Josef war viel zu spät dran. Der Zug hatte Verspätung gehabt, die Straßenbahn war ausgefallen, und die nächste, die kam, war überfüllt und zuckelte im Schneckentempo durch Halle. Almgruber wurde langsam nervös. In seiner Vorstellung sah er Florian am Zaun stehen und vergeblich auf seinen Vater warten. Bisher hatte er es geschafft, seinen Sohn täglich zu besuchen. Würde er das auf Dauer durchhalten?
Wenn Florian sich eingelebt hat, wird ihm die Trennung schon nicht mehr so schwerfallen, hoffte er. Vorausgesetzt, es war alles in Ordnung, und sein Sohn würde sich in Schule und Internat wohlfühlen. Und was wäre, wenn nicht?
Das Tor am Zaun war zugeschlossen. Niemand zu sehen. Josef suchte nach einer Klingel, doch er fand keine. Er zögerte nur kurz, dann gab er sich einen Ruck und griff in den Maschendraht. Über die Absperrung hinüberzuklettern fiel ihm nicht besonders schwer. Er hoffte nur, dass ihm niemand aus irgendeinem Fenster dabei zusah.
Im Internatsgebäude roch es nach süßem Kräutertee. Er folgte dem Geruch durch den leeren langen Gang und hörte das Klappern von Geschirr. Als er den Speisesaal betrat, sah er Florian sofort: Er stand in einer Ecke des Raums, mit dem Rücken zu den anderen Kindern, die über die Teller gebeugt dasaßen und ihre Brote aßen. Florian wirkte vollkommen einsam, allein, abgestraft. Beinahe blieb Josef bei dem Anblick die Luft weg. Mit schnellen Schritten ging er auf seinen Sohn zu und berührte ihn sacht an der Schulter. Er trat in sein Sichtfeld und sah ihn besorgt fragend an.
Florian musste geweint haben. Seine Wimpern wirkten tränenverhangen. Der Junge blinzelte, senkte beschämt den Blick. Josef nahm ihn in den Arm, spürte das Zittern, das ihn durchlief, und strich ihm beruhigend über Kopf und Rücken.
»Wer sind Sie denn? Was machen Sie hier?«, fragte eine raue, fast heisere Stimme.
Josef wandte den Kopf, ohne seinen Sohn loszulassen. Er erblickte einen alten grauhaarigen Mann, der ihn durch eine Erich-Honecker-Hornbrille grimmig anstarrte. Dabei zupfte er nervös an seinen Hosenträgern herum, die über seinem Bauch spannten.
»Das ist mein Sohn«, sagte Josef. »Wieso muss er hier in der Ecke stehen? Was sind das denn für vorsintflutliche Methoden!« Hundsverregg! Was soll der Scheiß!, dachte er aufgebracht, doch er hielt sich gerade noch zurück. Florian musste mit den Leuten, die hier arbeiteten, ja klarkommen. Irgendwie.
»Der Junge kann sich nicht an Regeln halten«, brummte der Mann. »Er gebärdet sogar während des Abendbrots. Das dulde ich hier nicht.«
Almgruber sah ihn perplex an. »Unterhalten Sie sich nicht mit anderen Menschen, Herr …?«
»Holter«, antwortete der Grauhaarige. »Erhard Holter.« Einen Moment sah es so aus, als wollte er Josef die Hand geben.
»Unterhalten Sie sich nicht zum Beispiel mit Ihrer Familie, wenn sie gemeinsam am Tisch sitzen, Herr Holter?«
»Während der Mahlzeiten hat Ruhe zu herrschen. Ihr Sohn weigert sich außerdem, in Lautsprache zu reden, selbst wenn er dazu aufgefordert wird«, fuhr der Grauhaarige ungerührt fort. »Die Gebärdensprache sehen wir nicht so gern in unserer Einrichtung.«
»Aber das ist doch … seine Sprache! So kann er sich nun mal am besten verständigen!« Josef schlang den Arm um Florians Schultern und zog ihn einfach mit sich.
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Es ist Wochenende. Ich nehme ihn mit nach Hause«, antwortete Josef, ohne sich nach dem Mann umzusehen.
Er hörte ein empörtes Schnaufen und verstand etwas von »Polizei rufen«.
Im Gehen zückte er seinen Ausweis, hob ihn kurz hoch und grinste. »Nicht nötig. Ich bin die Polizei!«
Irgendeinen Vorteil musste sein Job ja schließlich haben.
Er bot Florian an, mit ihm in die Pizzeria zu gehen, aber sein Sohn signalisierte ihm, dass er keinen Appetit habe. »Vielleicht später«, zeigte er mit seinen Fingern.
»Okay. Sollen wir dann jetzt nach Leipzig fahren?«
Auf dem Bürgersteig sah Florian sich suchend um.
»Wir müssen die Straßenbahn nehmen und dann den Zug«, gestikulierte Josef. »Mein Auto ist in der Werkstatt.« Er verriet lieber nicht, dass jemand die Reifen zerstochen hatte.
Florian nickte, und in seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Er mochte Zugfahrten. Josef beschloss, später mit seinem Sohn über das zu reden, was in dem Internat passiert war. Der Junge sollte erst einmal zur Ruhe kommen. Außerdem würde er Florians Klassenlehrerin anrufen und sich über die Behandlung beschweren. In die Ecke stellen? Vom Abendbrot ausschließen? Die Gebärdensprache untersagen? Wo gab es denn so was! Zum Glück besaß Josef ihre private Telefonnummer. Vielleicht konnte er auch ein Treffen mit ihr vereinbaren?
An der Straßenbahnhaltestelle nahm Florian seine Hand und sah erwartungsvoll zu ihm hoch. Offenbar war der Junge erleichtert, dass sein Vater ihn aus der demütigenden Situation erlöst hatte.
»Morgen gehen wir in den Leipziger Zoo, okay?«
Die Augen seines Sohnes leuchteten auf. Er hatte ihn sofort verstanden. Das Ablesen von den Lippen klappte immer besser.