Am Abend betraten sie die Moritzbastei in Leipzig, aber es schien nicht viel los zu sein.
Beate musterte die Besucher, die sich im Eingangsbereich aufhielten. Sie rauchten, tranken, sprachen durcheinander, und die meisten sahen aus wie Studenten. Ein Punk war weit und breit nicht zu sehen.
Aber das musste nichts bedeuten. Es gab so einige Räume hier, mit Nischen, die nicht gleich einsehbar und schlecht beleuchtet waren. Jeden Winkel in diesem Gewölbebau zu durchsuchen würde Zeit in Anspruch nehmen.
»Sollen wir uns aufteilen?«, fragte sie ihren Kollegen. Josef Almgruber sah müde aus. Es schien, als hätte ihn der Abschied von seinem Sohn, den sie noch in das Internat gebracht hatten, die restliche Kraft für diesen Tag gekostet.
»Reden wir doch erst mal mit dem Barkeeper«, sagte er und deutete auf einen jungen Mann mit Glatze, der hinter dem Tresen stand und Gläser spülte. »Die wissen doch immer am meisten von der Kundschaft.«
Als sie ihn ansprachen, reagierte er erst nicht. Weder auf das Wort Kriminalpolizei noch auf die gezückten Ausweise. Beate fragte sich, ob er vielleicht auch taub war, so wie Florian.
»Wir suchen zwei Jugendliche, die sich hier möglicherweise aufgehalten haben«, erklärte sie ihm geduldig.
Der Barkeeper griff nach dem nächsten Glas. Sein rechter Mundwinkel verzog sich. Immerhin. Er hörte sie also doch. »Wissen Sie, wie viele Jugendliche sich hier so täglich tummeln?«, fragte er.
»Es wäre schön, wenn Sie die Angelegenheit etwas ernster nehmen würden«, sagte Almgruber. »Wir suchen nach einer jungen Punkerin mit Igelfrisur und einem Jungen namens Andreas, der die Haare vermutlich etwas hochgestylt trägt.«
Der Barkeeper grinste. »Bestellen Sie auch was? Ansonsten sag ich gar nichts.«
Beate sah, wie ihr Kollege verärgert die Stirn runzelte. »Ich nehme ein Glas Wein«, sagte sie schnell.
Almgruber warf ihr einen verwunderten Blick von der Seite zu. Sie war noch im Dienst, klar, aber der Tag war lang genug gewesen, und sie brauchte etwas zur Entspannung. »Nur ein kleines Glas, keinen Schoppen«, fügte sie bescheiden hinzu.
»Na also, warum nicht gleich so. Wie wär’s: Wir haben auch schöne bunte Cocktails«, sagte der Barmann.
Beate schüttelte den Kopf. »Nur ein Gläschen Rotwein, danke.«
Der Mann hinter dem Tresen machte sich nicht die Mühe, sie zu fragen, welche Sorte sie wollte. Wahrscheinlich gab es nur die eine. »Und der Herr?«
»Nichts. Oder doch. Ein Bier.«
»Aber nicht aus einer grünen Flasche, richtig?«
Almgruber blickte ihn irritiert an. »Hä? Einfach a Seidla Bier vom Fass.«
»Der gewöhnliche DDR-Bürger trinkt sein Bier bevorzugt aus braunen Flaschen«, klärte Beate ihn auf. »Die lassen angeblich kein Licht durch, die grünen schon. Weshalb sie oft schlecht werden oder jedenfalls ziemlich komisch schmecken und im Konsum meist übrig bleiben.«
Almgruber starrte sie an, als hätte sie ihm gerade erzählt, sie hätte auf dem Klo Marsmännchen getroffen.
Aber auch der junge Mann hinter dem Tresen wirkte verwundert. »Ein was wollen Sie? Ein Seidler?«, fragte er und wischte sich seine Hände an einem Geschirrtuch trocken. »Was soll das denn sein? Noch nie gehört. Oder ist das irgend so ein Slang? Habt ihr neuerdings Wessis bei der Kripo?«
»A Seidla, das bedeutet: einen halben Liter«, klärte Almgruber ihn auf. »Und ich bin aus Nürnberg, also ein Franke.«
»Alles klar, Herr Kommissar. Und wieso sucht ihr nach diesen Punks?«
»Dürfen wir nicht sagen. Aber angestellt haben sie nichts«, erklärte Beate. »Wir suchen sie eben einfach.«
»Hm. Verstehe. An so ein Mädchen mit recht auffälligen Stacheln erinnere ich mich. Die tauchte hier ab und zu auf. In unterschiedlicher Begleitung, würde ich sagen. Ob da nun einer Andreas hieß …« Er zuckte mit den Schultern.
