Josef klimperte ungeduldig mit dem Autoschlüssel herum. Das Zeichen zum Aufbruch war doch nicht misszuverstehen, oder? Am Morgen hatte er den Opel aus der Werkstatt abgeholt. Er wollte endlich los. Doch Viktor Lüder saß immer noch über eine Akte gebeugt an einem wackligen Schreibtisch im Torgauer Behelfsbüro, das ihnen für die Ermittlung vor Ort zur Verfügung stand, knabberte wie ein Zwölfjähriger an einem Kugelschreiber herum und kritzelte ab und zu etwas in sein Notizbuch.
»Die Adresse haben wir?«, fragte Josef vorsichtshalber.
Lüder nickte, ohne aufzusehen, erhob sich aber schließlich.
Josef drängte es, dem Verdacht nachzugehen und den Wachmann zu überprüfen. Wieso war er nicht schon eher auf ihn gekommen? Schließlich hatte dieser Bruckner hauptsächlich nachts in dem Gebäude gearbeitet. Er musste also auch in der fraglichen Nacht vom 9. zum 10. November letzten Jahres Dienst geschoben haben.
Der Neue trank noch den letzten Schluck kalten Kaffee im Stehen und setzte die Tasse sorgfältig auf den Unterteller ab. »Let’s go!«, rief er plötzlich und klatschte zweimal in die Hände.
Josef zuckte zusammen und starrte ihn einen Moment befremdet an. Aber dann nickte er dem jungen Kollegen zu. »Ja, wir sollten keine Zeit mehr verlieren.«
Dass Lüder noch etwas grün hinter den Ohren war, konnte er ihm ja kaum übel nehmen. Motiviert schien er zu sein. Und sicher war er besser formbar als Beate Vogt und tat, ohne seine Anweisungen erst mal anzuzweifeln und zu hinterfragen, was Josef als Leiter der Ermittlung anordnete.
Wenn die Adresse aus der Personalakte stimmte, wohnte Georg Bruckner etwas außerhalb in einer ländlichen nordsächsischen Gegend in einem Nest an der Elbe, nur wenige Kilometer von Torgau entfernt.
In dem Ort, den sie in etwa zwanzig Minuten erreichten, gab es auf den ersten Blick nicht viel: ein für eine Kleinstadt recht imposantes Rathaus mit einer meterhohen Skulptur, die wie ein Ritter aussah, der mit seltsam langen Beinen und bewaffnet mit einer Lanze das Gebäude und einen menschenleeren Marktplatz mit Bänken, Mini-Bäumen und Blumenrabatten zu bewachen schien.
Sie parkten in dieser gottverlassenen Gegend direkt neben der Statue und schauten auf einem Plan nach der Adresse. Viele Straßen existierten hier ohnehin nicht. Die Wohnung befand sich in einer kleinen Seitenstraße, etwa dreihundert Meter vom Markt entfernt.
Das Mehrfamilienhaus, in dem Bruckner leben sollte, sah schlammig braun-gelb aus und wirkte heruntergekommen. Tatsächlich stand auf dem Klingelschild sein Name, wenn auch kaum lesbar. Die Haustür wirkte marode und stand halb offen.
Sie gingen in den Flur, prüften kurz den Briefkasten, der, wie es aussah, regelmäßig geleert wurde, und stiegen zügig die Stufen hinauf in den zweiten Stock. Josef klingelte nur einmal. Wenn dieser Mann wirklich der Täter war, wollte er ihm keine Zeit schenken, um zu entkommen. Nichts rührte sich.
Er klopfte. »Herr Bruckner, öffnen Sie bitte, hier ist die Polizei!«
Einen Moment standen sie da und lauschten. Etwas schepperte oder klapperte – es klang nach einer umgekippten Flasche oder vielleicht nach einer unsanft abgestellten Schüssel.
Viktor Lüder nickte ihm zu. »Er ist zu Hause«, flüsterte er.
Josef war sich da nicht so sicher. Aber die Ohren seines jüngeren Kollegen funktionieren ja vielleicht besser als seine, und er hatte die Geräusche deutlicher vernommen.
Der junge Polizist holte jetzt, ohne zu zögern, eine Plastikkarte aus der Tasche und öffnete damit im Handumdrehen die Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Es war ja offenbar auch jemand anwesend.
