»Ich verstehe nicht, warum mir das immer passiert«, sagte Beate. Sie saß im Bett und blickte zu Steffen, der neben ihr lag und schlaftrunken nach ihr tastete, als müsste er sich vergewissern, dass sie wirklich da war. Er drehte sich zu ihr um, rieb sich die Augen und blinzelte sie an.
»Was meinst du?«
»Na, dass ich von der Mordermittlung abgezogen werde. Ich habe keine Veranlassung dazu gegeben.«
Sie bemerkte, dass er sich bemühte, ein Gähnen zu unterdrücken. Die Nacht war recht kurz gewesen.
»Und das ist dir schon mal passiert?«
»Nicht direkt. Aber wie du ja weißt, wurde ich im Herbst 89 ins Büro versetzt und sollte Akten sortieren, weil ich mich für die Montagsdemonstranten in Leipzig eingesetzt habe. Und auch wenn die Situation jetzt anders ist, denn ich ermittle ja weiter, habe ich das Gefühl, abserviert zu werden.«
»Hm.« Steffen schob sich hoch und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange.
»Das ist sicher blöd für dich, aber hat ja auch seine Vorteile.«
»Welche Vorteile denn?« Sie verschränkte die Arme und sah ihn bockig an.
»Zum Beispiel, dass wir beide enger zusammenarbeiten und Dienstbesprechungen im Bett abhalten können.«
Sie lachte wider Willen und boxte ihn gegen die Schulter. »Stimmt. Das ist ein Vorteil. Aber eine Dienstbesprechung ist das hier doch hoffentlich nicht, oder?«
»Was nicht ist, kann ja noch werden. Wie wollen wir weiter vorgehen, um Andreas zu finden?«, fragte er.
»Ich denke, wir sollten zu seiner Mutter fahren. Sie wohnt irgendwo zwischen Leipzig und Altenburg. Bisher habe ich sie nur am Telefon gesprochen. Sie sagt, sie weiß nicht, wo ihr Sohn sein könnte, und dass sie viel zu tun hätte. Sie arbeitet in Schichten in einem Braunkohlewerk. Ich konnte sie nur erwischen, wenn sie Pause hatte. Und sie verhielt sich nicht gerade kooperativ, muss ich sagen. Aber vielleicht fällt ihr ja doch noch etwas ein, wenn wir sie direkt befragen.«
Steffen nickte, und dann grinste er plötzlich. »Siehst du? Schon haben wir eine Dienstbesprechung im Bett.«
Beate verdrehte die Augen. »Wenn du meinst. Und wenn wir schon dabei sind: Warum hast du mir nichts über den Fund der Arrestzelle in dieser Zweitwohnung in der Straße des Friedens erzählt?«
Steffen zuckte mit den Achseln. »Sie wurde ja nicht benutzt. Aber offenbar hatte dieser Direktor nicht vor, sein Erziehungskonzept zu ändern.«
»Es war nicht nur sein Konzept«, sagte sie nachdenklich. »Es ist ungeheuerlich, was über die ganzen Jahre in diesem Umerziehungsknast geschehen ist. Und alle, die da gearbeitet haben, waren daran beteiligt.«
»Angeordnet von ganz oben!«, sagte Steffen plötzlich zornig. »Und Margot Honecker wird als Hauptverantwortliche nicht mal dafür belangt. Das ist der eigentliche Skandal!«
Beate musterte ihn überrascht. Er sah wirklich aufgebracht aus. Sie strich ihm durchs Haar, beugte sich zu ihm und küsste ihn auf den Mund.
»Was möchtest du eigentlich frühstücken? Viel im Angebot habe ich nicht. Kaffee. Eier sind noch da, das Brot ist, glaube ich, schon hart. Aber ein paar Möhren liegen noch im Kühlschrank. Übrig gebliebene … Von den Meerschweinchen.« Sie seufzte traurig.
Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Die finden wir schon noch. Wir sind doch schließlich ein Team. Ein Ermittlerteam.« Er lächelte sie an. »Und zum Frühstück hätte ich gern eine Tasse Kaffee, schwarz, und ein Ei, weich gekocht.«
Grau-blau-brauner Qualm stieg aus den Schornsteinen des kleinen sächsischen Ortes. Ein schwerer metallischer Geruch lag in der Luft, als Beate und Steffen, von einem Mitarbeiter des Braunkohlewerks geführt, über das Gelände liefen. Die Gegend wirkte auf Beate, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Junge Frauen mit schwarzen Gesichtern kamen ihnen entgegen. Sie schwatzten und lachten, als wäre es ganz normal, wie die Schornsteinfeger herumzulaufen. Beate bemühte sich, sie nicht zu neugierig anzustarren. War das nicht extrem schädlich, ständig diesem Dreck ausgesetzt zu sein? Lohnte es sich, für ein paar Mark mehr seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen?
Andreas’ Mutter, Blanka Schwalbe, arbeitete in der Maschineninstandsetzungshalle als Dreherin. Der Meister nahm Beate und Steffen vor dem Eingang in Empfang, stellte sich vor und fragte, was sie genau wollten.
In der Halle, in die er sie brachte, herrschte ein solcher Lärm, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstanden. Wie sollten sie hier eine Befragung durchführen? Der Geruch nach Metall nahm noch zu. Es kam Beate vor, als legte sich diese Ausdünstung auf ihre Zunge, trocknete ihren Mund und ihren Hals aus. Irgendwo weiter hinten sah Beate im Halbdunkel Funken sprühen.
Frau Schwalbe stand an einer Maschine, die aussah wie ein großes metallenes Insekt, das sich durch eine eiserne Frucht fraß. Beate hatte ihren Besuch vorsichtshalber nicht angekündigt, damit die Frau keine Ausrede erfinden konnte, um dem Gespräch auszuweichen.
Sie und Steffen zeigten ihre Polizeidienstausweise, und Beate sah die Verwirrung, die sich in dem Gesicht zeigte. Die Frau war klein und robust, kräftige Hände und stämmige Schultern zeugten von der Schufterei. Ein paar Minuten arbeitete sie einfach weiter. Metallspäne flogen herum, die vermutlich heiß waren.
Beate trat einen Schritt von der Maschine zurück und versuchte, in Gedanken eine Verbindung herzustellen zwischen dem schmächtigen Andreas und seiner wie ein Kerl wirkenden Mutter. Es gelang ihr nicht.
»Es geht um Ihren Sohn Andreas! Wir hatten schon einmal telefoniert!«, schrie Beate gegen den Lärm an.
Die Frau warf ihr einen unwilligen Blick zu und stellte die Maschine aus.
Es war immer noch laut in der Werkstatt. Der Meister fragte etwas. Beate hielt sich die Hand hinter das Ohr. Es war schwer, ihn überhaupt zu verstehen.
»Brauchen Sie mich noch?«, fragte er.
Beate schüttelte den Kopf, und er verabschiedete sich von ihnen per Handschlag.
Ohne ein Wort stapfte Frau Schwalbe voraus. Sie blickte sich nicht nach ihnen um und ging in einen Raum, in dem ein Tisch und ein paar einfache Stühle zwischen zwei ausgeschalteten Drehmaschinen standen.
Beate schloss die Tür und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Steffen lächelte etwas gezwungen. »Dürfen wir uns setzen?«
Die Frau nickte müde und sah sie fragend an.
Von der Heizung kamen Klopfgeräusche, an den Wänden klebte schlierig schwarzer Dreck, vermutlich Kohlenstaub. Ein Radio lief. Beate erkannte die Stimme von Karel Gott.
