Beate saß im Besprechungsraum der Torgauer Polizei, den sie für ihre Ermittlungsarbeit vor Ort nutzen durften, und massierte sich die Schläfen. Das schmerzhafte Ziehen machte ihr seit einer Weile zu schaffen. Dabei hatte sie schon zwei Spalt -Tabletten geschluckt und drei Tassen Kaffee getrunken. Sie machte sich Sorgen. Wo steckte Andreas? War ihm etwa was passiert? Wieso saßen sie hier herum, statt nach ihm zu suchen? Doch Almgruber brauchte sie das im Moment nicht fragen. Ihr Kollege wirkte immer noch griesgrämig. Dass jemand die Reifen seines Wagens zerstochen hatte, schien er offenbar der ganzen Stadt oder sogar dem ganzen Osten übel zu nehmen.
Von der Straße des Friedens vorbei an dem zehngeschossigen Hochhaus, ein Stück die Eilenburger Straße entlang, bis zum Polizeirevier waren es nur etwa zwei Kilometer zu Fuß gewesen. Aber er hatte die gesamte Zeit geschwiegen, und so war ihr die Strecke viel länger vorgekommen.
Beate sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Der Zeuge Reinold Spieß schien sich etwas zu verspäten. Sie wollten den ehemaligen stellvertretenden Direktor des Werkhofs zu den Angestellten befragen, vor allem zu denen, die am 9. November 1989 dort Dienst gehabt hatten.
»Also, was müssen wir über die Beschäftigten wissen?«, fragte Almgruber und klopfte mit einem Kugelschreiber auf seinen Notizblock. »Ausbildung, beruflicher Werdegang, Verhältnis zum Direktor, Verhältnis zu den Zöglingen …«, zählte er auf.
»Wir sollten auch die Vorgeschichten erkunden und zum Beispiel nach Heim- und Jugendwerkhofaufenthalten fragen«, meinte Beate. »Oder auch nach Vorstrafen, Alkoholmissbrauch, Gewaltausübung gegenüber Insassen, Aggressionen und Streitigkeiten unter den Kollegen.«
»Und nach Zinkner selbst müssen wir uns erkundigen«, ergänzte Almgruber. »Es ist kaum vorstellbar, dass ein Mann wie er keine Feinde hatte.« Der Ton, in dem er das sagte, klang grimmig, und Beate sah ihn fragend an. Aber er erklärte die Bemerkung nicht, blickte an ihr vorbei zur Tür, die sich gerade öffnete.
Reinold Spieß wirkte abgehetzt und außer Atem, als er den Raum betrat. Er riss sich die mit Fell gefütterte Mütze vom Kopf und knöpfte hektisch seinen knielangen, militärisch wirkenden Mantel auf. Ein rosafarbenes Hemd kam zum Vorschein, das bis zum Kehlkopf zugeknöpft war.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, brachte er hervor. »Irgendein Trottel hat mein Fahrrad geklaut.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, und Beate und Josef wechselten einen Blick.
Almgruber zog die Augenbrauen hoch. »Das tut mir leid«, sagte er höflich. »Wo befand sich denn Ihr Rad?«
»Vor meiner Haustür. Hier in dieser Stadt! Früher gab es mal einen ABV, der aufpasste, dass so was nicht passiert. Natürlich war das Fahrrad neu!«
Beate nickte ihm mitfühlend zu. »Möchten Sie einen Kaffee?«
Er nickte. »Mit viel Zucker bitte.«
Eine halbe Stunde später saßen sie zu dritt über die Personalbögen gebeugt da. Sie enthielten weniger Informationen, als Beate gehofft hatte. Zwar konnte Reinold Spieß zu beinahe jedem Kollegen noch ein paar Sätze sagen, aber Wesentliches kam nicht dabei heraus.
Beate machte sich hinter den Namen Notizen, hakte hin und wieder nach, wenn etwas unklar war. Das Fragen überließ sie meist Almgruber.