In der Wohnung roch es nach Fisch, und eine graue Katze strich ihnen im Korridor um die Beine. Sie hob den Kopf, starrte sie aus ihren grünen Augen an und fauchte misstrauisch. Vielleicht hatte ja sie das Scheppern verursacht?
»Herr Bruckner, wir kommen jetzt rein!«, sagte Josef – obwohl sie genau genommen ja schon drin waren.
Es klapperte und scharrte wieder leise. Die Katze war also nicht die Verursacherin des Geklirrs. Oder Georg Bruckner besaß mehrere Katzen. Josef zog seine Waffe und schob sich weiter vor.
In der Küche kauerte ein Mann mit Halbglatze auf dem Boden und drehte ihnen den Rücken zu. Offenbar war er damit beschäftigt, Tierfutter in Blechnäpfe zu füllen.
»Herr Bruckner?«
Der Mann reagierte nicht.
Josef ging langsam um ihn herum, während sein Kollege hinter dem Hockenden blieb.
»Erheben Sie sich und zeigen Sie uns Ihre Hände!«
Josef sah jetzt kleine tote Fische in einer der beiden Schüsseln liegen. Vermutlich Heringe. Sie sahen irgendwie mumifiziert aus. Die Katze kam angelaufen, schob sich an ihm vorbei und schnappte sich einen Fisch.
Der Mann stand gemächlich auf und rieb sich die Finger an seinen blauen Arbeitshosen ab. Erst dann bemerkte er Josef und stieß einen unartikulierten Schrei aus.
»Wir sind von der Polizei. Sind Sie Herr Bruckner?«
Stumm schüttelte der Angesprochene den Kopf. Er deutete auf die Katze und machte eine Bewegung zur Tür hin, als er plötzlich Viktor Lüder erblickte. Er zuckte erschrocken zurück und blickte sie beide fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen, an.
Wie es aussah, hatte der Mann sie nicht gehört. Josef dachte erst jetzt an die Beschreibung des Gesuchten. Seine Kollegin Beate Vogt hatte Bruckner als einen groß gewachsenen Menschen beschrieben mit dunklen Augenbrauen und einer Narbe im Gesicht. Er habe auf sie hölzern wie ein Soldat gewirkt. Sie hatte auch den Titel eines Kinderbuchs genannt, der ihm aber nichts sagte. Dieser Mann hier sah eher klein und pummlig aus, und auf seinen Wangen zeigten sich höchstens vor Aufregung rote Flecken.
Josef steckte seine Waffe weg und zog seinen Dienstausweis hervor. »Wir sind von der Polizei«, wiederholte er. »Können Sie mich verstehen?«
Wieder signalisierte der Mann ein Nein. Er deutete auf sein rechtes Ohr und tippte sich mit dem Zeigefinger seitlich ans Kinn. Das Zeichen für gehörlos.
»Entschuldigung«, sagte Josef. »Wir wollten Sie nicht erschrecken. Können Sie Lippen lesen?« Während er das fragte, gebärdete er gleichzeitig.
Der Mann nickte und blickte ihn verwundert an.
»Ich bin Hauptkommissar Almgruber, und das ist mein Kollege Lüder. Wir suchen Georg Bruckner. Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
»Nein.« Der Laut klang kehlig. »Nachbar«, brachte er heraus. Er beugte sich zu der Katze, die sich den zweiten Fisch holte, und streichelte sie.
Josef wartete, bis sie wieder Augenkontakt hatten. »Wie heißen Sie?«
»Meier«, artikulierte der Mann mühsam, aber verständlich in Lautsprache.
»Herr Meier, wissen Sie, wo sich Ihr Nachbar befindet?«, gebärdete Josef und erntete wieder einen erstaunten Blick.
Der Mann machte eine Geste mit der rechten Hand, als würde etwas davonschwimmen.
»Ihr Nachbar ist unterwegs?«, fragte Josef.
Herr Meier nickte.
Das war nun nicht besonders präzise.
»Ist er im Urlaub?«
Meier zuckte mit den Achseln und gestikulierte, dass er für zwei Wochen die Katze füttern und sich um die Post kümmern sollte.
