Tanja saß in dem Bus, die Hände lagen auf ihrem Schoß, die Finger gespreizt, bewegungslos, und sie sah aus dem Fenster. Andreas hatte ihr in Torgau, in der Zeit, als sie heimlich in der Wohnung des Direktors hausten, die Adresse seiner Großmutter genannt. Zu seiner Mutter hatte er keinen Kontakt mehr. Seinen Vater kannte er nicht.
Vielleicht war er ja bei seiner Oma untergetaucht?
Die Adresse war in ihrem Kopf hängen geblieben: Ein kleines Haus am See, so hatte er es beschrieben, in einem Dorf, wenige Kilometer entfernt von der nächsten Stadt, die Herzberg hieß. Ein ideales Versteck, wenn man seine Ruhe haben wollte.
Tanja versuchte, ruhig zu atmen und die Landschaft zu sehen, durch die sie fuhr. Sie dachte: Ich sehe mir die Landschaft an. Sie dachte: dieser Baum, dieses Haus, das Glitzern auf den gefrorenen Feldern. Sie sah hinaus, und es kam ihr merkwürdig vor, dass da oben der Himmel war und unter ihr die Erde. Es kam ihr vor, als wäre es in Wirklichkeit umgekehrt. Die Sonne war nicht zu sehen, aber die Erde drehte sich um sie. Vielleicht hing Tanja gerade mit dem Kopf nach unten wie eine Fledermaus. Der Bus rollte über den Globus, und sie saß in ihm gefangen, und sie konnte jederzeit in den Himmel stürzen. Der Mond war nicht zu sehen, aber er drehte sich gerade jetzt um die Erde. Vielleicht fing der Mond sie ja auf, wenn sie durch die Wolken fiel.
Sie musste daran denken, wie sie mit dem Direktor in seinem Auto durch die Gegend gefahren war. Nicht durch diese hier – die war flach und unspektakulär –, sondern durch die bergige waldreiche Gegend im Harz und anschließend im Thüringer Wald. Er hatte komisch gerochen: Das süßliche Parfüm konnte den Schweißgeruch kaum überdecken. Ihr war immer übel davon geworden. Und manchmal hatte sie das Fenster ein Stück heruntergekurbelt. Sie wusste damals, dass er das nicht mochte. Glaubte er, sie würde um Hilfe schreien? Sie schrie nie um Hilfe. Sie fügte sich in ihr Schicksal und wartete einfach die Zeit ab.
Jede Zeit verging doch irgendwann, oder nicht? Jeder Schrecken war auch mal zu Ende.
Sie hatte sich stets nackt gefühlt in seiner wuchtigen Nähe, dumm, zerbrechlich wie ein ausgepustetes Ei. Er könnte ihre Schale mit dem kleinen Finger zerbrechen. Glaubte sie. Nein, wusste sie. Und nun war dieser Mann tot. Es gab keinen Grund mehr, an das Schlimme zu denken, auch nicht an die Zellen von Torgau.
Wieso dachte sie trotzdem ständig daran?
Die Kirchenglocken läuteten in dem Dorf, in dem der Bus hielt. Für sie hörte es sich so an, als würden die Töne sie empfangen. Ein beruhigendes Geräusch. Sie brauchte beruhigende Geräusche.
Tanja hielt den Blick auf das Kopfsteinpflaster gesenkt. Es gab keinen Fußweg. Der Zaun an der Haltestelle schubste sie direkt auf die Straße, und es kam ihr seltsam vor, über diese Buckel zu laufen, die aussahen wie kleine nackte Schädelkuppen. Irgendwie mühsam löste sie sich von dem Anblick und schaute hinauf. Der Himmel über ihr war weiß und leer. Kein Vogel zu sehen, nicht einmal eine Krähe, die doch überall waren, erst recht kein Rabe. Vielleicht würde es bald schneien. Vielleicht würde die Welt bald umkippen. Sie dachte an ihre Mutter. Sie kam sicher gerade nach Hause in diesen verdreckten Hosen, die sie bei der Arbeit trug und die Tanja an ihr hasste. Ihre Mutter würde einen Apfel schälen und in Stücke schneiden und damit in Tanjas Zimmer kommen – um ihr »Vitamine« zu bringen, wie sie die zerstückelte Frucht nannte. Und feststellen, dass ihre Tochter nicht mehr dort lag, wo sie sonst gelegen hatte: in ihrem Bett. Sie würde den Brief finden, in dem Tanja ihr erklärte, was sie erklären musste. Ihre Mutter machte sich sicher Sorgen, das hatte sie nicht verdient.
Ihr Vater war an dem Tag nach dem Verhör bei der Polizei spät in der Nacht gekommen. Betrunken. Seine Schritte waren durch die Wohnung getapst. Ihr Vater hatte irgendetwas umgerissen. Vielleicht die alte Stehlampe, die aussah wie aus dem Museum. Etwas hatte gerumst und geklirrt.
»Sie denken, dass ich der Mörder bin«, hatte er gelallt – zu niemand Bestimmtem, nicht zu ihr, zu sich selbst vielleicht – und sich auf das Sofa fallen lassen.
