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Beate starrte fassungslos in das leere Gehege. Ein Gefühl von Verlassenheit ergriff sie. Einen Herzschlag lang war ihr zumute, als wäre sie vollkommen allein, der letzte Mensch auf diesem Planeten.

Wer tat denn so was? Wer klaute Meerschweinchen? Gleich alle vier! Und was sollte sie jetzt tun?

Zunächst durchsuchte sie das Zimmer für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Tiere aus der Behausung geklettert waren. Sie hielt nichts von Käfighaltung; das Gehege aus Holz war einmal ein Bücherregal gewesen. Sie hatte die Zwischenbretter entfernt und den Boden mit Teichfolie ausgestattet. Zu entkommen war aus Meerschweinsicht also nicht völlig unmöglich. Sie blickte unter den Kleiderschrank, hinter das Sofa, hielt Ausschau nach Spuren, genauer gesagt nach den bohnenähnlichen Kötteln. Nichts. Auch im Zimmer nebenan, im Bad und in der Küche suchte sie vergeblich. Kein Schweinchen sauste durch den Raum und schlüpfte in das nächstbeste Versteck.

Als das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Vielleicht rief ja der Entführer an. Der Entführer ihrer Meerschweinchen? Das klang seltsam, irgendwie verrückt. Ging es hier etwa um Lösegeld? Blödsinn. Das konnte doch nicht sein.

Es war eine weibliche Stimme, die sich meldete und die ihr bekannt vorkam. Beate zwang sich dazu, ihr zuzuhören.

»Wollte nur wissen … ob Sie … ihn schon gefunden haben. Also … Andreas«, kam die Frage zögernd aus der Leitung.

»Tanja? Bist du’s?« Beate erinnerte sich, dass sie dem Mädchen ihre Telefonnummern gegeben hatte – sowohl die dienstliche als auch die private.

»Ja?« Es klang tatsächlich wie eine Frage – als wüsste Tanja im Moment nicht, wer sie eigentlich war. »Ich rufe an … ich möchte wissen … ob Andreas …«

»Nein«, unterbrach Beate etwas ungeduldig das Gestammel. »Wir haben ihn noch nicht gefunden. Lieb von dir, dass du nachfragst. Wenn es etwas Neues gibt, sag ich dir Bescheid, okay?«

Auf der anderen Seite blieb es still. Hatte Tanja schon aufgelegt?

Aber Beate hörte sie atmen und auch etwas vor sich hin murmeln, was sie nicht verstand. Sprach sie mit sich selbst? War sie immer noch so durcheinander?

Beate fühlte ein schlechtes Gewissen. Das Mädchen hatte sich ihr anvertraut, ihr alles erzählt, die schlimmsten Dinge, unverarbeitete grauenhafte Erlebnisse, und dann war Beate einfach gegangen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, was ihr Gespräch bei Tanja auslösen könnte.

»Geht es dir gut?«, fragte sie zaghaft. »Rufst du von zu Hause an?« Hatte die Familie Wolter überhaupt ein Telefon? Beate Vogt wusste es nicht.

»Ich bin in einer Telefonzelle«, antwortete Tanja. »Ich bin dem Flügelschlag des Raben gefolgt.«

»Was? Wem bist du gefolgt?« Es rauschte in der Leitung, und Beate presste den Hörer dichter an ihr Ohr. »Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«

»Ich bin in einer Telefonzelle«, wiederholte Tanja. »Komisch. Es macht mir nichts aus, obwohl es sehr eng und stickig hier drin ist, wie in einem Glaskäfig.«

»Gut«, sagte Beate. »Ich meine, das ist gut, dass es dir nichts ausmacht. Und das Telefon funktioniert sogar. Das ist auch … gut.« Sie schien den Faden zu verlieren. Sie starrte vor sich hin an die Wand, auf ein Landschaftsfoto. Das Meer, Wellen, die Gischt. Möwen, die sich gegen den Wind stemmten. Beate schnappte nach Luft, als wäre sie selbst einer heftigen Bö ausgesetzt.

»Bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte Tanja auf einmal. »Sie klingen, als hätten Sie etwas verloren.«

Beate stutzte kurz. »Ich freue mich über deinen Anruf, über dein Lebenszeichen, wirklich. Aber ja, wie man’s nimmt. Also … ich habe tatsächlich was verloren …« Sie seufzte oder stöhnte.

