Andreas lauerte an der Tür.
Wie alle Gefängnistüren ging sie nach außen auf. Herr Jemand betrat die Zelle so gut wie nie.
Und wenn, setzte er höchstens einen Fuß über die Schwelle. Er war groß und kräftig. Andreas hatte keine Chance, ihn körperlich anzugreifen und zu überwältigen. Es blieb ihm nur, auf eine günstige Gelegenheit zu warten, ihn zu überlisten – wie es in Märchen hieß.
Aber die Gelegenheit kam nicht.
Herr Jemand war vorsichtig. Er beobachtete Andreas genau. Jede Bewegung, jeden Schritt, jede Haltung. Oft stand Andreas stocksteif da, angespannt, lauernd.
Die Mitbringsel interessierten ihn meist nicht. Mitbringsel . Nur manchmal, wenn er Hunger hatte, starrte er auf das Essen, das ihm gebracht wurde. Er hatte oft Hunger. Er musste das hier überleben. Oft quälte ihn die Langeweile. Die Bücher hatte er gelesen. Das Herumlaufen von Wand zu Wand oder im Kreis war eintönig. Er musste aufpassen, dass er nicht mit dem Kopf gegen die Mauer schlug.
Es war aber eigentlich gar nicht so schlimm. Nicht schlimmer als seine reguläre Zeit im Geschlossenen Jugendwerkhof. Da hatte er auch häufig in der Einzelzelle gehockt – beinahe ohne jede Beschäftigung. Man hatte ihm nur etwas Essen gebracht, und der Erzieher hatte ihn zum Arrestsport verdonnert. Sport ohne Gnade. Unter Aufsicht. Liegestütze, Hockstrecksprünge, Kniebeuge. Hunderte. Manchmal hatte er das Keuchen der anderen Arrestanten gehört. Gewusst, dass er nicht allein war. Aber jetzt war er der Einzige in diesem Verlies. Der letzte Mohikaner. Die anderen waren weg. Sonst wo. In der Welt, die angeblich frei sein sollte.
Wo mochte Tanja stecken? Dachte sie noch an ihn?
An diesem Tag hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Er wollte die Schüssel mit dem Waschwasser nehmen und sich beschweren, dass das Wasser dreckig war. Und dann würde er den ganzen Schwall über den Mann kippen und weglaufen, wenn der sich die Augen rieb.
Ein guter Plan, dachte er in einem Moment. Ein total bescheuerter Plan, dachte er im nächsten Augenblick.
Als die Tür sich endlich öffnete, stand er mit der gefüllten Emaille-Schüssel da. Sie war schwer. Er fühlte sich schwach. Geschwächt durch die Zeit der Gefangenschaft. Er konnte das Gefäß kaum halten. Geschweige denn mit Schwung hochheben.
Blöder Plan.
»Ich brauche frisches Wasser«, sagte er bloß und fühlte sich schlecht. Wie ein Versager.
Herr Jemand hatte wieder etwas mitgebracht. Kein Essen diesmal. Was war das?
Er hob einen Beutel hoch. Im Dämmerlicht konnte Andreas nicht gleich erkennen, was es war. Vielleicht ein Kissen? Das Ding bewegte sich. Andreas sah, dass es zappelte. Genauer gesagt: Dass etwas im Innern des Kissens zappelte. Bekam er jetzt einen kleinen Hund? Er hatte sich mal einen kleinen Hund gewünscht. Irgendwann in seinem früheren Leben. Von wem? Seiner Großmutter? Jemand anderes kam wohl kaum infrage. Das musste lange her sein. Zu lange, um sich klarer zu erinnern. Oder war er nicht mehr klar im Kopf?
Zögernd nahm er den zappelnden Beutel entgegen. Auf einmal quiekte es auch laut aus dem Stoff heraus. Sehr laut. Er sah hinein.
Nicht zu fassen! Was sollte das denn?
Es waren Meerschweinchen. Vier lebende, lebendige, zappelnde Meerschweinchen!
Verblüfft ließ er sie frei. In die begrenzte Freiheit seiner Zelle. Sie hockten eine Weile erstarrt da. Dann begannen sie herumzulaufen, wuselten umher, suchten sich Verstecke. So als wohnten sie hier.
Herr Jemand brachte auch noch Futter für die Tiere, Heu, Gurken, Salat. Und einen Handfeger mit Kehrschaufel. Einen zusätzlichen Eimer. Zeug zum Putzen.
Andreas bekam also eine Beschäftigung. Herr Jemand wollte, dass er sich mit den Tieren beschäftigte. Damit er nicht mehr so allein war?
Er war trotzdem allein.