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Beate lief verwirrt in ihrer Wohnung umher. Irgendetwas wollte sie doch gerade tun. Bloß was?

Das, was sie immer tat, bevor sie zur Arbeit fuhr: ihre Meerschweinchen füttern. Doch die waren noch nicht wieder aufgetaucht. Kein Nachbar hatte etwas gesehen oder gehört. Kein anonymer oder sonstiger Hinweis war bei ihr eingegangen.

Die Verpflichtung, sich um die Tiere zu kümmern, spürte sie jedoch jeden Morgen und auch abends, wenn sie zu Hause eintraf. Lebten die Schweinchen überhaupt noch? Sie versuchte den Gedanken beiseitezuschieben.

Wenigstens hatte sie jetzt keinen Grund mehr, zu spät zur Arbeit zu kommen.

Steffen wartete ausgehfertig an der Tür auf sie. Wahrscheinlich stand er dort schon ein paar Minuten herum. Er lächelte sie an – ein nachsichtiges Lächeln, so kam es ihr vor. Du bist langsam wie eine Schnecke, aber das stört mich nicht sonderlich. Natürlich würde er das nie sagen. Er war freundlich zu ihr, aufmerksam, versuchte zu erraten, was sie sich wünschte. Sogar im Bett. Oder gerade dort. Er schien sie wirklich zu mögen. Er mochte sogar, dass sie Motorrad fuhr. Gestern waren sie zu zweit auf ihrer MZ durch Leipzig gefahren. Er schien nichts dabei zu finden, dass er hinter ihr saß und sich an ihr festklammerte wie ein Äffchen – besonders, wenn sie Vollgas gab. Ihm zuliebe raste sie nur kurz, vielleicht fünf Minuten, durch die Stadt. Auf dem fahrbaren Untersatz war sie normalerweise alles andere als langsam.

Vielleicht trödelte sie auch deswegen herum, weil heute eine Sitzung anstand?

Das Verhältnis zu Almgruber hatte sich merklich abgekühlt. So ganz erklären konnte sie sich das nicht. Eigentlich hatten sie anfangs gut zusammengearbeitet, aber jetzt ging er seine eigenen Wege, informierte sie nur, wenn es sich nicht länger vermeiden ließ. Das kam ihr seltsam vor und machte sie sauer. Vermutlich war das Arno Berg auch langsam aufgefallen. Kollegen, die sich lieber aus dem Weg gingen, waren kein neues Phänomen bei der MUK.

Auch mit Lehmann hatte sie das so praktiziert und er mit ihr. Sie hatten zwar zusammengearbeitet, das Nötigste geredet und die tägliche Arbeit, soweit das sein musste, gemeinsam bewältigt, doch ansonsten hatten sie Abstand gehalten und nichts voneinander gewusst. Offenbar wiederholte sich das Ganze nun, nur unter anderem Vorzeichen. Warum? Weil sie eine Frau war? Vermutlich verstand Josef Almgruber aus Nürnberg nicht, dass eine Frau mitunter den Ton bei der Ermittlung angab, wenn sie sich einfach mal besser auskannte. Die Frauen im Westen arbeiteten ja oft nicht, sondern kümmerten sich um Haushalt und Kinder. Bestenfalls wurden sie Lehrerinnen oder Kindergärtnerinnen oder auch Sekretärinnen, die ihren männlichen Chefs den Kaffee servierten und hinterher auch noch die Tassen abwaschen mussten.

Wäre sie im Westen Polizistin geworden? Oder hätte sie statt vier Meerschweinchen indessen vier Kinder? Sie musste grinsen und grinste Steffen an. Er verstand das wohl falsch, nahm sie in den Arm und küsste sie. Auch gut.


Als sie den Versammlungsraum betrat, bemerkte sie als Erstes Arno Bergs Gesichtsausdruck. Er wirkte gequält, als hätte er Zahnschmerzen.