Sie beließ es bei der Bemerkung. Sie hatte nicht vor, auszuplaudern, was passiert war, geschweige denn, es einem psychisch labilen Mädchen zu erzählen.

»Das Verlorene kommt bestimmt zu dir zurück«, sagte Tanja ruhig. »Der Rabe ist auch zurückgekommen.«

»Ich kann dir nicht ganz folgen«, gab Beate zu.

»Nicht so schlimm«, sagte Tanja. »Ich hab die Tabletten ins Klo geworfen.«

»Und jetzt geht es dir besser?«

»Ich kann mich wieder spüren. Das ist ein Anfang.«

»Das klingt gut«, sagte Beate vage und fragte sich, ob sie sich selbst spüren konnte. Ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung durchfloss sie wie ein Strom. Wollte ihr jemand Angst einjagen? Vielleicht hatte sich derjenige einen bösen Scherz erlaubt und die Nagetiere irgendwo versteckt.

»Hör zu, Tanja. Ich muss auflegen, muss nach dem, was ich verloren habe, suchen. Danke, dass du dich gemeldet hast. Es ist schön, dass es dir besser geht.«

»Es wird dich finden«, sagte Tanja. »So wie der Rabe. Er hat mich gefunden, als ich ihn gesehen habe, und ich habe ihn gesehen, als er mich fand.«

Sie klang immer noch etwas wirr, redete in Rätseln. Beate dachte an die Schlaftabletten. Hatte sie die wirklich in die Toilette geworfen? In Verbindung mit Alkohol konnten die vielleicht eine Psychose auslösen. »Hast du was getrunken?«, fragte Beate besorgt.

»Ja«, antwortete sie. »Fencheltee. Meine Mutter schwört auf Fencheltee, und es steht immer eine Kanne auf dem Küchentisch.«

War das ein Witz, oder meinte sie das ernst? Beate lauschte in diesen Ton hinein. Er klang vollkommen gelassen. Abgehoben, beinahe schwebend. Sie dachte komischerweise an den Raben, von dem Tanja erzählte hatte.

»Du solltest jetzt lieber nach Hause gehen«, riet sie ihr.

»Ist gut«, kam es leise, fast im Flüsterton zurück. Tanja legte auf.

Beate stand mit dem Hörer in der Hand da und überlegte, wen sie anrufen sollte.

Almgruber? Hatte dieser Diebstahl etwas mit ihrem Fall zu tun? Aber vermutlich war ihr Kollege gerade in Halle an der Saale oder auf dem Weg dorthin. Und da der Opel in der Werkstatt stand, musste er mit dem Zug und der Straßenbahn fahren. Er ist nicht erreichbar, dachte sie.

Aber jetzt allein bleiben? Was, wenn der Täter noch in der Nähe war?

Sie wählte Steffens Nummer, und er ging beinahe sofort ran. »Wer stört?«

»Ich«, sagte sie und erzählte ihm, was passiert war. »Kannst du kommen?«

Ein langes Schweigen war die Antwort. Dann hörte sie ein Seufzen. »Hat das nicht Zeit bis morgen? Ich bin gerade erst rein und ziemlich kaputt.«

Beate dachte darüber nach, ob die Meerschweinchen überleben würden, wenn der Einbrecher sie einfach draußen ausgesetzt hatte. Aber wie konnte Steffen ihr bei der Suche helfen? Nach Spuren forschen? Die Gegend konnte sie auch selbst ablaufen und erkunden.

»Ist gut«, antwortete sie. »Dann sehen wir uns morgen.«

»Ja«, sagte Steffen. »Ich muss sowieso noch mit dir reden. Über diese Wohnung des Direktors in der Torgauer Siedlung. Ich habe da was entdeckt, etwas Merkwürdiges.«

Beate wusste nicht, ob sie das im Moment hören wollte. Das Verschwinden ihrer Tiere war für sie merkwürdig genug. »In Ordnung. Wir sprechen uns. Tschüs.« Sie drückte den Hörer unwirsch auf die Gabel. Hatte er noch etwas gesagt? War das wichtig?

Sie lief wieder nervös herum, schnappte sich ihren Schlüssel und probierte, ob er noch schloss. Es knackte komisch, es schien einen leichten Widerstand zu geben, aber das Schloss funktionierte.

