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»Sie haben was ?« Beate Vogt stand mit einer halb gefüllten Kaffeetasse im Büro vor ihm und sah ihn erschrocken an.

»Er wird gerade abgeholt«, sagte Josef sachlich. Warum fand sie das so besonders? Aus seiner Sicht war das ein folgerichtiger Schritt. »Herr Wolter ist ein Verdächtiger«, erklärte er ihr. »Der Vater von Tanja war zur fraglichen Zeit, am Abend des 9. November, am Tatort. Sein Alibi ist seine zu dem Zeitpunkt im Trabi schlafende Frau. Sie konnte nicht mal angeben, wie lange er weg gewesen ist.«

»Aber wieso wird er abgeholt? Sie hätten ihn doch einfach herbestellen können.«

»Er hat sich unserer Befragung entzogen, schon vergessen?«

Die Fassungslosigkeit seiner Kollegin erstaunte ihn. Er war sich keiner Schuld bewusst. Er hatte alles richtig gemacht. Da gab es für ihn keinen Zweifel. Sie mussten den Mann noch einmal befragen.

»Im Moment ist er der Hauptverdächtige«, behauptete er, obwohl er sich alles andere als sicher war.

»Ach was? Wann haben Sie das denn entschieden? Und wieso lassen Sie ihn nach Leipzig holen, ohne das mit mir zu besprechen?«

Darum ging es also. Um die gekränkte Ehre oder die beleidigte Ostseele.

Jammerossi , dachte er. An diesem Begriff war schon was dran. Aber Beate Vogt fand vermutlich die Bezeichnung Besserwessi gerade auch recht treffend.

»Ich leite die Ermittlung«, sagte Josef. »Ich muss nicht jeden Schritt mit Ihnen absprechen.«

»Na, fantastisch«, erwiderte sie sarkastisch. »Sind wir nun ein Kollektiv, das zusammenarbeitet, oder nicht?«

»Wir sind ein Team«, antwortete er. »Ein Team, das ich leite.«

»Team … Kollektiv … Das ist doch dasselbe. Und man spricht sich ab, Herr Kollege! Was wollen Sie ihn denn fragen?«

»Ich will herausfinden, ob er weiß, dass seine Tochter von dem Direktor sexuell missbraucht worden ist. Das wäre nämlich ein Motiv.«

Beate Vogt schüttelte heftig den Kopf. »Das dürfen Sie ihn aber nicht direkt fragen. Denken Sie mal an Tanja! Sie hat mir diese schreckliche Geschichte anvertraut. Sie will bestimmt nicht, dass ihr Vater das von uns erfährt.«

Josef sah, dass ihre Hände vor Empörung zitterten. Etwas von dem restlichen Kaffee schwappte aus ihrer Tasse, ohne dass sie es zu bemerken schien.

»In erster Linie müssen wir einen Fall aufklären, oder sehen Sie das anders?« Ihre Gereiztheit übertrug sich allmählich auf ihn.

»Nein, aber wir haben auch eine Verantwortung für das Mädchen«, sagte sie. »Wir können das, was sie uns gebeichtet hat, nicht einfach weitergeben. Auch nicht an die Eltern.«

»Ich bin kein Priester. Bei mir kann man nichts beichten«, entgegnete Josef. »Aber ich werde versuchen, Ihren Wunsch zu berücksichtigen. Unter einer Bedingung.« Er blickte ihr einen Moment direkt in die Augen. »Halten Sie sich aus der Befragung heraus. Mir scheint, Sie sind befangen. Wenn er der Täter ist, ist er der Täter. Auch wenn seine Tochter gelitten haben sollte und noch leidet.«

Er sah, wie sie plötzlich blass wurde. Auf ihrer Stirn zeigten sich Furchen, die vorher nicht da gewesen waren.

War er zu weit gegangen? Aber er meinte, was er sagte. Ihr schien mehr an diesen Jugendlichen zu liegen als an der Aufklärung des Mordes.

Die Tür flog plötzlich auf, und Josef fuhr mit einem Ruck herum.

Arno Berg trat ein, in Begleitung eines jungen Mannes, den er nicht kannte.

»Und hier sehen Sie Ihre wichtigsten Kollegen! Hauptkommissar Almgruber und Kriminaloberassistentin Vogt. Sie ermitteln in dem Fall, von dem ich Ihnen eben schon berichtet habe.«

Der Leiter der Morduntersuchungskommission deutete jetzt auf seinen Begleiter.