»Er hat Ihnen nicht gesagt, wohin er möchte?«
»Nein.«
»Wissen Sie, ob er Familie hat oder Freunde? Eine Freundin vielleicht?«
Herr Meier gab ihm zu verstehen, dass er keine Ahnung habe.
»Wie lange ist er schon weg?«
Er zeigte ihm sieben Finger.
»Sieben Tage also?«
Meier nickte.
»Und er hat sich bisher nicht gemeldet?«
Der gehörlose Nachbar gebärdete ein entschiedenes Nein.
Josef antwortete mit dem Zeichen für »Schade«. Ihm fiel ein, dass sein Sohn Florian es oft benutzte. Schade, dass sie umziehen mussten. Schade, dass es keine dritte Kugel Eis gab. Schade, dass sie nicht stundenlang die Pinguine im Zoo beobachten konnten. Schade, dass der Papa schon wieder gehen und dass er so viel arbeiten musste.
Josef fragte sich, ob Herr Meier als Kind auch zur Strafe in der Ecke gestanden hatte. Wie war er aufgewachsen als Gehörloser in der DDR?
»Wir sollten noch die anderen Nachbarn befragen«, mischte sich Viktor Lüder ein. Er sprach so, dass es Herr Meier nicht sehen konnte. »Vielleicht hat er ja eine Frau, die reden kann?«
Irgendwie war Josef froh, dass Herr Meier nichts von der Frage mitbekam. Auch wenn Lüder sie vermutlich nicht abwertend meinte, klang sie ziemlich geringschätzig.
»Gibt es noch weitere Nachbarn, die zu Georg Bruckner Kontakt haben?«, fragte Josef und gebärdete gleichzeitig.
Herr Meier schien ihn zum Glück gut zu verstehen. Er überlegte nur kurz und blickte auf die Katze hinab, die ihm um die Beine strich. »Meine Schwester«, bedeutete er schließlich.
Zehn Minuten später saßen sie zusammen mit Herrn Meier auf einem watteweichen, mit diversen Decken belegten Sofa in einem verrauchten Wohnzimmer im Nachbarhaus.
Ihnen gegenüber saß Birgit Zobel, die Schwester von Herrn Meier. Sie war zurzeit arbeitslos, Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern, geschieden und Kettenraucherin. So viel hatten die beiden Ermittler, die inmitten einer Qualmwolke saßen, schon herausgefunden.
»Der Georg kommt manchmal herüber, wenn ihm langweilig ist, und wir spielen Karten mit den Kindern. Mau-Mau oder Knack«, berichtete sie mit tiefer, rauer Stimme, rutschte unruhig in einem überdimensional großen Sessel hin und her und sog die letzten Züge aus einem Zigarettenstummel. »Worum geht’s denn? Hat er was angestellt?« In ihren Augen leuchtete ganz unverhohlen die Neugier.
»Zu den laufenden Ermittlungen dürfen wir nichts sagen«, spulte Josef den üblichen Spruch herunter. »Zu dem Fall, den wir gerade bearbeiten, möchten wir ihn jedoch dringend befragen.«
»Geht es immer noch um diesen toten Direktor aus Torgau?« In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Verachtung mit.
»Hat er darüber gesprochen?«, fragte Josef zurück.
»Nicht viel. Nur dass der Mörder noch nicht gefasst wurde.«
»Was für ein Verhältnis hatte er zu dem Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs?«
»Keine Ahnung. Da fragen Sie mich zu viel.«
»Wissen Sie, wo Herr Bruckner sich gegenwärtig aufhält?«
Frau Zobel stieß ein merkwürdiges Lachen aus, das in einen Raucherhusten überging. Sie schüttelte amüsiert den Kopf. »Er ist jemand, der gewisse Dinge gern für sich behält.«
»Wie meinen Sie das?«
»So wie ich es sage!« Sie fingerte die nächste Zigarette aus der Schachtel Marlboro und steckte sie sich an.
Josef runzelte die Stirn. »Nun werden Sie mal bitte deutlicher!«, forderte er schroff.
»Ein Schwätzer ist jemand, der einem alles sofort auftischt. Und Georg … nun ja, er ist das Gegenteil. Man muss ihm alles aus der Nase rausziehen.«
Josef sah sie fragend an, in der Hoffnung, dass sie von sich aus weitererzählte.