Nach zwei Stunden hatten sie die Adressen, das jeweilige Alter, die Ausbildungen, Arbeitsstätten und Berufe notiert. Keiner der Erzieher und Erzieherinnen und sonstigen Mitarbeiter war selbst einmal Insasse eines Jugendwerkhofs oder eines anderen Heims gewesen – jedenfalls soweit Spieß darüber informiert war. Alkohol sei nur zu Betriebsfeiern ausgeschenkt worden; von Alkoholmissbrauch während der Arbeitszeit wisse er nichts. Streitigkeiten unter Kollegen seien hin und wieder vorgekommen, aber es sei nie etwas Gravierendes gewesen. Politische Meinungsverschiedenheiten habe es zum Schluss zwar gegeben, zum Beispiel, weil ein Kollege verbotene Westzeitungen mitgebracht habe, aber auch diese Aufregung sei nach zwei, drei Tagen vergessen gewesen. Eine länger währende Auseinandersetzung habe im Frühsommer 1989 stattgefunden, als es um die Abschaffung der Wachhunde ging. Er, Reinold Spieß, habe sich dafür eingesetzt; einige Kollegen seien aus Sicherheitsgründen dagegen gewesen. Nach einigem Hin und Her seien die Schäferhunde vom Gelände entfernt worden, den Hundeführer habe Direktor Zinkner entlassen. Aggressionen und aufmüpfiges Verhalten von Insassen seien entsprechend den gültigen Regeln und nach Anweisungen aus dem Ministerium für Volksbildung bestraft worden.
Von Schlägen sei ihm nichts bekannt. Er selbst habe nicht geschlagen. Die Gummiknüppel habe das Personal nur zur Selbstverteidigung eingesetzt. Dass Direktor Zinkner Feinde habe, sei ihm nicht zu Ohren gekommen; er würde es aber auch nicht ausschließen.
»Wenn Karl Zinkner den Hundeführer entlassen hat, war der bestimmt nicht gut auf ihn zu sprechen, oder?«, fragte Almgruber.
»Er war wütend, dass seine Hunde abgeschafft wurden. Den Mann selbst hat man nach ein paar Wochen wieder eingestellt. Als Hausmeister.«
»Können Sie das näher erläutern?«
»Sicher kann ich das. Der alte Hausmeister kam aus seinem Urlaub in Ungarn nicht zurück und seilte sich in den Westen ab. Und da fehlte eben ein Hausmeister in unserer Einrichtung. So erinnerte man sich an den Hundeführer, der sich ja bestens auskannte auf dem Gelände.«
»Sie meinen Herrn Braun?«, fragte Beate. Sie dachte an den ersten Tag der Ermittlung und an den Mann mit dem borstigen roten Haar, der sie in das finstere Gebäude und an den Tatort mit der Leiche gebracht hatte. Ihr war gleich aufgefallen, in welch abwertendem Ton der Hausmeister über den Toten gesprochen hatte.
»Genau, Herr Braun. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Direktor war in der Tat angespannt. Sie sind sich aber weitestgehend aus dem Weg gegangen.«
»Wissen Sie, warum die beiden sich nicht mochten?« Beate nahm die Thermoskanne und schenkte, ohne zu fragen, noch Kaffee in alle drei Tassen nach.
»Herr Braun hat sich manchmal negativ zu den Erziehungsmethoden geäußert. In seiner Position als Hundeführer und später als Hausmeister stand ihm eine Kritik an pädagogischen Maßnahmen natürlich nicht zu.«
Beate blickte zu der runden Uhr hinauf, die noch aus der DDR stammte. Statt Ziffern hatte sie nur Striche, und sie tickte viel zu laut. So langsam bekam sie das Gefühl, dass sie ihre Zeit verschwendeten. Die Auskünfte brachten sie nicht viel weiter. Es half alles nichts. Sie mussten sich von der Belegschaft jeden einzeln vornehmen. Mit dem rothaarigen Hausmeister konnten sie ja anfangen. Vielleicht war er eher bereit, über den Direktor, seine Strafanstalt und seine möglichen Feinde oder Feindseligkeiten zu plaudern. Aber wichtiger fand sie eigentlich, nach Andreas zu suchen. Es war ihre Aufgabe, ihn zu finden und zu schützen. Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen und losgezogen. Aber der Kollege aus dem Westen leitete die Ermittlung und bestimmte somit den Ablauf.
»Wie kommt es eigentlich, dass sich die Personalbögen noch in Ihren Händen befinden?«, fragte Almgruber.
Reinold Spieß rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. »Das Amt für Nationale Sicherheit bat mich telefonisch darum, die Akte mit den Personalunterlagen zur Verfügung zu stellen. Ich habe sie gemäß der Vorschrift im Panzerschrank aufbewahrt. Allerdings kam nie jemand, um sie abzuholen. Also habe ich sie nach der Räumung des Werkhofs mit nach Hause genommen und ehrlich gesagt nicht mehr daran gedacht. In dieser wirren Zeit hatte ich ja auch anderes zu tun.«
»Was zum Beispiel?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Mich arbeitslos melden, Bewerbungen schreiben. Was man eben so macht im Kapitalismus.«
Beate lachte ungewollt auf. »Sehen Sie sich als Opfer?«, fragte sie spitz. »Oder was wollen Sie uns damit sagen?«
»Ich will gar nichts damit sagen. Ich habe meine Arbeitsstelle verloren so wie viele andere Genossen auch.« Seine Stimme klang weinerlich, gequält, beinahe selbstmitleidig.
