Wolfgang Braun, der ehemalige Hausmeister des Geschlossenen Jugendwerkhofs, saß mit verschränkten Armen am Tisch in dem kleinen Raum des Torgauer Polizeigebäudes und sah erst Almgruber, dann Beate missmutig an.
»Dachte, der Tod des Direktors wäre ein Suizid gewesen«, brummte er. »Selbst …« Er machte eine Pause. »…mord.«
Beate nickte ihm zu und wollte etwas erklären, aber ihr Kollege kam ihr zuvor.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Josef Almgruber schroff.
Braun zuckte mit den Achseln. »Das hat doch dieser Genosse Volkspolizist gesagt. Ihr Kollege. Lehmann hieß der, richtig? Und der Arzt, Dr. Rehling, war auch der Meinung, dass es keine Hinweise auf Fremdverschulden gab. Soweit ich mich erinnere, waren genau das seine Worte.«
»Die Ermittlungen zu dem Fall wurden wieder aufgenommen«, erklärte Beate trocken. »Wir gehen noch einmal jedem Hinweis nach. Sie waren der Erste am Tatort?«
»Scheint so.«
»Erzählen Sie uns bitte, wie Sie den Toten auffanden.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kam an meine damalige Arbeitsstätte, schaute wie jeden Morgen nach dem Rechten und schloss die Türen auf für die Bauarbeiter, die im November 89 gerade die Fenstergitter entfernen und andere bauliche Maßnahmen durchführen sollten. Ein paar Gitter waren ja schon abmontiert, am Haus stand ein Gerüst, und ich hab gehört, dass da was klapperte.«
»Das kam Ihnen verdächtig vor?«, fragte Almgruber.
»Verdächtig wäre zu viel gesagt. Es klapperte ja öfter mal. Dann bin ich den Gang abgelaufen im mittleren Jungentrakt, in der zweiten Etage. Hab durch die Spione geguckt, ob alles in Ordnung ist. Und gehe dann weiter … und plötzlich bemerke ich eine Tür, die meiner Meinung nach abends noch verschlossen gewesen war und die jetzt halb offen stand … und gucke durch den Spalt, und dann sehe ich in dieser Zelle den Direktor baumeln.« Unwillkürlich griff er sich an den Hals. »Er hing an so einer Stange, die … Na ja, das wissen Sie ja alles. Kein schöner Anblick. Ich hab mich natürlich tierisch erschrocken, bin in das Erzieherzimmer gerannt und hab telefoniert. Dr. Rehling wurde von mir aus dem Bett geklingelt. Und dann rief ich auch die Polizei.«
»Haben Sie die Leiche berührt?«, wollte Almgruber wissen.
»Natürlich nicht. Das ist doch nicht gestattet, oder? Ich hatte sowieso den Eindruck, dass der Mann nicht mehr lebte. Aber ich bin ja kein Arzt, deswegen habe ich auch erst den Doktor angerufen.«
»Glaubten Sie gleich, als Sie den Toten fanden, er hätte sich das selbst zugefügt?«, fragte Beate.
Wolfgang Braun fuhr sich nervös durch sein struppiges rotes Haar. »Keine Ahnung. Da habe ich in dem Moment nicht drüber nachgedacht. Erst später. Also … na ja, die Berliner Mauer fällt um, und unmittelbar darauf hängt der Boss leblos in dem Reich, in dem er die uneingeschränkte Macht besaß. Es kam mir nicht ganz unwahrscheinlich vor, dass er sich umgebracht hat. Andererseits …« Braun fummelte eine zerquetschte rote Packung Pall Mall aus der Jackentasche, zog eine Zigarette heraus und steckte sie sich an.
»Andererseits?«, hakte Almgruber nach.
Braun inhalierte tief, und es dauerte eine Weile, ehe er den Qualm wieder ausstieß und weitersprach. »Der war eigentlich nicht der Typ dafür.«
»Warum nicht?«, fragte Beate.
»Weiß nicht. Es passte nicht zu ihm. Er war so ein absoluter Machtmensch und ein Kontrolleur. Und wenn man sich selbst wegmacht, hat man weder Macht noch Kontrolle mehr, oder?«
»Könnte man so sagen.« Josef Almgrubers Gesicht blieb ernst, aber Beate hörte den ironischen Unterton deutlich.
