Es war kalt in der Zelle. So gut es ging, versuchte Andreas, sich zu wärmen. Eingehüllt in eine Decke, trank er den einigermaßen warmen Tee. Jeden Morgen wurde ihm eine Thermoskanne gebracht. In dem heißen Wasser hing genau ein Teebeutel. Geschmack: Pfefferminz. Menge: ein Liter. Schluck für Schluck teilte er sich das Getränk über den Tag verteilt ein, goss die Tasse immer höchstens halb voll. Am Nachmittag war das Wasser mit Pfefferminzgeschmack nur noch lauwarm. Manchmal bekam er eine fast heiße Suppe hereingereicht. Er löffelte die Schüssel langsam leer. Ließ das Warme eine Weile zwischen Zunge und Gaumen, ehe er schluckte.
Manchmal griff er sich eines der Meerschweinchen. Sie mochten das nicht. Das Tier, das er jagte, versuchte zu flüchten, aber es gab hier ja keinen Ausweg. Wenn er es eingefangen hatte, verfiel es in eine Art Schockstarre. So wie er. Auch Andreas verharrte oft in dieser Bewegungslosigkeit. Starrte die Wand an oder die Tür.
Beinahe waren sie in der gleichen Situation. Nur dass die kleinen Wesen zu viert waren. Und nicht wussten, dass sie im Knast saßen. Ein weiterer Unterschied war, dass sie einfach überall ihren bohnenförmigen Kot hinterließen. Er lachte unwillkürlich auf.
Die Tiere besaßen verschiedenartig gemustertes Fell: braun, schwarz, braun-weiß, schwarz-weiß. Sie waren unterschiedlich dick. Auch ihre Charaktere waren verschieden. Eines war neugierig, eines ängstlich, eines quiekte, die anderen blieben still. Doch jedes Meerschwein fühlte sich gleich weich an. Viel Wärme strahlten ihre kleinen Körper nicht aus. Aber egal. Andreas spürte das Leben, das in ihnen steckte, den schnellen Herzschlag in seiner Hand.
Er hatte keine Ahnung, woher die Tiere stammten. Es war ihm klar, dass Herr Jemand ihn ruhigstellen wollte. Er brachte ihm sogar Holzbretter und Leim, damit er den Nagern Häuschen bauen konnte. Sich um sie zu kümmern, sie zu füttern, mit ihnen zu sprechen und sogar ihre Köttel zu beseitigen, sie aufzufegen und in dem Kübel für die Notdurft zu entsorgen, lenkte Andreas etwas ab. Ansonsten gab es nichts zu tun. Die Bücher hatte er gelesen. Außer der Bibel, die Herr Jemand ihm neulich gebracht hatte. Die rührte er nicht an. Er glaubte nicht an Gott. Nicht einmal seine Oma glaubte an Gott. Wozu sollte er also die Bibel lesen?
Sein Magen knurrte. Es musste um die Mittagszeit sein.
Tatsächlich erschien Herr Jemand. Brachte Futter für die Tiere und einen Teller für ihn. Die Nudeln waren kalt. Ein zusammengeklebter Batzen. Der Klecks Ketchup machte das Essen nicht besser. Herr Jemand gab sich immer weniger Mühe, ihm vernünftiges Essen zu servieren.
Spontan reichte Andreas die ungenießbare Mahlzeit an den Mann zurück. »Ich esse das nicht! Wieso halten Sie mich fest? Lassen Sie mich endlich gehen!« Aus Rücksicht auf die Schweinchen schrie er nicht. Er wollte die sensiblen Tiere nicht erschrecken. Aber sein Tonfall war kaum misszuverstehen. Er starrte in den Schlitz der Mütze, in die Augen seines Wärters. Wie immer bekam er keine Antwort. Aber der Blick des Mannes wirkte das erste Mal verunsichert. Ein kleiner Triumph.
Herr Jemand reichte ihm den Teller erneut oder versuchte es zumindest. Andreas verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Nein!«
Sein Wärter stellte die kalten Nudeln auf den kalten Boden und warf die Tür verärgert zu.
Andreas lachte leise vor sich hin. Hungerstreik war auch eine Waffe.
Die Meerschweinchen kamen nacheinander angetrippelt, rochen an den Nudeln und knabberten an ihnen. Offenbar freuten sie sich über die Abwechslung auf ihrem Speiseplan. Andreas nahm den Teller schließlich hoch und stellte ihn auf die Pritsche. Er wollte nicht, dass die Tiere krank wurden. Er wollte, dass sie am Leben blieben.
Auch das Abendessen verweigerte er. Herr Jemand stellte das Holzbrett mit den Broten vor ihm ab und schloss die Tür. Der Geruch nach Salami stieg Andreas in die Nase, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Diesmal hatte sich Herr Jemand mehr Mühe gegeben. Das Brot roch frisch. Etwas Petersilie garnierte die Stullen.
Andreas verfütterte die Kräuter an die Meerschweinchen. Den Rest ließ er unbeachtet.
Wie lange konnte er ohne Nahrung durchhalten?