Beate lief zwei Etagen hinunter und klingelte bei Frau Erdmann. Wenn jemand etwas wusste oder bemerkt hatte in diesem Haus, dann sie. Meist stand Frau Erdmann hinter einer dünnen Gardine und spähte aus dem Fenster. Sie registrierte, wer kam und wer ging. Manchmal lauschte sie offenbar auch an der Tür. Sie konnte stets Auskunft darüber erteilen, wer vergessen hatte, die Treppe zu putzen.

Es dauerte eine Weile, ehe Frau Erdmann erschien. Sie trug ein langes, ausgewaschenes Nachthemd, und statt etwas zu sagen, schnaubte sie laut in ein Taschentuch.

»Guten Tag, Frau Erdmann. Es ist mir ein bisschen peinlich, Sie zu stören. Haben Sie heute etwas Auffälliges bemerkt?«, fragte Beate. »Eine Person, die nicht in dieses Haus gehört, zum Beispiel?«

Frau Erdmann schüttelte den Kopf. »Ich bin krank«, krächzte sie. »Liege schon den ganzen Tag im Bett.«

»Oh, tut mir leid. Gute Besserung!«, sagte Beate hastig. »Ich wollte auch nicht lange stören, nur fragen, ob …«

Frau Erdmann schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Beate zuckte zusammen. Das war wohl nichts, dachte sie. Also weiter.

Sie rannte die Stufen wieder hinauf und holte ihre Taschenlampe und ein Paar von den Einweghandschuhen, die Almgruber ihr überlassen hatte, dann lief sie hinunter und auf den Hof hinaus. Kam es nicht vor, dass manche Leute Tiere, die sie nicht mehr gebrauchen konnten, in den Mülltonnen entsorgten? Wer immer dieser Gestörte war, vielleicht hatte er nach dem Diebstahl nicht gewusst, wohin mit dem Diebesgut?

Als sie den Lichtkegel auf die Tonnen richtete, sah sich eine schwarze Katze nach ihr um, blickte sie einen Moment an, bevor sie davonhuschte. Galten schwarze Katzen nicht als Unglücksboten? Beate zog die blauen Gummihandschuhe an, hielt die Luft an und begann, den Inhalt der Tonnen zu durchsuchen. Irgendwann musste sie wieder atmen, den abscheulichen Geruch einatmen. Waren das eigentlich die Babywindeln, die so stanken? Oder der undefinierbare Matsch aus irgendwelchen vergammelten Essensresten?

Hier war nichts zu finden. Aber wieso sollte der Täter die Tiere mitnehmen? Sie machten doch bloß Arbeit. Vielleicht hatte er sie im Keller ausgesetzt? Oder auf dem Dachboden?

Ohne große Hoffnung kehrte sie ins Haus zurück und rannte die Stufen hinunter. Die Brettertüren der einzelnen Keller ihrer Nachbarn waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Beate leuchtete fahrig mit ihrer Taschenlampe durch die Holzleisten hindurch. Die kleinen Nager waren Meister darin, sich zu verstecken, und suchten sich meist die dunkelsten Ecken dafür. Beate hatte sie manchmal in der Wohnung laufen lassen und dann Mühe gehabt, sie zu finden und wieder einzufangen. Das, was sie hier tat, hatte also wenig Sinn, wie sie sich eingestehen musste. Sie schaltete die Taschenlampe aus und lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Kein Rascheln, kein Knistern, kein Quieken.

Sie pfiff eine kurze Melodie, so wie sie es oft tat, wenn sie ihren Haustieren Löwenzahn, Salat oder Gurke brachte. Doch es blieb still, und eigentlich hatte sie auch nichts anderes erwartet. Beate lief die Treppe wieder hinauf, an ihrer Wohnungstür vorbei, bis zum Dachboden. Nur der Form halber wollte sie dort auch noch nachsehen.

Die Tür knarrte leise. Sie betätigte den Lichtschalter, aber der funktionierte nicht. Es blieb dunkel. Beate konnte auf einmal spüren, dass dort in der Finsternis noch jemand war. Ihr Griff um die Taschenlampe wurde fester, aber sie schaltete sie nicht ein. Stattdessen versuchte sie, ruhig zu bleiben, und wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Die Stabtaschenlampe war massiv und schwer genug, dass sie sie zur Not auch als Waffe gegen einen Angreifer nutzen konnte. Der Dachboden war recht groß und weitläufig. Weiter hinten knarrte eine Diele. Beate nahm wahr, wie sich eine Gestalt langsam auf sie zubewegte, und packte ihre provisorische Waffe mit beiden Händen.