Sie tat so, als würde sie die schlechte Stimmung ihres Chefs nicht bemerken, und grüßte mit einem saloppen »Hallo!« in die Runde, die noch nicht vollzählig war. Steffen würde in fünf Minuten eintreffen. Sie wollten vorerst ihr Techtelmechtel für sich behalten. Bisher wusste Beate nicht, ob sich aus ihrer Liaison mehr oder gar etwas Dauerhaftes entwickeln würde.

Viktor Lüder saß mit einem Stapel Akten vor sich am Tisch, lächelte ihr zu, grüßte zurück und blätterte eifrig weiter in einem Ordner. Sie sah, dass er sich etliche Stellen mit Lesezeichen markiert hatte.

»Grüß Gott«, sagte Josef Almgruber, als er eintrat, und korrigierte sich gleich selbst. »Guten Morgen, die Herrschaften!«

Beate fragte sich, ob sie auch zu dieser Herrschaft dazugehörte oder er nur die Männer meinte. Aber das war vielleicht ein bisschen ungerecht. Immerhin war ihm schon aufgefallen, dass auf »Grüß Gott« hier niemand reagierte oder höchstens von irgendwo ein albernes »Ebenso« erklang.

Wie sollte man Gott auch grüßen? Und grüßte Gott eigentlich irgendwann mal zurück?

»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Arno Berg, als alle Kollegen anwesend waren und Steffen – etwas auffällig – sich recht dicht neben ihr niederließ. »Mit Hauptkommissar Almgruber zusammen habe ich mir Gedanken gemacht, wie wir unsere Arbeit im Fall Zinkner effektiver gestalten können.«

Beate wurde hellhörig. Sie war mal wieder nicht eingeweiht worden. Von dem Vorgespräch hatte sie nichts mitbekommen.

»Da wir jetzt einen Kollegen mehr an Bord haben, können wir die Ermittlungsarbeit anders einteilen: Ab sofort ermitteln Almgruber und Lüder im Mordfall Karl Zinkner. Und Beate Vogt geht dem Vermisstenfall Andreas Schwalbe nach. So haben wir eine gute Einteilung, denke ich, und kommen hoffentlich schneller voran.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Beate blickte zu ihrem Westkollegen hinüber. Für sie war klar: Er hatte sie eiskalt ausgebootet.

»Außerdem wird Kollege Steffen Grabowski vorübergehend von seinem Posten als Kriminaltechniker abkommandiert und unterstützt Kollegin Vogt bei der Suche nach dem verschwundenen Minderjährigen.« Arno Berg holte tief Luft und stieß sie mit einem deutlich hörbaren Seufzen wieder aus.

Beate redete, ohne abzuwarten, dass sie von ihrem Chef dazu aufgefordert wurde. »Du weißt, dass die Fälle zusammenhängen. Aus meiner Sicht macht es wenig Sinn …«

»Eine Diskussion ist hier nicht vorgesehen«, fiel Berg ihr ins Wort. »Wir haben das gemeinsam entschieden, der Leiter der Ermittlung und ich. Wir brauchen endlich Resultate, Beate!« Er lachte kurz auf. »Das reimt sich sogar«, murmelte er. »Wir brauchen Resultate . Beate .« Er hob die Hände, als erwartete er für seine Dichtkunst Beifall. »Es ist keine Entscheidung gegen dich. Versteh das bitte nicht falsch. Du hast sehr gute Arbeit geleistet. Aber wir müssen einen Gang zulegen, auch um Andreas schnellstmöglich zu finden und ihn aus der Gefahrensituation, in der er sich womöglich oder sehr wahrscheinlich befindet, herauszuholen.«

Beate lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Jetzt führst du dich auf wie früher, Arno«, sagte sie bockig. »Genosse Major.«

Berg schlug jäh mit der Faust auf den Tisch. »Was erlaubst du dir? Möchtest du lieber suspendiert werden?«

Beate bemerkte, dass eine Ader an seiner Schläfe anschwoll, und schwieg. Sie war selbst ein wenig überrascht über ihre Respektlosigkeit. Wütend starrte sie zu Josef Almgruber hinüber, dem sie diese Demütigung zu verdanken hatte. Er hielt den Blick gesenkt. Hoffentlich schämt er sich wenigstens, dachte sie.