Beate hob den Kopf und taxierte ihn. »Sicher? Wissen Sie ihren Namen? Oder wo sie wohnt?«
Der Barmann schob die gefüllten Gläser über den Tresen. Almgruber prostete Beate zu und trank. Es sah aus, als hätte er Durst. Vielleicht stimmte es ja, dass in Bayern Bier ein Grundnahrungsmittel war.
»Sorry, aber ihr müsst schon mal andeuten, worum es geht. Ich haue keinen gern in die Pfanne, kapiert? Die Zeiten sind nämlich vorbei, und zwar ein für alle Mal.«
»Klare Ansage«, meinte Beate, die sich nach ihrem Feierabend sehnte und keine Lust auf unsinnige Diskussionen verspürte. »Details darf ich nicht nennen. Aber wir ermitteln tatsächlich in einem Mordfall. Dieser besagte Andreas könnte ein Zeuge sein. Und leider ist er spurlos verschwunden.« Wahrscheinlich erzählte sie ihm mehr, als sie durfte, aber so langsam verlor sie die Geduld.
»Wow!« Der Barmann hob die Augenbrauen. »Ein echter Kriminalfall also.« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. »Wenn das so ist. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Ich habe mich vor Kurzem tatsächlich mal mit so einem Mädchen unterhalten. Sie suchte einen Jungen. Vermutlich nannte sie sogar den Namen Andreas. Das weiß ich nicht mehr so genau. Sie hat mir einen Zettel mit einer Adresse hinterlassen.«
»Wunderbar«, sagte Beate und trank ihr Glas in einem Zug leer.
Die Adresse, die der Barkeeper ihnen gegeben hatte, befand sich nicht weit entfernt. Beate Vogt kannte die Straße. Sie ließen den Opel stehen und gingen zu Fuß – quer durch die Innenstadt. Der Altbau in einer Seitenstraße, vor dem sie schließlich standen, war verfallen und offenbar weitestgehend verlassen. Kaum zu glauben, dass in dieser Ruine überhaupt noch ein Mensch hauste.
Soweit zu erkennen war, brannte im Vorderhaus nur ein einziges Licht.
»Dann schauen wir mal«, sagte Beate leise.
Die Haustür war nicht abgeschlossen; sie schoben sie auf und standen in einem dunklen Korridor, der scharf nach Katzenurin roch. Das Flurlicht funktionierte nicht, zumindest nicht im Eingangsbereich, und Beate schaltete ihre Taschenlampe an. Der Lichtkegel fiel auf ein Namensschild: M. Müller. Darunter hing eine lackierte Scheibe Holz mit der eingebrannten Aufschrift Haxen abkratzen .
Josef Almgruber drückte auf den Klingelknopf.
Es blieb still.
»Falsche Wohnung?«
Beate schüttelte den Kopf und klopfte – erst leise, dann, als sich nichts rührte, etwas lauter.
»Wer ist da?«, knurrte eine raue Stimme hinter der Tür. »Willi, bist du’s?«
Beate signalisierte ihrem Kollegen, dass sie antworten wollte. Er nickte ihr zu.
»Frau Müller? Können wir bitte kurz mit Ihnen sprechen? Wir sind von der Polizei.«
Die Angesprochene antwortete nicht. Beate Vogt klopfte noch einmal. »Machen Sie bitte auf, es dauert nicht lange.«
»Moment! Ich habe schon im Bett gelegen.« Ein Raucherhusten erklang, und Frau Müller japste eine Weile nach Luft.
»Wir wollen Sie wirklich nicht groß stören. Es geht nur um eine Information«, sagte Almgruber.