»Darf ich vorstellen: Viktor Lüder aus Torgau. Er wird unser Team ab sofort verstärken.«

Josef reichte dem jungen Mann überrascht die Hand. Zwar hatte Berg davon gesprochen, dass sie mehr Personal bräuchten, aber die Einstellung eines neuen Kollegen mit keinem Wort erwähnt.

Lüder war unrasiert, nachlässig gekleidet und wirkte auf den ersten Blick drahtig und schüchtern. Doch der Druck seiner Finger war kräftig, wie Josef feststellte.

»Willkommen! Freut mich wirklich, Viktor, Sie hier zu sehen«, sagte Beate Vogt. »Ihr Berufswunsch ist also in Erfüllung gegangen.«

»Ich habe einfach nicht lockergelassen.« Ein stolzes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Ach, Sie kennen sich bereits!«, rief Arno Berg aus und hob beide Hände, als wollte er ihnen seinen Segen erteilen. »Wie schön!«

»Durch Frau Vogt hatte ich das erste Mal mit dem Fall zu tun«, erläuterte Viktor Lüder. »Genau genommen durch einen anonymen Brief, der an sie gerichtet war und der bei uns, bei der Torgauer Polizei, gelandet ist. Das hat natürlich mein Interesse geweckt.«

Arno Berg nickte übertrieben fröhlich. »Prima. Dann fangen Sie ja nicht bei null an, wenn ich das richtig sehe?«

»Nicht ganz«, antwortete er bescheiden. »Und meine Kollegen werden mich ja sicher schnell einarbeiten.«

»Natürlich«, sagte Josef. »Sie können gleich bei einer Vernehmung dabei sein und erst einmal zuhören, in Ordnung?«

Josef spürte den verwunderten Blick seiner Kollegin, der ihn streifte. »Zusammen mit Frau Vogt und mir«, ergänzte er vorsichtshalber.


Eine halbe Stunde später saß Herbert Wolter wie ein begossener Pudel vor ihnen, die Arme verschränkt, mit trotzigem Blick.

»Es tut mir leid, dass wir Sie herbringen lassen mussten. Aber das haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Wieso sind Sie denn bei unserer ersten Befragung weggelaufen?« Josef schob seinen Oberkörper ein Stück über den Tisch und blickte Wolter neugierig an. »Warum haben Sie nicht einfach unsere Fragen beantwortet?«

»Werde ich verdächtigt?«, fragte der Mann unwirsch zurück. »Ist das hier so was wie früher bei der Stasi: die Klärung eines Sachverhalts

Josef warf Beate Vogt einen fragenden Blick zu. Sie stand schweigend an die Wand gelehnt da. Klar, sie ließ ihn im Stich. Geschieht Ihnen recht, schien ihr Blick zu sagen. Viktor Lüder, der etwas abseits auf einem Stuhl saß, hob den Finger, wie ein Schüler, der sich bei seinem Lehrer lieb Kind machen wollte. Josef ignorierte ihn.

»Würden Sie bitte antworten, Herr Wolter!«, forderte er in scharfem Tonfall.

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Es hat sich angeboten. Einfach über das Feld wegzurennen, kam mir in diesem Moment als … ähm … Ausweg vor.«

Josef schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Sie wollten also nicht mit uns reden. Warum nicht?«

»Weil ich nichts beitragen kann, was Ihnen weiterhilft.«

»Deswegen rennt man weg?«

»Ich will mit diesem Direktor nichts zu tun haben! Das wollte ich nicht, als der lebte. Und das will ich auch jetzt nicht, wo er … tot ist.«

»Meinen Sie endlich tot?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber womöglich gemeint? Erzählen Sie doch mal, was Sie von dem Mann hielten, der Chef in der Umerziehungsanstalt in Torgau war.«

»Nichts.« Wolter schwieg einen Moment und kniff die Lippen zusammen, als würde er mit sich selbst ringen. »Er war einfach ein Schwein, das sich an seiner Macht ergötzt hat!«, brach es dann aber aus ihm heraus. »Ich hielt absolut gar nichts von ihm. Mir tat meine Tochter leid, und ich wollte sie da herausholen. Ich wollte sie befreien . Aber es führte kein Weg rein. Meine Frau und ich haben Eingaben geschrieben, uns in unserer Verzweiflung immer wieder an die Jugendhilfe gewandt und sogar an das Ministerium für Volksbildung. Alle zuständigen Organe haben gemauert. Als ich nicht nachließ, haben sie mir gedroht, mich anzuzeigen.«