»Diese Disziplinaranstalt wurde ja nicht grundlos aufgelöst«, sagte Beate Vogt.
»Die Pläne waren aber andere«, erklärte Spieß – nun in einem fast bockigen Tonfall. »Der Jugendwerkhof wurde auch nicht aufgelöst , sondern nur geräumt, damit eine Sanierung stattfinden konnte. Die Gitter sollten entfernt, die Räume vergrößert und die sanitären Einrichtungen verbessert werden. Nach den Umbaumaßnahmen war geplant, die Einrichtung in ein Wohnheim für Jugendliche umzuwandeln.«
»Noch eins?«, entfuhr es Beate. »In der Straße des Friedens in Torgau sollte doch unter Leitung des Direktors Zinkner auch ein Wohnheim entstehen. Können Sie uns dazu etwas sagen?«
»Davon weiß ich nichts«, antwortete er. »Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich bin selbst in der Gegend zu Hause. Dort sind doch nur ganz normale Wohnungen.«
»Wenn Sie selbst dort leben: Wussten Sie, dass Karl Zinkner in einem der Neubaublöcke einen Zweitwohnsitz hatte?«
»Nein, davon höre ich zum ersten Mal«, sagte Spieß. Die Antwort klang mechanisch, als wäre er nicht wirklich überrascht. »Ich kannte nur seine Wohnung, die sich im Gebäude des geschlossenen Jugendwerkhofs befand.«
Beate glaubte ihm nicht. Torgau war eine kleine Stadt. Ihm musste Zinkner doch mal begegnet sein in diesem Viertel. Aber vielleicht hatte der Direktor diese zweite Wohnung nicht oft betreten.
»Wieso lebte er ausgerechnet im Jugendwerkhof, also an seiner Arbeitsstelle?«, fragte Almgruber.
»Er behielt gern alles unter Kontrolle. Wenn etwas war, konnte er sofort eingreifen.«
»Was zum Beispiel?«
»Wenn einer der Jugendlichen sich schwerer verletzte, brachte er ihn persönlich ins Krankenhaus und blieb auch bei dem Verletzten.«
»Wenn sich jemand schwerer verletzte? Sie meinen Selbstverletzungen und Suizidversuche?«, fragte Beate.
»Nicht nur. Es gab auch Verletzungen während der Arbeit, die die Jugendlichen verrichteten. Uns stand nicht gerade die neueste Technik zur Verfügung.«
»Das kam also häufiger vor«, stellte Almgruber fest. »Und wie verhinderte man, dass die Jugendlichen aus dem Krankenhaus wegliefen?«
»Ihnen wurden Handschellen angelegt.« Die Antwort klang trocken. Als wäre an der Bemerkung nichts Besonderes.
Almgruber klopfte mit dem Kugelschreiber nervös auf dem Tisch herum. »Verstehe ich das richtig? Der Bub oder das Mädel waren schwer verletzt, und man legte sie in Handschellen? Und da meinen Sie also, man hätte einfach mit dem gleichen Personal weiterarbeiten können?«
»Natürlich. Warum denn nicht? Die Handschellen waren nötig, um Fluchtversuche zu verhindern.«
»Wieso wurde aus Ihrer Sicht der Jugendwerkhof so übereilt geschlossen?«, hakte der Kommissar nach.
»Die Räumung war eine Anordnung des Volksbildungsministeriums und kam aus dem Büro von Margot Honecker, das hatte ich doch schon bei der ersten Befragung gesagt. Außerdem gab es Hinweise, dass männliche Ehemalige die Mädchen befreien wollten.«
»Sie meinen in den Unruhen des Herbstes 89?«, fragte Almgruber.
»Genau. Im November. Während der Konterrevolution. Diese Halbstarken dachten ja, sie können sich auf einmal alles erlauben. Also mussten wir schnell räumen.«
»Das klingt … nun ja, etwas abenteuerlich«, wagte Beate einzuwenden.
»Sie glauben mir nicht? Der Hinweis kam direkt aus dem Ministerium für Volksbildung. Das mussten wir ernst nehmen! Es gab zu diesem Zeitpunkt sogar in Haftanstalten Revolten!« Reinold Spieß verschränkte die Arme und sah sie trotzig an.
