Beate saß auf dem Beifahrersitz des Opels neben ihrem Kollegen und starrte durch die Windschutzscheibe. Sie fuhren in gemächlichem Tempo auf einer Landstraße und versuchten, den größten Schlaglöchern auszuweichen. Es hatte angefangen zu regnen, die Scheibenwischer zogen in einem regelmäßigen Rhythmus hin und her.
Beate blickte durch die Regenwand hindurch auf die Straße, ohne sie jedoch wahrzunehmen. Seit sie in das Auto gestiegen war, hatte sie kein Wort gesprochen.
»Sie sehen etwas blass aus. Was haben Sie erfahren?«, fragte Josef Almgruber schließlich.
»Einiges«, antwortete sie. »Der Direktor hatte offenbar ein sehr spezielles Verhältnis zu einigen der Jugendlichen.« Sie holte tief Luft. »Tanja hat er sogar mit in den Urlaub genommen.«
»Das klingt doch erst mal …« Er stoppte mitten im Satz. »Oha, hm, sehr merkwürdig«, sagte er schließlich.
»Der Direktor war mit ihr in verschiedenen Pensionen im Thüringer Wald, im Harz und im Erzgebirge. Tagsüber ist er mit ihr wandern gegangen, abends waren sie in Gaststätten gut essen, und nachts hat er sie in der Unterkunft missbraucht.«
Almgruber stieß einen Fluch aus, der in Beates Ohren klang wie »Hundsverregg 2 !«, und versetzte dem Lenkrad einen wütenden Schlag. »Furchtbar! Wie muss sie ihn hassen!«
Sie schwieg einen Moment. »Ja und nein, auch wenn es schwerfällt, das zu glauben: Sie verachtet ihn, und sie bemitleidet ihn«, sagte sie und schüttelte sich, als wäre ihr auf einmal kalt. »Es ist kaum zu fassen, dass sie noch nach Erklärungen sucht für sein erbärmliches Verhalten. Sie denkt, er ist einsam gewesen. Angeblich sei er oft fürsorglich mit ihr umgegangen in diesem Urlaub und habe es nicht böse gemeint. Und die Wanderungen durch die Natur seien ja auch schön gewesen.« Beate seufzte gequält und hob ratlos die Hände.
»Meint sie das ernst? Oder ist das eine Schutzbehauptung?«
»Sie ist völlig neben der Spur! Schon mal was vom Stockholm-Syndrom gehört?«, fragte Beate in schroffem Tonfall.
Josef stieß ein Geräusch aus, das wie pfff klang. »Eine Überlebensstrategie von Geiseln. Klar weiß ich, was das ist. Aber ich hätte nicht gedacht, dass meine geschätzte Kollegin das auch weiß.«
»Sie meinen, weil ich aus der Zone komme, wie Sie das bezeichnen?«
Josef Almgruber lachte verblüfft. »Wieso kennt ihr im Osten das Stockholm-Syndrom, wenn ihr nicht mal Stockholm kennt?«
Dann fuhr er plötzlich von der Straße ab, bog in einen Feldweg ein und wendete den Wagen. »Wir fahren zu dieser Baustelle, auf der Tanjas Vater arbeitet, und sprechen gleich mit ihm.«
»Warum das?«
»Er hat ein Motiv, war am fraglichen Tag am Tatort, und er hat kein Alibi.«
Beate Vogt sah ihn verwundert an.
»Seine Frau erzählte mir gerade, dass ihr Mann am 9. November noch einmal zu diesem Torgauer Jugendarrestheim gegangen ist, um sich den Direktor – ohne dass seine Gattin danebensteht – vorzuknöpfen und seine Tochter dort rauszuholen. Seine Abwesenheit hat immerhin so lange gedauert, dass Frau Wolter in ihrem Trabant eingeschlafen ist. Was ist, wenn er von dem Missbrauch etwas wusste? Oder zumindest ahnte? Zinkner, der Missbraucher, verweigert ihm die Herausgabe seiner Tochter. Da würde jeder Vater durchdrehen!«
»Tanja hat mir aber erzählt, dass sie bisher mit niemandem über die sexuellen Übergriffe geredet hat«, wandte Beate ein.