Durch den Türspalt schaute nun ein runzliges Gesicht. »Sind Sie wirklich von der Polizei? Sie haben ja gar keine Uniform an.« Ihre Stimme klang irgendwie beleidigt, als würden sie bei ihr einen Klingelstreich machen.
»Ja, sind wir.« Beate holte ihren Dienstausweis hervor und streckte ihn der Bewohnerin entgegen. »Kriminalpolizei. Wir tragen keine Uniformen. Entschuldigen Sie die Störung. Wir haben gesehen, dass bei Ihnen noch Licht brennt.«
»Ja, ich war gerade noch mal auf dem Klo, wissen Sie?« Frau Müller beugte sich seufzend über den Ausweis. »Meine Augen sind nicht mehr die besten. Aber dann will ich Ihnen mal glauben. Möchten Sie hereinkommen?«
»Danke, das ist nicht nötig. Wir wollen nur wissen, ob hier im Haus ein Mädchen wohnt mit einer ziemlich auffälligen Frisur«, sagte Beate.
»Sie meinen die kleine Punkerin?«
»Genau. Und wissen Sie, wo wir sie finden können?«
Die Frau wollte antworten, aber ein Husten schüttelte sie. »Weiter oben«, brachte sie heiser heraus.
»Wo genau?«, fragte Josef Almgruber.
Sie schob die Tür jetzt ganz auf, und vor ihnen stand eine kleine Frau um die siebzig, die einen dunkelblauen Bademantel trug.
»Sie hat doch nichts ausgefressen?«, fragte sie argwöhnisch und zog den Gürtel etwas fester zu.
»Nein«, antwortete Beate. »Sie soll uns nur zwei, drei Fragen beantworten. Wir suchen jemanden, den sie kennt.«
»Das hätte mich auch gewundert. Das ist eine ganz Liebe, auch wenn sie auf den ersten Blick aussieht wie eine Räubertochter. Sie holt mir manchmal Kohlen aus dem Keller, wissen Sie? Apropos, die sind schon wieder gerade alle.« Sie sah zu Almgruber hoch. »Und Sie sehen groß und stark aus.« Sie kicherte.
Beate biss sich auf die Zunge, um nicht loszulachen.
»Kein Problem«, sagte Almgruber. »Ich helfe Ihnen gern.«
»Oh, wirklich? Das würden Sie tun?« Sie legte die Hände zusammen, als wollte sie beten. Dann beschrieb sie ihm schnell, wie er zu ihrem Keller kommen würde, und Almgruber machte sich, ohne zu murren, auf den Weg.
Vier hochgetragene Eimer Kohlen später brachte Frau Müller sie tatsächlich die Stockwerke hinauf, bis ganz nach oben.
Josef Almgruber hatte Kohlenruß im Gesicht und schwarze Hände und sah aus wie der Schornsteinfeger. Es schien ihn jedoch nicht weiter zu stören, oder er bemerkte es nicht.
Frau Müller klopfte in einem bestimmten Rhythmus – einmal lang, dreimal kurz – an die Tür.
»Mäuschen? Bist du da?«
Sie pochte noch ein zweites Mal im selben Takt – direkt auf das Plakat einer Punkband, die sich Schleimkeim nannte. Das Poster war von Aufklebern eingerahmt, einer davon mit dem Slogan No Cops No Problems .
»Was’n los? Willst du wieder schnorren? Hab selbst nichts zu rauchen«, meldete sich eine verschlafene Stimme.
»Nein, Schätzchen, ich bringe Besuch mit!«, rief Frau Müller munter und lächelte Josef Almgruber zu.
»Hoffentlich nicht wieder dieser Willi?« Die Tür öffnete sich, und sie blickten in ein auffällig blasses Mädchengesicht. »Wer seid ihr denn?«
»Der Herr war so nett und hat Kohlen für mich geholt«, sagte Frau Müller, als würde das irgendetwas erklären. »Die Herrschaften sind von der Polizei, und sie tragen keine Uniformen, weil sie von der Kripo sind.«
»Fuck!« Das Mädchen versuchte augenblicklich die Tür wieder zuzudrücken. »Haut ab!«
Almgruber schob jäh seinen Fuß vor.