»Wer?«

»Die von der Jugendhilfe. Sie drohten uns damit, dass wir das Erziehungsrecht endgültig verlieren und unsere Tochter nie wiedersehen. Der Referatsleiter kündigte an, dass er mich anzeigen würde, wenn ich mich weiter beschwere und Ärger mache.« Er holte tief Luft. »Und Zinkner hat dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt. Uns vorgeschrieben, wann wir Tanja besuchen dürfen und wann nicht. Meistens wurden unsere Besuchsanträge abgeschmettert. Der für den neunten November kam überraschenderweise durch. Niemand ahnte, dass das mal ein historisches Datum werden würde. Ich natürlich auch nicht. Meine Pläne, meine Tochter da rauszuholen, hatten sich nicht geändert. Deswegen bin ich abends noch einmal zu diesem Knastgebäude. Aber ich bin gar nicht bis zum Direktor gekommen. Da war so ein komischer Typ, wohl ein Wächter. Der hat mich abgewiesen.«

»Wissen Sie noch, was er genau gesagt hat?«, fragte Josef.

»Genau weiß ich das nicht mehr. Nur dass es zu spät wäre. Und der Direktor nicht mehr zu sprechen. So in etwa. Und dann hat er mir die schwere Tür vor der Nase zugeknallt.«

»Wie fühlten Sie sich in diesem Moment?«

»Wütend natürlich! Ich wollte meine Tochter mit nach Hause nehmen. Sie gehört zu uns, zu ihrer Familie! Und der Zinkner plante, Tanja nach dem Aufenthalt im geschlossenen Jugendwerkhof noch in irgendein Wohnheim zu stecken. Das erfuhren meine Frau und ich bei dem Gespräch mit meiner Tochter, bei dem der Direktor ja dabei war. Er tat so, als wäre das schon klar, dass sie nicht zu uns zurückkehrt. Sie sollte in dieses Wohnheim unter seiner Leitung, nehme ich an, da sich der Torgauer Werkhof ja aufgelöst hat und er seinen Job loswurde.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum er das ausgerechnet mit ihrer Tochter vorhatte?«

Wolter fuhr sich nervös durch sein strähniges Haar. »Er wollte sie weiter beaufsichtigen, kontrollieren und manipulieren. Sie und die beiden anderen Jugendlichen, die zum Schluss noch übrig waren.«

»Ja, aber weshalb?«

»Woher soll ich das wissen?«

Josef beobachtete sein Gegenüber genau. Er wirkte angespannt, sein Gesicht verfärbte sich in ein zorniges Dunkelrot, aber er schien tatsächlich ahnungslos zu sein, was den Missbrauch betraf.

»Wissen Sie, welches Verhältnis der Direktor zu Ihrer Tochter hatte?«, unternahm Josef noch einen Versuch.

»Was soll das denn nun wieder heißen?«

»Antworten Sie bitte.«

Herbert Wolter schnaubte verächtlich und warf einen Blick zu Beate Vogt hinüber. »Soweit ich weiß, hat Ihre Kollegin schon ausführlich mit meiner Tochter über dieses Thema gesprochen. Vielleicht fragen Sie ja sie?«

»Herr Wolter!«, sagte Josef leicht entnervt. »Es wäre in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie sich kooperativer verhalten würden. Ich frage noch einmal: Welches Verhältnis hatte nach Ihrer Ansicht Karl Zinkner zu Ihrer Tochter?«

»Gar keins. Er war nur ein Handlanger des Systems, einer von vielen. Eine Marionette von Margot Honecker und der SED. Vielleicht hatten auch Horch und Guck die Finger im Spiel.«

»Horch und Guck?«

Wolter warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Die Stasi. Wir wollten in den Westen. Meine Frau, Tanja und ich. Wir hatten einen Antrag auf Übersiedlung gestellt und saßen quasi auf gepackten Koffern. Meine Tochter in den Geschlossenen Werkhof zu stecken war eine Möglichkeit, unsere Ausreise zu verhindern.«

Josef fiel keine passende Erwiderung dazu ein. Spielte die Politik in dem Mordfall eine Rolle? Und wenn ja, welche? Diesmal verzichtete er jedoch darauf, Beate Vogt, die das Verhör schweigend verfolgte, fragend anzusehen.