»Nicht mal mit ihrer Mutter?«
»Nein. Ich bin die Erste, der sie das erzählt hat.«
»Und Sie sind sich sicher, dass sie die Wahrheit sagt?«
Beate dachte an den verstörten Gesichtsausdruck des Mädchens. »Ja, ich bin mir sicher. Es ist ihr alles andere als leichtgefallen.«
»Sie denken, sie ist traumatisiert?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Beate. »Ob sie durch ihre Erlebnisse einen Dachschaden hat? Selbst wenn: Was spielt das für eine Rolle? Ihre Eltern wissen nichts von dem Missbrauch.«
»Wir müssen ihren Vater trotzdem befragen. Möglicherweise hat sich der Direktor bei Tanjas Gespräch mit den Eltern, bei dem Zinkner ja die ganze Zeit anwesend war, durch irgendetwas verraten. Durch eine Geste. Eine Formulierung.«
»Genügt das, um jemanden umzubringen?«
»Zumindest müssen wir das in Betracht ziehen. Und noch etwas: Herr Wolter ist Bauarbeiter. Er verfügt über genug körperliche Kraft, und er kennt sich sicherlich auch mit Gerüsten aus.«
»Haben Sie die Adresse der Baustelle?«
»Ich habe den Namen des Dorfes. Es liegt nur fünf Kilometer von hier, und vermutlich gibt es dort nicht viele Häuser.«
Beate starrte vor sich hin und dachte an das Gespräch mit Tanja. Sie hatte auch eine Wohnung in Torgau erwähnt, in der sie sich ein paar Tage mit Andreas versteckt gehalten hatte. Offenbar eine Zweitwohnung des Direktors, von der niemand etwas wusste, niemand außer Tanja. Zinkner wurde ihr immer suspekter. Er musste irgendeinen merkwürdigen Plan verfolgt haben.
Nachdenklich blickte sie durch die Windschutzscheibe. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Asphalt war teilweise überflutet. Sie fuhren durch eine Pfütze, die fast die ganze Breite der Straße einnahm. Schmutziges Wasser schwappte zu beiden Seiten. Erst nach einer Weile fiel ihr auf, dass sich der Scheibenwischer immer noch hin und her bewegte. Ihr neuer Kollege schien ebenfalls in Grübelei versunken.
Herr Wolter war ein untersetzter kräftiger Mann mit Vollbart und rotem, verschwitztem Gesicht. Er kam mit einem Hammer in der Hand und Nägeln im Mund die Leiter, die an dem halb fertiggebauten Haus lehnte, hinunter und stellte sich mit verschränkten Armen vor die Besucher.
»Sind Sie Herbert Wolter? Wir sind von der Kriminalpolizei und möchten Sie sprechen«, erklärte Almgruber knapp und zückte seinen Dienstausweis.
Der Chef der Baustelle, der seinen Kollegen gerufen hatte, verabschiedete sich mit einem beiläufigen Nicken von den Polizisten.
Der Angesprochene nahm seinen Helm ab, beugte sich ein wenig zur Seite und spuckte die Nägel aus. Sie klimperten, als sie auf die Betonplatten fielen, die vor seinen Füßen lagen. »Ist was mit meiner Tochter?«, fragte er.
»Nein, keine Sorge«, antwortete Beate. »Wir möchten nur mit Ihnen reden. Es geht um Ihren Besuch in Torgau am 9. November letzten Jahres.«
In seiner Mimik zeigten sich jetzt deutlich Abwehr und Missmut. »Dazu habe ich nichts zu sagen.« Er sammelte die Nägel wieder ein, steckte sie in die Tasche seiner Arbeitsjacke und wandte sich von ihnen ab.
»Moment bitte!«, forderte Beate. »Ein paar Minuten werden Sie doch für uns haben, oder?«
»Ich hab noch zu tun!«, antwortete er, steckte sich eine Zigarette an, setzte seinen Helm wieder auf und ging auf die Leiter zu.