»Es geht um Andreas!«, rief Beate. »Wir suchen ihn. Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
»Fickt euch!«
»He!«, rief Almgruber. »Wir haben uns schon mal gesehen, erinnerst du dich? Ihr beide, du und Andreas, seid vor diesen Faschos davongelaufen. Und ich kam zufällig da lang, hab ihnen ein bisschen den Weg versperrt.«
Einen Moment war es ruhig.
»Echt jetzt? Du warst das?« Das Mädchen schaute misstrauisch durch den Türspalt und musterte ihn.
»Ja, ich war das. Und lässt du uns nun rein oder nicht?«
Das Mädchen öffnete zögernd ein Stück die Tür. »Ich weiß nicht, wo Andy steckt. Er ist einfach abgehauen. Ohne was zu sagen und ohne sich zu melden. Dabei dachte ich …«
»Was dachten Sie?«, fragte Beate. »Fräulein … wie heißen Sie eigentlich?«
»Jedenfalls nicht Fräulein. Die meisten nennen mich Flora. Das kommt von … ist ja auch egal.« Das Mädchen sah sie verdrießlich an. »Ich dachte, Andreas vertraut mir. Aber dann … ich bin aufgewacht, und er war weg.«
»Dürfen wir nun erst mal reinkommen?« Almgruber klang leicht gereizt.
»Ich verabschiede mich dann wohl mal«, sagte Frau Müller und gähnte. »Gute Nacht allerseits.«
»Danke für Ihre Unterstützung.« Beate lächelte ihr zu. »Ich begleite Sie noch runter.«
»Ach was, ich kenne den Weg. Sogar im Dustern.« Sie lachte.
»Sind Sie sicher?« Beate beleuchtete mit ihrer Taschenlampe die Treppe. Nur in einigen Stockwerken brannte noch ein schwaches Licht. Auch das Geländer sah ziemlich instabil aus.
»Ja. Und wenn ich nicht ankomme, können Sie ja nach mir fahnden. So wie im Krimi 110 .« Ihr Kichern mischte sich mit ihrem Raucherhusten.
»Okay, das machen wir«, versprach Almgruber. »Gute Nacht, Frau Müller.«
Flora, die in Wirklichkeit Friederike Beyer hieß, bot ihnen einen Platz auf einem alten durchgesessenen Sofa an.
»Andreas Schwalbe hat also bei Ihnen gewohnt?«, fragte Beate. »Wann und wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Letztes Jahr im November. Er lief draußen rum und wurde offenbar von jemandem verfolgt. Ich dachte erst, das wäre ein Polizist. Aber es war keiner.«
Josef Almgruber rutschte unruhig auf der Couch hin und her. »Nun mal der Reihe nach: Was genau ist passiert?«
»Zuerst hab ich Andy auf dieser Demo vor der Stasizentrale gesehen. Er machte irgendwie einen verlorenen Eindruck und … na ja, als er von da abgehauen ist, bin ich ihm nachgegangen.«
»Warum sind Sie ihm gefolgt?« Beate zog die Augenbrauen hoch. »Da waren doch so viele Menschen und … Sie kannten ihn gar nicht.«
»Keine Ahnung. Er hat meine Kerze angezündet, und wir haben uns in die Augen gesehen. Er sah so traurig aus. Ich glaube, ich wollte wissen, wer er ist. Ihm helfen. Er hat gewirkt, als bräuchte er Hilfe.«
Beate nickte. Diesen Eindruck hatte Andreas auch auf sie gemacht. »Schildern Sie uns bitte, was danach passiert ist, Friederike. Sie sind ihm also nachgegangen?«
»Flora, sagen Sie Flora. Das wäre mir lieber, ja?«, bat sie. »Ich bin ihm nachgelaufen, weiß nicht genau, warum. Vielleicht aus Neugierde. Und dann ist Andy in einen Hauseingang rein und ich hinterher … Auf dem Hinterhof, da war so ein unheimlicher Typ, als ich da ankam. Es war dunkel. Und ich wusste nicht, wer das ist. Der hat sich komisch benommen und gefragt, ob ich wen gesehen habe. Also, der suchte wohl nach Andy.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
Flora zuckte mit den Achseln. »Nicht so genau, fürchte ich. Das ist ja auch schon ewig her.« Sie strich sich fahrig über die Stirn. »Ist Andy in Gefahr?«
»Das wissen wir nicht. Wir wollen herausfinden, wo er ist«, sagte Beate.