Als sie am Morgen davonschlich, schlief er noch. Sie hörte sein Schnarchen, das sich mit dem Lärm aus dem Fernseher mischte. Der Fernseher musste die ganze Nacht gelaufen sein. Er hatte wohl vergessen, ihn auszuschalten.
Die Türklinke in der Hand, hatte Tanja darüber nachgedacht, ob es ihre Schuld war, dass sie ihn abgeholt hatten, ihn für den Mörder hielten.
Sicher. Ohne sie wäre das nicht passiert.
Wie war das möglich, dass alles so leicht kaputtging? Wie konnte es sein, dass diese Polizisten so falschlagen?
Ihr Vater hatte niemanden umgebracht.
Sie war sich ziemlich sicher, dass Andreas den wahren Täter kannte. Dass er mehr wusste, als er sagte. Aus Misstrauen? Angst? Oder um sie zu schützen?
Als Mitwisserin wäre sie doch auch in Gefahr, oder?
Das kleine Haus wirkte schief, als hätte ein Sturm es zur Seite geschoben. Der Name auf dem verwitterten Holz des Eingangstores stimmte mit dem Namen in ihrem Kopf überein. Sie war hier richtig. Auch wenn der See, von dem Andreas erzählt hatte, eher ein mickriger Teich war, der einige Meter entfernt lag.
Zaghaft drückte Tanja auf den Klingelknopf und wartete. Nichts geschah. Sie spähte zu dem Haus hinüber. Die Gardine hinter dem Fenster bewegte sich nicht. Kein Licht war eingeschaltet.
Tanja klingelte erneut. Diesmal dreimal hintereinander.
Nichts.
Mit zwei Fingern tippte sie die Pforte an – und siehe da, sie gab mit einem leisen Quietschen nach und öffnete sich.
Vorsichtig blickte sie sich um. Wurde sie beobachtet? Von irgendwelchen misstrauischen Nachbarn? Zu sehen war jedenfalls niemand. Das Dorf wirkte wie ausgestorben.
Sie drückte wieder auf die Klingel, und diesmal lief sie einfach los, auf das Haus zu. Vielleicht war Andreas’ Oma ja auch schwerhörig. Sie wollte herausfinden, ob sie zu Hause war, und wenn nicht, würde sie wieder verschwinden und ein anderes Mal wiederkommen.
Die Beete vor dem Haus waren mit Gras, welken Blättern und Unkraut überwuchert. Aber das musste ja nichts bedeuten.
Dass niemand auf ihr Klopfen reagierte, wunderte sie nun nicht mehr. Die Tür war abgeschlossen. Tanja ging schnell um das Haus herum. Ihre Blicke huschten über einen zugewucherten Garten, einen Maschendrahtzaun, dahinter lag Wald. Wirklich ein ideales Versteck. Früher oder später würde Andreas hier auftauchen, war sie sich sicher.
Vorsichtig drückte sie die Klinke der Hintertür hinunter. Sie gab nach. Die Tür klemmte etwas und scharrte über die Holzdielen. Tanja schob sich in das Halbdunkel hinein. »Hallo?«, rief sie. »Jemand zu Hause?«
Das Haus blieb still, als würde es den Atem anhalten. Tanja tastete sich weiter vor, an einem Tisch entlang, bis in eine kleine Küche hinein. Es roch ein wenig muffig, aber nicht so sehr, dass es sie störte. Ein Kühlschrank begann zu brummen, wie ein Tier, das Wache hielt und den Eindringling anknurrte. Er war fast leer. Ein Stück Butter, eine halbe Salami, ein Glas Marmelade, ein paar Eier und Mohrrüben und eine angebrochene Flasche Schnaps.
Vielleicht war die Großmutter von Andreas ja einkaufen und würde gleich zurückkehren? Mit etwas Glück war ihr Enkel sogar bei ihr?
Tanja zögerte nun doch, das Haus wieder zu verlassen. Es erschien ihr sinnvoller, hier zu warten. Sie ging ins Wohnzimmer, den hellsten und größten Raum, und setzte sich in einen Sessel, der direkt am Fenster stand. Wenn jemand kam, würde sie es ja sehen. Und wenn Andreas’ Großmutter erschien, konnte sie sich immer noch durch die Hintertür hinausschleichen, um vorn an der Pforte zu klingeln oder aber an der Haustür zu klopfen. Ein simpler Plan, aber etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.
Sie musste sich auch einfach ein Weilchen ausruhen. Der Weg bis hierher hatte sie erschöpft. Ihr Zuhause in den letzten Wochen und Monaten war ihr Bett gewesen, das sie nur selten verlassen hatte.
Nach einer Weile begann sie zu frieren. Sie erhob sich und sah sich nach einer Heizung um, die sie einschalten konnte. Da war nur ein Ofen, ein kleiner Kachelofen. Er war kalt; geheizt hatte heute noch niemand.
Über der Sofalehne hing eine Wolldecke, und Tanja legte sie sich um die Schultern. Ein wenig fühlte sie sich selbst wie eine alte Frau, die, eingehüllt in eine Decke, hinter der Gardine darauf lauerte, dass etwas geschah.
Und früher oder später würde dieses Etwas passieren. Was immer es auch war: Es existierte schon. Es existierte irgendwo da draußen und fühlte sich bedrohlich an.