf. »Ich komme aus Westdeutschland, genau genommen aus Nürnberg, und unterstütze als Kommissar die Kollegen der Kripo in Leipzig.«
»Aha. Nürnberg also. Wir hatten mal Lebkuchen aus Nürnberg im Westpaket. Die waren wirklich lecker. Kommissare kenne ich bisher nur aus dem Tatort. Tja, die Zeiten ändern sich. Was wollen Sie denn von mir wissen?« Ihr Misstrauen mischte sich jetzt mit einer Spur Neugier.
»Sie waren zusammen mit Ihrem Mann am 9. November letzten Jahres in Torgau, um Ihre Tochter in diesem Erziehungsheim zu besuchen, richtig?«
»Ja, das stimmt. Das Datum kann man sich ja leicht merken.«
»Da haben Sie vollkommen recht, Frau Wolter.« Er machte eine Geste, als würde er sie für besonders clever halten. »Mich würde interessieren, wie das Gespräch verlief. Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen? Auch am Verhalten des Direktors Herrn Zinkner?«
Frau Wolter zuckte mit den Achseln. »Ich kannte ihn ja kaum. Er saß die meiste Zeit einfach nur dabei. Also an dem Tisch. Ab und zu hat er etwas gesagt. Dass er sich gut um unsere Tochter kümmern wird – so was in der Art. Offiziell sollte das ja ein Heim sein. Aber wir waren da in einem Gefängnis . Meine Tochter war eine Gefangene! Und sie hat nichts getan! Sie war dort völlig fehl am Platz!«
Ein nervöses Zucken lief über ihr Gesicht, und sie strich sich fahrig über die Wange. Dann fingerte sie an der kleinen vollgekrümelten Decke herum, die schief auf dem Tisch lag, tippte mit dem Finger auf die Brotkrümel und zerquetschte sie. »Tanja hatte dort nichts zu suchen. Aber er wollte sie einfach nicht gehen lassen, dieser Direktor. Er hat sich benommen, als wäre unsere Tochter sein persönlicher Besitz.«
»Wie meinen Sie das?«
»Als könnte er ganz allein über sie bestimmen und nicht wir, ihre Eltern.« Sie sah ihn eindringlich, beinahe Hilfe suchend an. »Das ist doch nicht normal, oder? Er hatte sie schon so weit … so weit im Griff, dass sie nicht mehr nach Hause wollte.«
»Können Sie sich das erklären?«
Frau Wolter schüttelte energisch den Kopf. »Wir durften damals ja nicht allein mit ihr sprechen. Der Direktor war immer anwesend. Es wurden in der Zeit ihres Aufenthaltes auch nur drei Besuche genehmigt. Vorher mussten wir einen schriftlichen Antrag stellen, damit wir unsere Tochter überhaupt besuchen dürfen. Und meist wurde der Antrag ohne Begründung abgelehnt. Deshalb waren wir froh, dass wir sie überhaupt sehen konnten.«
»Und haben Sie später einmal bei Ihrer Tochter nachgefragt, wie das Verhältnis zu Karl Zinkner war?«
»Sie redet nicht über die Zeit in Torgau. Und wir wollen sie nicht drängen, wissen Sie? Es geht ihr wirklich nicht besonders gut. Sie muss erst mal wieder Fuß fassen.«
»Vielleicht wäre eine Therapie hilfreich«, sagte Josef vorsichtig.
»Sie meinen, sie muss in die Klapsmühle?« Ihre Augen funkelten plötzlich wütend. »Das kommt für uns nicht infrage, dass wir sie noch mal hergeben!«
»Nein, das meine ich natürlich nicht. Ich meinte eine ganz normale Psychotherapie, zu der sie ein-, zweimal die Woche hingehen kann, um mit jemandem zu reden.«
»Sie will nicht reden, Herr Kommissar.«
»Verstehe.«
»Wirklich?« Sie erhob sich, als wollte sie das Gespräch abrupt beenden.
»Verzeihung. Ich bin neu in der Zo… in der ehemaligen DDR und kenne mich mit den hiesigen Gegebenheiten noch nicht so aus«, gab Almgruber zu. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich in Ihrer Situation versuchen oder Ihrer Tochter raten würde. Oft schafft man es nicht allein, aus einer psychischen Krise herauszufinden. Ich spreche aus eigener Erfahrung.«
Warum erzählte er ihr das? Er betrachtete die Krümel auf dem Tisch und spürte plötzlich ebenfalls Lust, sie zu zerdrücken.