»Wir suchen nach Andreas«, sagte sie. »Er ist seit einiger Zeit spurlos verschwunden. Wissen Sie, wo er sich aufhalten könnte?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. Es sah so gleichgültig aus, dass es Beate schmerzte. »Seit einiger Zeit? Er ist doch schon seit Ende letzten Jahres abgetaucht. Meinen Sie, er hätte sich mal bei seiner Mutter gemeldet? Fehlanzeige. Ich habe aufgehört, mir den Kopf über ihn zu zerbrechen.«
»Andreas ist immerhin Ihr Sohn!«, entfuhr es Beate. »Und er ist noch minderjährig. Es könnte sein, dass er sich in Gefahr befindet.«
Blanka Schwalbe schien durch sie hindurchzublicken. In ihrer Miene zeigte sich keine Regung. »Ich habe Ihnen doch schon am Telefon gesagt, dass ich nicht weiß, wo er steckt«, sagte sie mürrisch.
»Haben Sie irgendwelche Vermutungen? Gibt es Verwandte oder Freunde, bei denen er sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Andreas war fast schon immer ein schwieriges Kind. Das fing an, als wir umgesiedelt wurden, weil man das Dorf, in dem wir wohnten, weggebaggert hat, wegen der Braunkohle. Ein Nachbar hatte das Mehrfamilienhaus am Ende noch in Brand gesteckt. Ob aus Verzweiflung oder weil er sich Geld von der Versicherung erhoffte, weiß ich nicht. Die Feuerwehr konnte zwar die Menschen, aber nicht ihre Habseligkeiten retten. Ein Feuerwehrmann erzählte mir damals, dass Andreas ganz erstarrt vor den Flammen gestanden hätte. Der letzte Blick auf sein Kinderzimmer war jedenfalls der auf einen verkohlten Raum, verbranntes Spielzeug, schwarze Möbel, versengte Schulsachen. Wir konnten praktisch nichts retten. Von da an hat er Blödsinn gemacht, sich herumgetrieben, mit Kerzen und Streichhölzern gespielt, Dinge angezündet. Und ich habe noch drei jüngere Kinder, wissen Sie? Andreas’ Hang zu Feuer war mir irgendwann einfach zu riskant. Deswegen kam er erst zur Großmutter und dann ins Heim.«
Beate hörte zu und fragte sich, wann das Band zwischen Mutter und Sohn gerissen war. Falls es überhaupt je eines gegeben hatte.
»Könnte er bei seiner Oma sein?«
»Die ist im Feierabendhaus.«
»Geben Sie uns doch bitte trotzdem die Adresse«, verlangte Steffen.
Frau Schwalbe sah ihn befremdet an, als würde sie ihn jetzt erst wahrnehmen. »Wozu denn?«
Steffen ignorierte die Frage, holte einen Notizblock und einen Stift hervor. »Besser beide Adressen. Die vom Altersheim auch.«
Sie kratzte sich den Kopf und schwieg.
»Wir können Sie ansonsten mit aufs Revier nach Leipzig nehmen, wenn Ihnen das lieber ist.« Beate verlor langsam die Geduld.
»Schon gut«, brummte die Frau. »Muss nur kurz überlegen.« Mit schleppender Stimme nannte sie ihnen schließlich die Adressen.
»Wie sieht es sonst aus mit Kontakten? Können Sie uns vielleicht Freunde von Andreas nennen? Alte Klassenkameraden zum Beispiel?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Was ist mit Andreas’ Vater?«, fragte Beate weiter.
»Den gibt es nicht. Nur einen Erzeuger. Der ist noch vor der Geburt verschwunden.«
»Hatte ihr Sohn denn einen Stiefvater?«
»Mehrere.« Sie lachte, aber es klang nicht gerade fröhlich. »Alle nur kurz. Keiner hat noch Kontakt.« Sie ließ offen, ob zu ihr oder zu ihrem ältesten Sohn. Ein Ausdruck von Verbitterung lag in ihren Augen.