»Sie meinen, Sie haben keinen blassen Schimmer, wo er sein könnte?«, funkte Lüder da ungeduldig dazwischen. »Vielleicht fällt Ihnen ja doch jemand ein, mit dem er sich trifft. Eine Freundin vielleicht?«
Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Er spricht nur das Nötigste. Also beim Kartenspiel. Manchmal vergisst er sogar Mau-Mau zu sagen, obwohl er gewonnen hat. Oder er miaut stattdessen auf einmal wie seine Katze. Wenn ihm etwas nicht passt, faucht er auch wie sie. Worüber sich meine Kinder natürlich sehr amüsieren. Und ich dachte auch erst, er macht das, um die Kids zu erheitern. Aber er ist eben einfach … besonders . Eine Freundin? Nicht dass ich wüsste. Ich habe keine Frau bei ihm gesehen. Er bekommt eigentlich nie Besuch.«
»Warum nicht?«, übernahm Josef wieder das Ruder.
»Er lebt eben für sich«, murmelte sie.
Herr Meier beugte sich über den Tisch zu seiner Schwester und gestikulierte mit beiden Händen. Sie nickte ihm zu.
»Stimmt. Mein Bruder macht mich gerade darauf aufmerksam, dass Georg auch sonst manchmal etwas sonderlich ist. Zum Beispiel glaubt er, dass er sich, wenn er will, unsichtbar machen kann.«
»Unsichtbar«, wiederholte Almgruber erstaunt. »Er ist also psychisch auffällig?«
»Wenn Sie meinen, dass er einen an der Klatsche hat … Ja, das kommt mir schon so vor. Auf alle Fälle ist er ein komischer Kauz.«
»Wissen Sie etwas darüber, ob er sich möglicherweise in psychiatrischer Behandlung befindet oder befunden hat?«
»Nein. Und selbst wenn es so wäre: Denke nicht, dass er mir was davon berichten würde. Er sagt und tut gelegentlich Dinge, die einem merkwürdig vorkommen. Er glaubt an Geister, hat er mal erzählt, oder auch an böse Wesen, die ihn oder sein zweites Ich verfolgen. So ungefähr hat er sich ausgedrückt. Fragen Sie mich nicht, was das bedeuten soll. Und er glaubt anscheinend daran, dass er in die Zukunft sehen kann oder dass seine Katze zu ihm spricht. Außerdem zieht er sich komisch an, wenn gerade ein besonderer Tag ist. Ach ja, einmal hatte er einen Rock an, weil ja Frauentag war. Ich wusste nicht, ob er bloß Witze machte oder das ernst meinte. Aber er ist immer freundlich zu uns, zu meinem Bruder und zu mir; auch lässt er die Kinder absichtlich gewinnen und solche Sachen. Er bringt Schokolade mit, malt mit ihnen fantasievolle Bilder … mit Drachen, Einhörnern und Feen. Gleichzeitig hält er Abstand. Zum Beispiel mag er nicht umarmt werden.«
Lüder schrieb etwas in sein Notizbuch, und Frau Zobel starrte ihm auf die Finger.
»Hilft Ihnen das weiter?«, fragte sie.
»Das werden wir noch sehen«, erwiderte Lüder.
»Hatte er Arbeit?«, fragte Josef.
»Ja. In Torgau. Im Jugendwerkhof.«
»Ich meinte, später, nach der Schließung der Einrichtung.«
Sie verzog das Gesicht, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Er ist weiterhin nach Torgau gefahren, glaub ich. Was er da genau gemacht hat, weiß ich nicht.« Sie drückte die Kippe in den Aschenbecher und steckte sich gleich die nächste Zigarette an. »Vielleicht wissen seine ehemaligen Kollegen da ja Genaueres.«
»Hatte er zu dem einen oder anderen Mitarbeiter dieser Anstalt näheren Kontakt?«, erkundigte sich Lüder und hielt seinen Stift über dem Papier wie eine Angel über dem Wasser.
Sie inhalierte einen tiefen Zug und ließ ein paar Ringe in die Luft steigen. »Das müssen Sie diese Leute schon selbst fragen.«