Der Schlüssel der Zweitwohnung des Direktors lag tatsächlich unter der Fußmatte. Josef zog sich blaue Einweghandschuhe über, holte den Schlüssel hervor und zeigte ihn seiner Kollegin. Beate Vogt zuckte mit den Achseln. Sie schien das simple Versteck für nichts Besonderes zu halten.
War das nun ostdeutsche Ordnung oder ostdeutsche Naivität, fragte sich Almgruber. Er wusste indessen schon, dass manche Leute hier ihre Türen nicht abschlossen, dass man einfach die Klinke hinunterdrückte, um hineinzugelangen. Dass sie, selbst wenn sie einkaufen gingen, alles offen stehen ließen. Wie lange noch? Er kannte keinen einzigen Wessi, der seine Tür unverschlossen ließ oder einen Schlüssel zugänglich für jeden irgendwo ablegte, wo man ihn sofort fand.
Wie auch immer: Zinkner schien sich ziemlich sicher gewesen zu sein, dass keiner von der Wohnung in der Straße des Friedens, einer recht unscheinbaren Gegend, wusste und dass niemand außer Tanja – nach ihrer Entlassung aus der Disziplinaranstalt – hier auftauchen würde. Oder hatte der Mann noch andere Jugendliche hierher »eingeladen«?
Vorsichtshalber klingelten sie und klopften an die Tür.
Sie warteten ein paar Augenblicke ab. Nichts geschah. Es antwortete niemand.
Nach dem Betreten der Wohnung standen sie einen Augenblick lang im Flur und lauschten. »Hallo? Jemand da? Hier ist die Polizei!«, rief Almgruber. Es war nichts zu hören, kein einziges Geräusch. Dennoch spürte er eine merkwürdige Unruhe in sich aufkommen. Josef fragte sich, was ihn so nervös machte. Die Wohnung, in die sie jetzt weiter vordrangen, sah nichtssagend aus, spießig, graubraune Sessel, eine dunkle Schrankwand … Abgesehen von etwas Keramikgeschirr war nichts Persönliches zu entdecken, vielleicht war es das. Kein Landschaftsbild, keine Fotos von Kindern oder Enkelkindern, keine Pflanze, kein Kalender, nicht einmal ein Kaktus. Die Wohnung wirkte, obwohl sie mit Möbeln vollgestellt war, leer und kalt. Er hatte das Gefühl, dass diese Leere, diese Kälte nach ihm griff.
»Wie hässlich«, hörte er sich sagen und schüttelte sich.
»Tanja hat erzählt, dass hier in diesem Plattenbau ein Jugendwohnheim entstehen sollte – für aus Torgau entlassene Jugendliche. Jedenfalls war es das, was der Direktor ihr sozusagen versprochen hatte. Ein ganz normales Wohnheim – natürlich unter seiner Obhut .« Beate Vogt zeichnete Gänsefüßchen in die Luft.
Josef sagte nichts dazu. Ihm wurde übel bei der Vorstellung, was der Direktor hier vermutlich geplant hatte: ein Heim zum gemütlichen Missbrauch. Ein zweites Reich, um seine Macht auszuüben. Er selbst als Herrscher und vermeintlicher Gönner.
»Nur der Direktor im Jugendwerkhof Torgau zu sein, genügte ihm anscheinend nicht auf Dauer«, meinte seine Kollegin. »Offenbar wollte er eine Art persönliche Nachbetreuung einführen.«
»Alle Despoten müssen ihre Macht von Zeit zu Zeit vergrößern«, sagte Josef. »Sie müssen sich immer wieder selbst beweisen, dass sie die Größten sind, und das geht am besten, indem man andere erniedrigt, unterdrückt oder auch missbraucht. Vielleicht hat er sich ja diesmal mit dem Falschen angelegt.«
»In den Torgau-Akten der Jugendlichen finden sich Briefe, die sie nach der Entlassung an Zinkner schreiben mussten«, berichtete Beate. »Offenbar waren sie verpflichtet, Auskunft darüber zu erteilen, wie sie sich benehmen, welche Fehler sie sich geleistet haben und was sie in Zukunft besser machen wollen.«
»Das heißt, er wollte sie unter totaler Kontrolle halten«, überlegte Josef.
»Sieht ganz danach aus«, stimmte Beate zu. »Auch wenn sie aus der Disziplinaranstalt rauskamen, hat er sie nicht entkommen lassen. Sie lebten mit der Drohung, dass er sie zurückholen würde in den Geschlossenen Jugendwerkhof, wenn sie nicht brav sein sollten.«
»Womöglich wollte sich einer von diesen Zöglingen von ihm befreien«, mutmaßte er. »Und wusste sich nicht anders zu helfen, als das letzte aller Mittel anzuwenden?«
»Zuletzt hatte er noch drei Jugendliche in seiner Gewalt: Andreas, Tanja und Maik. Aber ich glaube nicht, dass es einer von ihnen war.«
»Es könnte ja auch ein Ehemaliger gewesen sein«, spekulierte Josef weiter. »Einer, der bereits erwachsen ist, der es schon länger auf seinen einstigen Peiniger abgesehen hatte und sozusagen die Gunst der Stunde nutzte.«
»Dann aber einer, der Zugang hatte zu der Umerziehungsanstalt«, sagte Beate.