»Möchten Sie einen Fencheltee?«, fragte Frau Wolter. »Ich habe was mit dem Magen, deshalb trinken wir zurzeit keinen Kaffee.«
»Gern«, antwortete er. Zuletzt hatte er, soweit er sich erinnern konnte, Fencheltee getrunken, als er als kleines Kind krank im Bett gelegen hatte.
»Was haben Sie nach dem Gespräch in Torgau gemacht?«, fragte er.
Frau Wolter drehte ihm den Rücken zu, erhitzte Wasser mit einem altertümlichen Tauchsieder und holte Tassen aus dem Schrank.
»Wir sind nach Hause gefahren, glaube ich. Ach nein, wir waren essen in einem Restaurant. Wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen und waren hungrig. Wir haben Schnitzel mit Spiegelei und Bratkartoffeln gegessen, falls Sie das interessiert. Dann sind wir zu unserem Trabi. Der parkte in der Nähe des Werkhofs. Mein Mann ist dann noch einmal zu dem hässlichen Haus gegangen und wollte den Direktor sprechen.«
»Warum?«
»Weil … Er wollte unsere Tochter da rausholen und mitnehmen. Er hatte vielleicht auch einfach ein Bier und einen Schnaps zu viel getrunken in der Gaststätte.«
»Weshalb sind Sie nicht mit ihm mitgegangen?«
»Ich wollte nicht. Es erschien mir nicht aussichtsreich, was er vorhatte.« Sie seufzte und hob die Arme.
Josef nickte verständnisvoll. »Was passierte dann?«
»Nichts. Sie haben ihn nicht reingelassen.«
»Wissen Sie, wie spät es war?«
»Nicht genau. Es war jedenfalls schon dunkel. Ich bin im Trabi eingeschlafen, und als er zurückkam, hat er mich geweckt, und wir sind losgefahren.«
»Also hat es länger gedauert, ehe er zu Ihrem Auto zurückkehrte?«
»Das weiß ich nicht. Ich war müde … erschöpft davon, Tanja zu sehen und sie nicht mal in den Arm nehmen zu dürfen. Sie sah so elend aus. Diese merkwürdige Frisur … sie sah bleich und dünn aus … und ihr Blick … So fremd, so weit entfernt, ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Wenn man sein eigenes Kind leiden sieht, leidet man mit, verstehen Sie?«
»Ja, natürlich.«
»Nach dem Essen fiel die Anspannung etwas von mir ab. Vermutlich bin ich in unserem Trabi irgendwann eingenickt, als ich da auf meinen Mann wartete.«
»Ist Ihnen in der Zeit des Wartens etwas aufgefallen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, es waren viele Menschen unterwegs. Die Demo in Torgau, wissen Sie?«
»Nein, welche Demo?«
»Na, für Freiheit, Demokratie, freie Wahlen und so weiter. Leute mit Plakaten rannten herum. Genauer gesagt mit an Besenstielen befestigten Bettlaken, auf denen etwas geschrieben stand.«
Das Wasser im Tauchsieder blubberte. Frau Wolter klapperte mit den Tassen herum, und einen Moment später breitete sich der Duft nach Fenchel in der Küche aus.
»Wie hat sich Ihr Mann auf der Rückfahrt verhalten?«
»Ach Gott. Ganz normal. Wir haben kaum geredet. Ich musste mich ja auch aufs Fahren konzentrieren. Und das im Dunkeln. Eigentlich bin ich nachtblind, wissen Sie?«
»Hat er denn gar nichts erzählt über seinen Versuch, Ihre Tochter aus dem Erziehungsheim zu holen?«
»Er hat nur gesagt, dass der Direktor für ihn nicht mehr zu sprechen war und dass er abgewiesen wurde.«
»Abgewiesen? Von wem?«, hakte er nach.
»Von einem Wachmann, glaube ich.«
»War Ihr Mann wütend? Enttäuscht?«
»Natürlich, was denken Sie denn? Aber nicht zorniger als sonst.«
»Würden Sie ihn als zornigen Menschen beschreiben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wie würde es Ihnen gehen, wenn man Ihnen Ihr Kind wegnimmt? Falls Sie eins haben, meine ich.« Sie sah ihn fragend an.
»Ja, ich habe einen Sohn. Ich glaube, ich wäre … sehr … sehr wütend.«
Automatisch dachte er an Florian, obwohl er in diesem Moment nicht an ihn denken wollte. Oder jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang. Sein Sohn hinter Gittern? Unvorstellbar.
»Na, sehen Sie!«
Frau Wolter servierte außer dem Fencheltee eine Packung Zwieback.