»Apropos«, murmelte Almgruber und blätterte in seinen Unterlagen. »Sie haben selbst in einem Gefängnis gearbeitet, bevor Sie Erzieher in Torgau wurden?«
»Im Strafvollzug. Das ist richtig.«
»Welche Gründe gab es für den Wechsel der Arbeitsstelle?«
»Persönliche. Hin und wieder braucht man eben mal eine Veränderung. Außerdem habe ich eine soziale Ader.«
Beate dachte an die Arrestzellen im Jugendwerkhof, die sie gesehen hatte: Kerker ohne jede Beschäftigungsmöglichkeit, Bunker im Keller ohne Licht, den Fuchsbau, in dem man nicht mal stehen, sitzen oder ausgestreckt liegen konnte. Soziale Ader? Aber sie hielt den Mund. Um eine Diskussion über unsinnige Behauptungen ging es ja auch nicht. Sie mussten herausfinden, wer ein Interesse daran gehabt hatte, Zinkner zu beseitigen, und sie waren noch keinen Schritt weiter.
Beate fragte sich, als sie nach diesem anstrengenden Arbeitstag die Stufen zu ihrer Wohnung hinauflief, was es mit den zerstochenen Reifen des Opels in der Torgauer Straße des Friedens auf sich hatte. Vielleicht wollte da einfach nur jemand seinen Frust ausleben und einen geparkten Westwagen beschädigen. Schließlich gab es auch Leute, die Mercedes-Sterne abbrachen. Aus Neid? Aus Wut? Aus Langeweile?
Es herrschte nicht gerade die beste Stimmung im Land. Immer mehr Menschen wurden arbeitslos, gleichzeitig stiegen die Mieten, und viele mussten sich erstmals Gedanken machen, wie sie ihre Zukunft im wiedervereinigten Deutschland und in einer anderen Gesellschaftsordnung gestalten wollten.
Nicht alle wussten die neu gewonnene Freiheit zu schätzen. Wobei Beate ziemlich sicher war, dass die meisten, die sich im alten System angepasst hatten, keine großen Schwierigkeiten haben würden, auch im gesamtdeutschen Staat Fuß zu fassen oder sogar Karriere zu machen.
Als sie ihre Wohnungstür aufschließen wollte, merkte sie, dass sie nachgab. Ein siedend heißer Schreck durchfuhr sie. Wieso hatte sie nicht endlich das Schloss ausgetauscht? Seit jemand ihr seltsame Dinge wie diese Gummipuppe und die Holzschlange in die Wohnung gelegt hatte, war das doch ihr Plan gewesen. Zwar kam ihr Exfreund Toni mittlerweile nicht mehr, um noch das eine oder andere nützliche Teil für sich zu beanspruchen, aber ihre Nachlässigkeit wurde ihr jetzt plötzlich in diesem Anflug von Panik bewusst.
»Wie blöd muss man sein«, flüsterte sie und meinte sich selbst.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie in den Korridor hinein. Es war nichts zu hören, aber etwas war anders als sonst. Die Müdigkeit, die sie mit sich herumschleppte, fiel im Nu von ihr ab. Irgendwer war wieder hier gewesen, in ihrer Wohnung, in den vier Wänden, die ihr Rückzugsort waren. Ein Schutz, der sich plötzlich in etwas Bedrohliches verwandelte.
Warum hatte sie sich nicht um ein neues Sicherheitsschloss gekümmert? Wie konnte sie einfach vergessen, dass sie sich besser schützen musste? Als Ermittlerin in einem Mordfall war es nicht ganz unwahrscheinlich, dass sie schnell selbst in den Fokus des Täters rückte, oder nicht?
Mit mulmigem Gefühl schlich sie tiefer in die Wohnung hinein, die ihr in diesem Moment vertraut und gleichzeitig fremd vorkam. Sie wohnte hier, nichts sah auf den ersten Blick anders aus, und doch spürte sie, dass hier jemand eingedrungen war. Wer? Und warum?
Immer noch blieb es still.
Das war es, was anders war: diese Geräuschlosigkeit!
Normalerweise wurde sie vom Quieken ihrer Meerschweinchen empfangen. Doch diesmal hörte sie absolut nichts. Entweder Toni war aus irgendeinem Grund doch noch einmal in der Wohnung gewesen und hatte bei der Gelegenheit die Tiere gefüttert, und sie waren gerade satt oder …
Oder?
Ihr Herz schlug schneller und sie lief los, stolperte verwirrt in das Zimmer hinein, in dem das Gehege stand.
Es war leer.