Josef wartete, bis sein Sohn auf dem Sofa eingeschlafen war, ehe er sich erhob, in den Korridor ging, die Tür vorsichtig hinter sich zuzog und zum Telefon griff.
Sie hatten den ganzen Tag im Leipziger Zoo verbracht. Florian konnte sich an den Tieren, an den Pinguinen und Robben, an den Tigern und Löwen, an den Elefanten und Eisbären nicht sattsehen. Er hatte die Tiere genau beobachtet, und Josef hatte ihm seine Kamera überlassen, die er vor Kurzem erst gekauft hatte und die nicht ganz billig gewesen war. Florian knipste wie verrückt Fotos. Besonders mochte sein Sohn die Schimpansen, die an Seilen herumhangelten, auf Ästen balancierten und unvermittelt auf Florian zuzuspringen schienen. Er wich nicht einen Zentimeter zurück, lachte sich halbtot, wenn sie keinen Schritt von ihm entfernt Grimassen schnitten, drückte immer wieder auf den Auslöser des Fotoapparates. Josef freute sich noch jetzt über sein Lachen; es erleichterte ihn. Seinem Sohn ging es gut, das war die Hauptsache. Die Schimpansen hatten Florian neugierig angeblickt, hatten ihn beobachtetet wie er sie, und so war er mit Florian noch zwei weitere Male ins Affengehege gegangen.
Juliane Siebenbach, Florians Klassenlehrerin, nahm beinahe sofort den Hörer ab.
Josef entschuldigte sich für die späte Störung und suchte nach Worten, um seine Beschwerde möglichst höflich und sachlich zu äußern.
Frau Siebenbach hörte ihm zu. Eine Weile sagte sie gar nichts.
Josef lauschte in dieses Schweigen hinein. »Sind Sie noch dran?«, fragte er schließlich.
»Ja, natürlich.« Sie klang etwas resigniert. »Sie müssen verstehen, dass Sie sich in der ehemaligen DDR befinden«, sagte sie. »Die Regeln und Strukturen waren vorgegeben vom Volksbildungsministerium. Und zwar einheitlich für alle Schüler. Da blieb wenig Spielraum. Die Gebärdensprache war … nun ja … verpönt. Die gehörlosen Kinder sollten lernen zu sprechen, damit sie sich in der Gesellschaft verständigen konnten. Darauf wurden sie getrimmt. Auch wenn sie gar nicht hören konnten, was sie nach mühsamer Dressur selbst sagten. Natürlich verständigten sie sich untereinander dennoch mit Gebärden. Aber erwünscht war das nicht. Deshalb kam es auch zu Sanktionen und Bestrafungen durch Erzieher. Und …« Sie räusperte sich. »Leider muss ich sagen: Das In-die-Ecke-Stellen war dabei noch harmlos und allgemein üblich. Nicht nur in Gehörlosenschulen, sondern auch in anderen Einrichtungen, sogar schon im Kindergarten. Keiner sollte aus der Reihe tanzen. Nicht das einzelne Kind, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse, sondern das Kollektiv stand im Mittelpunkt und – zumindest offiziell – die Erziehung zur sogenannten allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit. Ich fürchte, Herr Almgruber, das wird noch eine Zeit brauchen, ehe die Gebärdensprache Anerkennung findet und der Unterricht bilingual durchgeführt wird. Aber was unsere Schule betrifft, sind wir auf einem guten Weg, glaube ich. Zumindest in meinem Unterricht können Florian und seine Klassenkameraden gebärden, so viel sie wollen.«
Was sie sagte, klang für ihn glaubwürdig. Lügner erkannte er meist schon am Tonfall. Jedenfalls diejenigen, die nicht geübt waren im Lügen.
»Und was ist mit dem Umgang im Internat?«, fragte er. »Ich hoffe, diese … diese völlig unangemessene Bestrafung war nur ein einmaliger Ausrutscher.«
»Ich werde mit dem Kollegen Erhard Holter reden«, versprach sie. »Gerade das Personal vom Internat besteht zum Teil noch aus älteren Erziehern, und einige von ihnen sind nicht besonders motiviert, sich von der strikt autoritären Pädagogik zu lösen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, sagte Josef. »Ich werde meine Beschwerde dennoch schriftlich bei der Schul- und Internatsleitung einreichen. So eine Behandlung hat Florian nicht verdient und die anderen Kinder auch nicht. Sie haben es schon schwer genug.«
»Ich verstehe Sie und teile Ihre Meinung«, sagte Frau Siebenbach. »Als Vater machen Sie sich natürlich Sorgen. Aber ich kann Ihnen versichern: Alles in allem macht sich Ihr Sohn gut in der Schule, und er hat auch schon Freundschaften geschlossen. Er ist ein intelligenter, sensibler Junge. Er wird schon klarkommen … mit Ihrer und meiner Unterstützung.«
»Das hoffe ich.«
»Sollte es wieder mal ein Problem geben, rufen Sie mich ruhig an.«
»In Ordnung. Danke. Ich bringe Florian morgen Abend nach Halle zurück. Und ich gehe davon aus, dass sich so ein … so ein Vorkommnis nicht wiederholt.«
»Davon gehe ich auch aus«, antwortete sie. Besonders zuversichtlich klang sie allerdings nicht.
Sie verabschiedeten sich und wünschten sich gegenseitig einen schönen Sonntag.
Josef fühlte sich einigermaßen beruhigt. Probleme gab es schließlich überall. Dennoch blieb ein leichtes Unbehagen. Ihn schmerzte die Erkenntnis, dass er seinen Sohn nicht vor allen Ungerechtigkeiten und schlechten Erfahrungen schützen konnte.
Er schlich sich in das Zimmer zurück, in dem sein Sohn friedlich schlief, stand einfach nur da und lauschte eine Weile seinem gleichmäßigen Atem.