Josef starrte auf die Aufschrift: VEB Burger Knäcke-Werke , las er. Hatte seine Kollegin Beate Vogt ihm nicht erzählt, dass die Zöglinge aus Burg dort arbeiten mussten?
»Wieso kam ihre Tochter eigentlich in den Jugendhof?«
»Jugendwerk hof. Genau wissen wir das nicht. Die haben ja nie was begründet. Die Jugendhilfe hatte unsere Tochter auf dem Kieker. Wir vermuten, weil sie ab und zu mal die Schule schwänzte und sich rumgetrieben hat. Pubertäres Verhalten eben. Sie hatte einen Freund, der etwas älter war als sie und einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Da wurde die Volkspolizei auf sie aufmerksam, vielleicht auch die Stasi, die Lehrer sowieso und schließlich die Jugendhilfe. Die kamen dann mal her und redeten dummes Zeug, dass wir nicht in der Lage wären, unsere Tochter ordentlich zu erziehen. Also die meinten im Sinne des Sozialismus, und da ist mein Mann etwas ausgerastet. Nur mit Worten allerdings, aber das hat wohl gereicht. Danach haben sie Tanja eines Tages aus der Schule abgeholt, in einen Wagen gesetzt und in ein Durchgangsheim gebracht. Von dort kam sie in den Jugendwerkhof.«
Josef trank einen Schluck aus der Tasse, die sie ihm hingestellt hatte, und das Fenchelaroma schien ihn zu durchströmen.
»Wow! Der Tee! Einfach fantastisch!«, sagte er ehrlich begeistert.
Frau Wolter verzog ihre Mundwinkel, aber es sah nicht nach einem Lächeln aus. Sie blickte ihn irritiert an. »Können Sie mir überhaupt folgen?«, fragte sie direkt. »Ich meine, wenn Sie aus dem Westen sind, haben Sie ja noch nie mit solchen Dingen zu tun gehabt, oder?«
»Ich denke schon, dass ich Ihnen folgen kann. Erzählen Sie bitte weiter.«
Sie schob ihm einen kleinen Teller zu, auf dem ein einzelner Zwieback lag.
»Sie ist ein paarmal weggelaufen aus dem ersten Werkhof, in den man sie gebracht hatte; manchmal, um nach Hause zu kommen, manchmal, um sich mit ihrem Freund zu treffen. Da haben sie Tanja schließlich nach Torgau verfrachtet. In dieses Umerziehungsgefängnis. Wir haben das erst ein paar Wochen nach ihrer Einweisung erfahren, dass sie dort ist.«
»Und ihr Freund?«
»Der ist noch vor dem Mauerfall in den Westen gezogen.«
»Er hat sie im Stich gelassen?«
Frau Wolter zuckte mit den Schultern. »Sein Ausreiseantrag wurde eines Tages genehmigt. Das bedeutete: Er wurde aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen und musste innerhalb weniger Stunden das Land verlassen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Das ist … nicht schön«, sagte Josef betroffen.
Sie seufzte. »Sie wissen doch, wie das ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wahrscheinlich hat er längst eine andere.«
»Zu wem hatte Ihre Tochter denn Kontakt, seit sie wieder zu Hause ist?«
Frau Wolter blickte ihn erstaunt an. »Wieso wollen Sie das wissen?«
»Sie ist zusammen mit zwei weiteren Zöglingen aus dem Torgauer Fürsorgeheim geflohen, und von den anderen beiden wissen wir aktuell nicht, wo sie sich aufhalten.«
»Zöglinge! Fürsorgeheim! Was für Worte sind das denn?« Sie schnaubte verächtlich. »Da gab es keine Fürsorge . Vielleicht sollten Sie einmal ermitteln, was in diesem schrecklichen Haus so alles passiert ist, Herr Kommissar! Da kommen Sie vielleicht auch drauf, was mit dem Direktor geschehen ist und warum!«
Er nickte ihr zu. »Womöglich haben Sie recht.«
»Sie hatte zu niemandem Kontakt«, antwortete sie schließlich noch auf seine Frage. »Nur zu uns, ihren Eltern.«
Josef schlürfte den letzten Schluck aus der Tasse, als wäre es ein edler Tropfen Wein, knabberte höflich an dem Zwieback, der ihm ziemlich hart erschien, und bedankte sich bei Frau Wolter.
»Ist jetzt für uns alles geklärt?«, fragte sie unsicher. »Ich meine, für mich und meine Familie?«
Sie klang beunruhigt, aber nicht so sehr, dass es auffällig wäre.
»Wir müssen noch mit Ihrem Mann sprechen.«