Josef nickte ihr zu. »Wir müssen das Personal noch einmal genauer durchleuchten.«
Sie gingen von Zimmer zu Zimmer; ein abgestandener, muffiger Geruch lag in der Luft. Offenbar war schon länger niemand in der Wohnung gewesen.
»Ich verschwinde mal kurz auf die Toilette«, sagte Beate Vogt und lächelte verlegen.
Josef war etwas verwundert, dass sie ihm das mitteilte, und begann die Schrankwand zu durchsuchen. Als er die erste Schublade öffnete, hörte er ein Geräusch. Es klackte leise. Was war das? Kam das aus dem Bad? Aber dann nahm er Schritte wahr, die sich durch den Flur bewegten.
Jemand betrat die Wohnung. Automatisch zog er seine Waffe, verbarg sich im toten Winkel hinter der Tür. Der Mann, der ins Wohnzimmer kam, war von hinten nicht zu erkennen; er trug einen Mantel mit Kapuze.
»Keinen Schritt weiter, Hände über den Kopf!«, befahl Josef.
Zögernd gehorchte der Eindringling.
»Was ist denn hier los?«, rief Beate da, die aus dem Bad kam. »Das ist doch Steffen, unser Kriminaltechniker!«
Josef rührte sich nicht. Als hätte er sie nicht gehört. »Umdrehen! Drehen Sie sich um! Schön langsam.«
»Guten Tag, Herr Hauptkommissar.« Der Angesprochene wandte sich in übertriebenem Zeitlupentempo in seine Richtung. »Haben Sie schlecht geschlafen, oder ist das Ihre Art, einen Kollegen zu empfangen?«
»Warum haben Sie sich nicht bemerkbar gemacht?«, fragte Josef und senkte seine Waffe.
»Ich wusste ja nicht, dass Ihnen die Pistole so locker im Halfter sitzt. Mannomann.« Der Ankömmling zog die Augenbrauen hoch und steckte sich erst einmal eine Zigarette an.
»Finden Sie es gut, hier zu rauchen?«, fragte Josef, immer noch zornig. »Sie sollen schließlich nach Spuren suchen und nicht selbst welche fabrizieren.«
»Wie wäre es denn damit: Sie setzen sich bequem aufs Sofa und lassen mich meine Arbeit machen«, konterte sein Kollege. »Danach können Sie mit der Wohnungsdurchsuchung ja weitermachen.«
»Danke für das Angebot, aber wir überlassen Ihnen gern das Feld. Wir haben ohnehin noch einen Termin zu einer Befragung.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie seine Kollegin und der Kriminaltechniker spöttische Blicke wechselten, aber er ignorierte es.
»Begleiten Sie mich, Frau Vogt?« Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, sofort von hier zu verschwinden.
Sie blickte ihn etwas verwundert an. »Gehen Sie schon mal vor? Ich komme gleich nach.«
Josef zuckte mit den Achseln. »Na schön, wie Sie wünschen.«
Ihm war schon klar, dass er weggeschickt wurde, weil Beate mit diesem Steffen über ihn tratschen wollte. Über den Neuen, den aus dem Westen, der vom Osten keine Ahnung hatte.
Nun ja, was hatte er geglaubt? Dass sie ihn in der Zone mit Blümchen bewerfen würden vor lauter Freude über seine Anwesenheit?
An der Straße blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Wagen hatte einen Platten, genauer gesagt vier. Jemand hatte die Reifen zerstochen!
Beunruhigt blickte er die Straße hinab. Aber auf dem Bürgersteig lief nur eine etwa Neunzigjährige, die sich auf einen Stock gestützt im Zeitlupentempo vorwärtsbewegte. Die kam als Täterin wohl eher nicht infrage. Sie als mögliche Zeugin der Sachbeschädigung zu befragen hatte wohl auch wenig Sinn. Josef lief ratlos um den Opel herum. Unter einem der Scheibenwischer klemmte ein Zettel. Er zog sich wieder blaue Einweghandschuhe über, ehe er das Papier hervorzog.
Die Nachricht war auf einer Schreibmaschine getippt worden:
Hau ab aus Torgau! Wir wollen hier keine West-Polizei!!!
Die großen Buchstaben waren etwas verschmiert. Der Täter hatte offenbar nicht das neueste Modell benutzt. Das und die Formulierung verrieten, dass derjenige wohl eher zu den älteren Semestern gehörte. Wäre es ein Jugendlicher oder gar ein Punk-Freund von Flora gewesen, hätte dort vermutlich das Wort Bullen gestanden.
»Oje, was ist denn hier los?« Beate Vogt sah ihn entgeistert an.
Josef deutete nur stumm auf die Autoreifen. Er gehörte nicht zu den Fahrern, die ihren Wagen abgöttisch liebten und um jeden Kratzer ein Theater machten, aber dieser Angriff schmerzte ihn. Er war nicht nur nicht willkommen, er sollte verschwinden. Das war eine Drohung. Was kam als Nächstes?
»Ich gehe noch mal hoch und sage Steffen Bescheid, dass er gleich die Spurensicherung an Ihrem Wagen durchführt. Er kann sich dann auch um alles Weitere kümmern und den Opel in die Werkstatt bringen lassen. Geben Sie mir den Autoschlüssel?«
Josef reichte ihn ihr stumm. Heute war wohl nicht sein Tag. Wie sollte er nun nach Dienstschluss nach Halle kommen?