»Stopp, Herr Wolter!«, rief Josef Almgruber und lief ihm nach. »Sie müssen schon mit uns reden, ansonsten können wir Sie auch nach Leipzig mitnehmen und im Polizeipräsidium vernehmen, wenn Ihnen das lieber ist.« Der Kommissar stellte sich ihm in den Weg, und einen Moment standen sie sich gegenüber und maßen sich mit Blicken.
Beate ging ihrem Kollegen hinterher und gesellte sich zu ihm. »Seien Sie bitte vernünftig, Herr Wolter. Ihre Frau und Ihre Tochter waren es auch.«
Statt zu antworten, nahm Herr Wolter einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies ihnen den Rauch ins Gesicht.
»Wir können es kurz machen«, sagte Almgruber, der den Qualm ungeduldig mit der Hand wegwedelte. »Es geht um Ihren zweiten Versuch, an jenem bewussten Tag mit dem Direktor zu sprechen. Ihre Frau sagte aus, Sie seien noch einmal zu dem Jugendhof, ähm, Jugendwerkhof gegangen. Was passierte dort?«
Herr Wolter stieß einen verächtlichen Laut aus. »Nichts. Absolut gar nichts. Ich hab ein paarmal geklingelt. Erst kam keiner. Nach einer Weile erschien ein Wachmann, guckte blöd, fragte, was ich will. Ich sagte, dass ich den Direktor noch einmal sprechen muss, und zwar sofort. Er antwortete, das ginge nicht, knallte mir die Tür vor der Nase zu, und das war’s.«
»Sie haben also Karl Zinkner nicht noch einmal gesehen?«, fragte Beate.
»Nein.«
»Ihre Frau hat gemeint, Sie wären womöglich eine ganze Weile weg gewesen«, warf Almgruber ein.
»Die hat gepennt im Trabi, als ich wiederkam.«
»Der Direktor selbst hat sich also nicht noch einmal blicken lassen?«, hakte Beate nach. »Und der Wächter hat nicht begründet, weshalb Sie …«
»Nein!« , fiel Wolter ihr ins Wort. »Es hat sich so abgespielt, wie ich gesagt habe. Und noch etwas: Wieso kommt ihr erst jetzt? Warum habt ihr Genossen der Volkspolizei nicht vorher mal geschaut, was in dieser Einrichtung so abgeht? Aber eine Krähe hackt der anderen ja bekanntlich kein Auge aus, nicht wahr?« Er atmete heftig, sein Gesicht färbte sich rot vor Zorn, und an seinen Schläfen traten die Adern hervor.
Beate drängte es, ihm zu widersprechen, aber das kam ihr in dieser Situation wenig sinnvoll vor. Und dann machte Herr Wolter plötzlich einen Satz zur Seite und rannte davon. Er lief nicht nur vor ihnen davon, wie ihr klar wurde, er lief vor sich selbst davon, vor der Wut, die in ihm brodelte und die jederzeit ausbrechen konnte wie Lava aus einem Vulkan.
Beate blickte ihm nach. Er sprang über einen Graben, über Baustellenschutt und aufgewühlte Erde. Wie ein gejagtes Tier oder ein bockiges Kind rannte er davon und drehte sich nicht mehr nach ihnen um. Sie sah nur seinen Rücken, aber sie war sich fast sicher, dass er weinte.
»Ist das jetzt ein Schuldeingeständnis?«, fragte Almgruber ratlos.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil er da gerade wegläuft, wenn mich meine Augen nicht täuschen.«
»Ich denke, nicht«, sagte Beate. »Ich denke, er ist nur zutiefst … ich weiß auch nicht.« Verletzt, dachte sie. Vielleicht verzweifelt. Aber sie hätte dieses Gefühl, ihr Empfinden nicht begründen können. »Na egal. Ich glaube, er hat uns keineswegs beschwindelt.«
Almgruber sah wenig überzeugt aus. Er blickte dem Fliehenden unschlüssig nach, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen.
Wozu auch, dachte Beate. Sie wussten, wo er wohnte.
»Rache ist ein starkes Motiv«, brummte Almgruber.
»Aber nicht das einzige«, entgegnete sie.