»Sie und der Direktor hatten nicht das beste Verhältnis?«, fragte sie.
»Sagt wer?«
»Für mich klingt es so, dass Sie der Tod Ihres Vorgesetzten nicht wirklich berührt hat.«
»Es ist ja auch ein Jahr her«, wich Wolfgang Braun aus. »Wir waren keine Freunde, falls Sie das wissen wollen.« Er stockte und bedachte Beate mit einem misstrauischen Blick. »Aber auch keine Feinde«, fügte er leise hinzu.
»Sie haben als Hundeführer gearbeitet, aber dann beschloss das Kollegium eines Tages, die Wachhunde abzuschaffen? Warum?« Almgruber sah ihn durchdringend an.
»Angeblich aus Kostengründen. Sie mussten ja jeden Tag gefüttert werden.«
»Es gab also plötzlich keine Aufgabe mehr für Sie, und der Direktor hat Sie entlassen«, stellte der Kommissar fest. »Da waren Sie doch sicher ziemlich wütend?«
»Zuerst schon. Aber dann wurde plötzlich die Stelle des Hausmeisters frei, da der Kollege nicht aus seinem Ungarn-Urlaub zurückgekehrt ist, weil er – wie sich später herausstellte – beim sogenannten Paneuropäischen Picknick im August zusammen mit Hunderten DDR-Bürgern nach Österreich geflohen war. Man setzte notgedrungen mich an seinen Platz, und mein Verdienst lag sogar etwas höher als vorher.« Braun blickte auf den Boden oder betrachtete seine Schuhe.
Es schien Beate, als würde er bestimmte Dinge für sich behalten. War es tatsächlich darum gegangen, die Tiere abzuschaffen, oder eher darum, ihn , einen unliebsamen Kollegen, aus dem Weg zu räumen?
»Und die Hunde?«, fragte Beate. »Tat es Ihnen nicht leid um die Hunde? Man baut doch im Lauf der Jahre eine Beziehung auf zu den Tieren, mit denen man täglich zu tun hat.« Sie versuchte, nicht an ihre Meerschweine zu denken.
Der Mann runzelte die Stirn. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und Beate kam es vor, als würden zwei haarige rote Raupen aufeinander zukriechen. Sie beobachtete ihn, irgendwie fasziniert: Von einem Moment auf den anderen veränderte sich seine Mimik, wurde düster.
»Er hat sie einschläfern lassen«, brachte er hervor.
Beate wartete, dass er von sich aus weiterreden würde, und starrte auf seine Hände, die sich auf der Tischplatte zu Fäusten ballten. Die Knöchel seiner Finger waren tätowiert, wie sie erst jetzt erkannte. Sie sah genauer hin. Es waren Buchstaben, die etwas dilettantisch aussahen. FUCK stand auf der linken Hand, LUCK auf der rechten.
»Wer?«, fragte sie schließlich. »Wer hat die Hunde einschläfern lassen?«
Braun schnaufte. Es klang irgendwie verächtlich. Oder auch empört. »Na, der Direktor.«
Beate schüttelte sich unwillkürlich, als wäre ihr plötzlich kalt. »Und da gab es keine andere Lösung?«
»Die hätte es sicher gegeben. Aber Karl Zinkner machte einfach immer, was er wollte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Auch wenn es um die Jugendlichen ging.«
»Sie waren mit seinen Erziehungsmethoden nicht einverstanden?«, fragte Almgruber.
»Nicht nur mit seinen. Auch mit denen der anderen Erzieher. Aber ich sollte mich nicht einmischen und die Klappe halten, wurde mir klargemacht.«
»Was hat Sie gestört?«
»Die Jugendlichen wurden nur angebrüllt. Es gab nie ein freundliches Wort. Sie mussten den ganzen Tag schuften und danach noch raus auf den Hof und diesen Extremsport absolvieren. Hunderte Liegestütze, Hockstrecksprünge, Kniebeuge, dann Runden rennen … Bei Wind und Wetter und in kurzem Sportzeug. Wenn sie nicht parierten, kamen sie in die Einzelzelle. Manchmal drei Tage, manchmal vier, fünf, sechs, sieben …« Er holte tief Luft. »Es gab welche, die sind durchgedreht, haben rumgeschrien. Sogar ihre Pritsche zerlegt, obwohl das kaum zu schaffen war, dieses Bretterbett kaputt zu kriegen, oder sie haben den Hocker gegen die Tür gedonnert. Die wurden dann in die Dunkelzelle in den Keller geschafft. Oder auch in den Fuchsbau. Manche kettete man an ein Gitter an und ließ sie dort stehen, bis sie aufhörten zu schreien.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Beate sah Andreas vor sich, dann Tanja und schließlich Maik. Blasse Gesichter, kurze Haare, leere Blicke. Was hatten sie in diesem Haus des Schreckens erlebt?