»Ich gehe mal nicht davon aus, dass wir dich von dem Fall abziehen müssen«, redete ihr Chef in einem plötzlich versöhnlichen Ton weiter. »Wir brauchen da jeden Mann. Und ähm … jede Frau … also dich. Gab es in letzter Zeit irgendwelche neuen Erkenntnisse?«, kam er hastig zum nächsten Thema. »Herr Almgruber, können Sie uns etwas über die Ergebnisse der Vernehmungen mitteilen?«

Almgruber zuckte mit den Schultern. »Ich kann leider von keinem Durchbruch berichten. Die Protokolle der Vernehmungen haben Sie ja erhalten. Herbert Wolter, den Vater von Tanja, würde ich weiterhin als Verdächtigen nicht ausschließen. Aber die Indizien haben nicht ausgereicht, um ihn festzusetzen.«

»Tja«, sagte Berg und rieb sich missmutig dreinblickend die Wange.

Vielleicht hat er ja tatsächlich Zahnschmerzen?, fragte sich Beate. Andererseits war wirklich mager, was Almgruber da vorbrachte.

»Die Verdachtsmomente gegen Herrn Wolter reichen bei Weitem nicht aus«, stellte sie fest. »Zwar hat er sich verdächtig verhalten, das heißt aber noch lange nicht, dass er auch verdächtig ist.«

»Gut, dann sind Sie ja einer Meinung«, behauptete Berg großzügig. »Gibt es sonst noch Neuigkeiten? Dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, diese vorzubringen.«

Viktor Lüder meldete sich beflissen. Auch Steffen hob kurz die Hand.

»Herr Grabowski? Bitte!«, forderte Arno Berg ihn zum Sprechen auf.

»Hm, na ja, ich bin mir nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hat«, schickte Steffen vorweg. »Aber ich war neulich in der offenbar geheim gehaltenen Zweitwohnung des Direktors Zinkner, in der er angeblich ein Wohnheim für Minderjährige einrichten wollte. Die Spuren stammten, wie schon vermutet, von ihm, von Tanja Wolter und Andreas Schwalbe. Es gab weitere Fingerabdrücke, die ich noch nicht zuordnen konnte. Aber das Besondere war etwas anderes: Auf dem Flur habe ich eine Luke in der Decke entdeckt. Sie war überklebt mit Raufasertapete, aber die Umrisse schimmerten leicht durch. Mit einem Cuttermesser habe ich die Luke freigelegt, und als ich den Deckel vorsichtig öffnete, kam mir eine Falttreppe entgegen. Da oben war eine Art Dachkammer ohne Fenster. Ausgestattet nur mit einer Pritsche und einem Kübel. Für mich sah das aus wie eine Zelle.«

Beate warf ihm von der Seite einen überraschten Blick zu. Bisher hatte er ihr von seiner Entdeckung noch nichts erzählt.

»Ich war mir nicht sicher, ob dieser Fund relevant ist«, erklärte er, als würde er ihre Verwunderung spüren. »Schließlich ermitteln wir ja nicht gegen den Toten.«

Arno Berg nickte nachdenklich. »Jeder Hinweis kann weiterhelfen. Und wir wissen offenbar längst nicht alles über die Hintergründe des Falls. Gibt es Fragen dazu an Herrn Grabowski?«

Niemand sagte etwas.

»Und unser neuer Kollege hat auch etwas zu berichten?«

Viktor Lüder lief rot an, als müsste er vor einer Schulklasse ein Gedicht aufsagen. Sogar seine Ohren verfärbten sich.

»Ich bin die Akten durchgegangen, von den Jugendlichen, aber auch die von den Mitarbeitern des Geschlossenen Jugendwerkhofs in Torgau. Und ich habe nachrecherchiert, ob die Angaben stimmen oder was dahintersteckt, wenn mir etwas seltsam vorkam. Es gibt einige Auffälligkeiten in den beruflichen Werdegängen und Lebensläufen.«

»Schießen Sie los!«, forderte Arno Berg. »Wir sind ganz Ohr.«

Beate, die einen Hang dazu hatte, sich Redewendungen bildlich vorzustellen, schüttelte sich kurz. Dennoch interessierte sie, was der Neue herausgefunden hatte.