»Wie hat der Mann ausgesehen?«, fragte Almgruber. »Wie groß war er, was hat er getragen, war er dick, dünn, welche Frisur hatte er … Gab es irgendwas, was dir an ihm aufgefallen ist?«
Flora lachte auf. »Merken Sie sich jeden Menschen, dem sie begegnen?«
»Jeden nicht, auffällige Personen schon. Sonst hätte ich dich nicht so schnell wiedererkannt, oder?«
Sie grinste ihn an und strich sich über ihre hochgestylten Haare. »Das war ja wohl nicht so schwer. Jeder, der mich schon mal gesehen hat, erkennt mich.« Sie klang ein bisschen stolz.
»Na schön.« Er machte eine Handbewegung, als wollte er das eben Gesagte wegwischen.
»Kannst du den Mann irgendwie beschreiben?«
Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Er war normal groß, nicht dick, schwarz gekleidet … Frisur … weiß ich nicht. Glaub, der hatte ’ne Mütze auf.« Sie überlegte eine Weile. »Der hatte ’ne Narbe im Gesicht, soweit ich mich erinnern kann. Aber es ist lange her und war wie gesagt dunkel. Kann auch sein, dass das nur tiefe Grübchen waren oder Falten oder so wettergegerbte Haut. Ich will euch ja nix Falsches erzählen.«
»Hat Andreas etwas über den Verfolger gesagt? Hat er den Mann gesehen? Wusste er, wer das sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Glaube nicht, dass er den kannte oder gesehen hat.« Flora steckte sich jetzt eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Entweder hatte Andy keine Ahnung, oder er wollte es nicht sagen.«
»Er hat gar nichts erzählt?« Beate sah das Mädchen zweifelnd an.
»Nur, dass er abgehauen ist. Aus einem Heim oder Jugendwerkhof. Aber nichts Genaues.«
Beate musterte das blasse Gesicht. Es wirkte selbst ziemlich unglücklich. Sie schien die Wahrheit zu sagen.
»Sie haben doch monatelang hier zusammen gehaust, oder nicht?«, fragte sie trotzdem. »Da redet man doch miteinander. Erzählt sich alles Mögliche.«
»Wissen Sie, wir haben mehr oder weniger einfach so nebeneinanderher gelebt. Ohne dass wir das abgesprochen haben, behielt jeder seine Geheimnisse und seine Familiengeschichte für sich.«
»Aber wenn er irgendwohin ging, sagte er Ihnen normalerweise Bescheid?«, hakte Beate nach.
»Ja. Das hat er. Eigentlich sogar dann, wenn er nur kurz irgendwohin wollte.«
»Hatten Sie sich vielleicht gestritten? Manchmal reicht ja schon eine kleine Auseinandersetzung, die Ihnen vielleicht gar nicht so wichtig …«
»Ach was!«, unterbrach Flora den Satz. »Es war alles wie immer. Ich hab noch gepennt. Wenn ich schlief oder nicht da war, heftete er eine Notiz an die Korktafel.« Ihre Stimme klang einen Moment dünn.
»Und die befindet sich wo?«, fragte Almgruber.
»Er hat keine Nachricht hinterlassen.«
»Wir möchten trotzdem nachsehen«, sagte Beate.
Flora verdrehte die Augen, klemmte die Zigarette in den Aschenbecher und schlurfte in den Flur. Sie tippte auf die Korktafel. »Da ist sie.«
Beate überflog die Notizen, Terminkärtchen und Flyer. Ein von Andreas beschriebener Zettel war offenbar nicht dabei.
Almgruber suchte den Boden ab, schaute hinter einem Schränkchen nach, hob die achtlos hingeworfenen Schuhe hoch. Schließlich wühlte er im Papierkorb herum und zog etwas heraus.
»Und was ist das?« Er hielt ein kleines Stück Papier in die Höhe.
Beate erkannte die Handschrift sofort.
»Kommt Ihnen der Zettel bekannt vor?«
Flora wurde noch eine Spur blasser. Sie schüttelte den Kopf.
Bin kurz was einkaufen. Bis gleich. Andy