»Sie geben also zu, dass Sie wütend waren, als Sie von dem Wachmann abgewiesen wurden. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin zum Trabi zurück, zu meiner Frau, und wir sind nach Hause gefahren.«

»Wirklich? Sie haben nicht versucht, in das Gebäude einzudringen, um vielleicht Ihre Tochter zu befreien, wie Sie vorhin ausgesagt haben? Und Sie sind bei Ihrem Befreiungsversuch nicht zufällig auf den Direktor der Einrichtung gestoßen?«

»Blödsinn!«, stieß Tanjas Vater verächtlich aus. »Fragen Sie doch diesen Wachmann. Ich bin sicher, er hat mich beobachtet und genau geschaut, ob ich wirklich verschwinde.«

»Das werden wir.«


Josef verabschiedete Herrn Wolter höflich und drückte die Tür hinter ihm ein wenig zu heftig ins Schloss.

Er fragte sich, warum Beate Vogt so viel an diesem Mann lag, dass sie darauf bestand, ihn mit Samthandschuhen anzufassen. Wenn er ein Tatverdächtiger war, war er ein Tatverdächtiger. Punkt. Wie es ihm schien, ging es seiner Kollegin nicht um Herrn Wolter an sich, sondern darum, Tanja zu schützen. Sie sorgte sich zu sehr um diese Problemkids. Ihr fehlte der professionelle Abstand, und das konnte aus seiner Sicht die Ermittlung gefährden. Erkannte sie ihn überhaupt als ihren Chef an? Nach allem, was er über sie wusste, war sie noch recht unerfahren bei der Mordkommission. Trotzdem ließ sie sich von ihm, einem »alten Hasen« und Profi, nichts sagen. Konnte er es sich leisten, einer Kollegin zu vertrauen, die sich aus seiner Sicht dilettantisch und unprofessionell verhielt? Immerhin war er extra in die Zone gekommen, um seinen Kollegen aus dem Osten das Ermitteln nach rechtsstaatlichen Prinzipien beizubringen – ohne Bevormundung durch die SED, die Zusammenarbeit mit dem MfS zum einen, aber zum anderen auch ohne sentimentale Befindlichkeiten, wie sie Beate Vogt an den Tag legte. Wenn es um Andreas oder Tanja ging, handelte die Frau eher wie eine engagierte Sozialarbeiterin und nicht wie eine kühl überlegende Polizistin. Sie konnten jedoch nicht auf die verletzten Seelen von Jugendlichen Rücksicht nehmen, wenn es darum ging, einen Mord aufzuklären.

Josef griff kurz entschlossen zum Telefonhörer und rief Arno Berg an. Er berichtete ihm über die Vernehmung des Tatverdächtigen Wolter, dann wechselte er abrupt das Thema und kam auf die Zusammenarbeit mit Frau Vogt zu sprechen.

»Ich betätige mich gern als Aufbauhelfer«, sagte er etwas ironisch. »Aber ich brauche Klarheit, grünes Licht für meine Ermittlung, ohne dass mir meine Kollegin dazwischenfunkt.« Er erzählte Berg knapp, woran es in der Zusammenarbeit aus seiner Sicht haperte. Berg schien ihm zuzuhören. Verstand er ihn auch?

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Frau Vogt ist eine sympathische, fähige und kluge Kollegin. Ich bin sicher, dass sie ein gutes Gespür hat und Andreas finden wird. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die nötige Reife für eine Mordermittlung besitzt. Vorsichtshalber wollte ich Sie darauf hinweisen, dass sich da ein Konflikt anbahnt. Und zwar sollten Sie als unser Vorgesetzter darauf reagieren, bevor dieser womöglich noch eskaliert.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte sein Chef schließlich.

Josef wartete einen Moment, ob er noch etwas hinzufügen würde. Doch Arno Berg legte einfach auf.

Erleichtert stieß Josef einen leisen Pfiff aus. Er hatte eine langwierige, unangenehme Diskussion befürchtet. Aber wie es aussah, akzeptierte Berg seine Einwände.