»Dass die wenigsten der Erzieher ausgebildete Pädagogen sind, wissen Sie ja wahrscheinlich schon. Es zeigt sich in den Vorgeschichten, dass das Personal teilweise aus verschiedenen Einrichtungen strafversetzt wurde.« Viktor Lüder hob den Kopf und sah in die Runde. »So ist Frau Hellermann in einem anderen Jugendwerkhof auffällig geworden, weil sie ein Verhältnis zu einem minderjährigen Insassen hatte. Das steht natürlich nicht in ihrer Akte. Aber ich konnte alte Kollegen von ihr ausfindig machen, die mir von der Versetzung und dem Anlass dafür erzählten. Herr Spieß hat vorher im Strafvollzug gearbeitet und wurde ebenfalls zwangsversetzt. Den Grund wollte man mir am Telefon leider nicht nennen. Da bin ich noch dran. Der Wachmann Georg Bruckner hat angegeben, dass er bei der NVA gedient und anschließend in der Psychiatrie als Pfleger arbeitet hatte, bevor er schließlich vom Werkhof Torgau übernommen wurde. Tja, und jetzt kommt’s: Meine Nachforschungen haben ergeben, dass Herr Bruckner wegen eines Vorfalls an der Grenze unehrenhaft aus der Armee entlassen worden war. Er hat auch nicht in der Nervenklinik in Leipzig gearbeitet, sondern war dort Insasse, bevor er in der Umerziehungseinrichtung in Torgau als Wächter angestellt wurde.«

Arno Berg horchte auf. Beate bemerkte, dass sich seine Mimik schlagartig veränderte. Seine Augen begannen beinahe zu funkeln.

»Leute, das klingt ja richtig nach einer heißen Spur!«, rief er aus. »Gute Arbeit, Viktor!«

Lüder lächelte verlegen, immer noch knallrot im Gesicht.

»Dann nehmen Sie sich diesen Bruckner mal zur Brust, Kollegen!«, ordnete Berg an.

Beate registrierte stillschweigend, dass sie nicht gemeint war. Unwillkürlich dachte sie an ihr altes Kinderbuch Urfin und die Holzsoldaten . Georg Bruckner hatte tatsächlich merkwürdig und etwas unheimlich auf sie gewirkt und sie an diesen Urfin erinnert. Aber dann hatte er ihr geholfen, die vermisste Erzieherin, Frau Hellermann, zu finden. Was sagte es schon über ihn aus, dass er in einer psychiatrischen Klinik gewesen war? Jeder konnte dort landen.

Aber wie auch immer: Sie war raus. Nicht ganz. Aber doch … irgendwie.

Ihr blieb Andreas. Die Suche nach ihm.

Vielleicht hatte Berg sogar recht. Vielleicht war es für sie wichtiger, den Jungen zu finden. Lebend .

Es klopfte an der Tür, im nächsten Moment trat Moni, die Sekretärin, ein und blieb zögernd stehen.

Alle blickten zu ihr – vielleicht in der Hoffnung, dass sie ihnen Kaffee bringen würde. Doch sie hatte weder Thermoskanne noch Tassen dabei, stattdessen sah sie betrübt zu Beate hinüber.

»Ich habe gerade einen Anruf von Tanjas Mutter erhalten.« Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, und Beate fuhr der Schreck in die Glieder.

Bitte nicht, dachte sie.

»Ihre Tochter ist … wohl weggelaufen.«

Beate atmete auf. Wegzulaufen war für Tanja nun nichts Neues und vielleicht sogar ein gutes Zeichen, dass sie wieder aktiv wurde, aus ihrer Lethargie erwachte.

»Sie hat einen Zettel mit der Bemerkung hinterlassen, dass sie nach Andreas suchen wolle. Und nach … ähm ja … also auch nach dem Mörder des Direktors, damit man ihren Vater nicht mehr verdächtigt.«

Die Blicke wandten sich von der Sekretärin ab und Beate Vogt zu. Das war jetzt ganz klar ihre Angelegenheit.