Sie schluckte. »Die Jugendlichen haben Ihnen also leidgetan?«, fragte sie.
»Man sagt ja, man gewöhnt sich an alles. Aber das stimmt nicht«, sagte Wolfgang Braun. »Ich habe spät Skrupel bekommen, das gebe ich zu, aber zum Schluss, also in der sogenannten Wendezeit, konnte ich diese Quälereien kaum noch ertragen.«
»Und? Was haben Sie getan?«, hakte Beate nach. »Welche Konsequenzen hatte ihr Gesinnungswandel?«
Wolfgang Braun antwortete nicht gleich. Er rauchte die letzten Züge seiner Zigarette und drückte die Kippe umständlich im Aschenbecher aus.
»Ich wurde etwas nachlässiger, was das Abschließen von Türen betrifft«, erklärte er schließlich zögernd.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Beate. »Das betraf auch den Arrestraum von Andreas?«
»Stimmt.«
»Da Sie ja für das Zuschließen nicht zuständig waren, gehe ich davon aus, dass Sie die Tür unerlaubterweise aufgeschlossen haben?« Beate lächelte ihn gezwungen an.
Er nickte. »Die von dem Vierzehnjährigen. Er wirkte immer wie ein Kind auf mich.«
»Wann genau haben Sie die Zellentür aufgesperrt?«, wollte Almgruber wissen.
Der Mann rieb sich die Stirn und überlegte einen Moment. »Der Andreas tat mir schon leid. Es hat mich traurig gestimmt, ihn da hocken zu sehen, in diesem Loch. Er ist noch so extrem jung, wissen Sie? So ein schmächtiger Junge. Soweit ich mich erinnern kann, hab ich die Tür am Abend des neunten November aufgeschlossen. Eigentlich hatte ich da schon Feierabend.«
»Warum?« Josef Almgruber beugte sich ein Stück weiter vor, als wollte er dem ehemaligen Hausmeister auf die Pelle rücken. »Wieso gerade an diesem Tag?«
»Es kam mir so widersinnig vor. Draußen, auf den Straßen von Torgau, rannten die Leute rum und demonstrierten für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, und da hockten zur gleichen Zeit noch welche in diesen kalten, düsteren Zellen. Absurd. In Torgau gab es erst an jenem neunten November 1989 die erste große Demonstration. Die Torgauer waren etwas spät dran, wenn man bedenkt, was schon lange in Leipzig los war.«
»Hat Sie jemand gesehen?«, erkundigte sich Beate. »Und hat Andreas bemerkt, was Sie taten?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war vorsichtig. Und sehr leise.«
»Und einige Zeit später haben Sie auch die Tür, hinter der Maik eingesperrt war, heimlich geöffnet?«, fragte sie weiter.
»Nee, bei dem hab ich das nicht gemacht.«
Almgruber hob überrascht den Kopf. »Warum nicht?«
»Er erschien mir … wie soll ich sagen … unberechenbar.«
»Aber seine Zelle war kurze Zeit danach auch auf einmal nicht abgeschlossen«, erklärte Beate. »Maik Kerner kam also heraus, stieß daraufhin auf Frau Hellermann und hat ihr den Schlüsselbund entwendet, sie in den Fuchsbau bugsiert und dort eingesperrt. So wie sie es mit ihm gemacht hatte. Er muss voller Hass auf die Erzieherin gewesen sein. Ein Wunder, dass die Situation nicht eskaliert ist und Frau Hellermann mit dem Schrecken davonkam. Und dann ergriff Maik die Gelegenheit und ist zusammen mit den beiden anderen Insassen abgehauen.«
Wolfgang Braun schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht. Echt nicht. Ich hab nur den Kerker von dem Andreas aufgeschlossen.«