»Haben Sie Andreas in Torgau mal besucht?«
Sie lachte noch einmal verächtlich auf. »Ich arbeite acht Stunden täglich in diesem Werk. Das ist verdammt harte Arbeit. Zu Hause warten meine Kinder, dass ich ihnen was koche, die Hausaufgaben kontrolliere und solche Sachen. Wann soll ich denn zwischendurch noch in der Gegend herumfahren? Andreas hat mir manchmal geschrieben. Da stand, dass es ihm gut geht. Also habe ich mir keine Sorgen gemacht.«
»Die Briefe der Jugendlichen wurden kontrolliert und zensiert«, entgegnete Beate. »Manche, die zu kritisch waren, hat man zurückgehalten.« Sie dachte an den Brief von Andreas aus dem Jugendwerkhof Burg, den sie gelesen hatte. Es war ihm dort keineswegs gut gegangen . Er hatte genau das Gegenteil geschrieben. Hatte seine Mutter wirklich gar nichts mitbekommen? Oder wollte sie es nicht wissen?
»Dazu kann ich nichts sagen. Die Betreuer in diesen Werkhöfen sind doch ausgebildete Pädagogen, oder nicht? Die von der Jugendhilfe haben mir versichert, Andreas wäre dort in den besten Händen.«
»Frau Schwalbe, Sie sollten sich die Mühe machen und mal nach Torgau fahren und sich den ehemaligen Werkhof da ansehen. Vielleicht zusammen mit Ihrem Sohn. Dann bekommen Sie höchstwahrscheinlich ein Bild davon, ob es Andreas dort tatsächlich gut ging.«
Die Frau sagte einen Moment nichts mehr und blinzelte sie nur an. Schimmerten da Tränen in ihren Augen? War Beate zu hart zu ihr? Aber sie verstand nicht, dass dieser Frau das Schicksal ihres Sohnes egal zu sein schien.
»Schon klar, Sie halten mich für eine Rabenmutter. Mag sein, dass ich nicht genug für Andreas da war. Aber er ist eben auch ein Rabenkind. Wie andere seiner Sorte, die in diesem Jugendwerkhof gelandet sind. Er hat sich schließlich auch von mir abgewandt. Er hätte ja mal vorbeikommen können, oder nicht? Andreas ist nicht der Unschuldsengel, für den Sie ihn halten. Wenn jemand hinter Gittern landet, hat das seinen Grund.«
Beate schluckte. Was die Frau da sagte, klang für sie wie eine Schutzbehauptung. Aber sollte sie mit ihr etwa noch eine Diskussion anfangen? Stattdessen schob sie ihr eine Visitenkarte über den Tisch. »Falls Ihnen etwas Sachdienliches einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an.«
»Das war wohl verschwendete Zeit«, sagte Steffen, als sie in den Wartburg stiegen.
»Scheint so«, erwiderte Beate. »Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl … so, als ob wir irgendwas übersehen haben.«
Steffen sah sie fragend an. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. »Wenn mir einfällt, was das sein könnte, sag ich dir Bescheid.«
Nachts lag Beate wach, während Steffen neben ihr seelenruhig schlief. Er strömte eine Ruhe aus, die sie nicht erreichte. In Gedanken ging sie noch einmal das unbefriedigende Gespräch mit Andreas’ Mutter durch. Sie hatte ihnen kaum Hinweise gegeben und wenig Konkretes gesagt. Vielleicht war es das, was Beate beunruhigte: Das Bild in ihrem Kopf zu Andreas’ Kindheit war absolut unscharf, es fehlten die Details. Namen zum Beispiel.
Sie musste die Frau noch einmal anrufen, sie musste sie nach den Namen fragen. Nach den Menschen, die in Andreas Schwalbes Leben eine Rolle gespielt hatten.
Sollte sie Steffen wecken? Ihm von dem Versäumnis berichten? Aber er würde nur irgendetwas murmeln, das sie beruhigen sollte, sich umdrehen und weiterschlafen.
Wenn Almgruber bei dem Gespräch dabei gewesen wäre, wüssten sie die Namen schon längst, dachte sie noch. Er hätte wohl kaum vergessen, nach ihnen zu fragen.