Tanja ging durch den kleinen Wald, der direkt hinter dem Haus von Andreas’ Großmutter lag, und sammelte Holz. Es war nicht leicht, trockene Äste zu finden. In den vergangenen Stunden hatte es geregnet, und die Zweige unter ihren Füßen gaben nach wie Gummi.
In ihrem Rucksack trug sie kleine, dicke Äste, Zapfen und Kienäpfel. Sie kam sich vor wie eine Hexe aus einem Märchenfilm. Der Zweig, nach dem sie griff, hatte Dornen. Tanja zuckte zurück, aber dann, mit einem Lächeln, packte sie wieder zu. Sie wollte nicht mehr an ihn denken, sie wollte seinen Namen nicht mehr denken. Wie die Bäume hier, die ihre Blätter abgeworfen hatten, wollte sie ihre Vergangenheit abwerfen, die belastenden Erinnerungen loswerden. Torgau loswerden, den Spuk in ihrem Kopf, diesen Direktor, dieses Monster . Schließlich war der Mann tot und begraben. Es war, als müsste sie sich das immer wieder ins Gedächtnis rufen, damit sie es glauben konnte. Doch statt Erleichterung spürte sie nur Leere.
Die Leere in ihr war allerdings, wie sie fand, schon ein guter Anfang. Alles sollte leer sein, sauber, frei für das, was kommen würde. Für ihr neues Leben, ihr richtiges Leben.
Die Mauer, die sie von der Welt ferngehalten hatte, war gefallen, der geschlossene Jugendwerkhof existierte nicht mehr, der Mann, der sie als seinen persönlichen Besitz betrachtet hatte, weilte in den ewigen Jagdgründen. Jetzt musste sie nur noch mit den Gespenstern in ihrem Innern klarkommen. Und Andreas finden … Würde er wirklich hier, im Haus seiner Großmutter, auftauchen?
Ihre Hand tat weh, und sie nahm sie hoch und betrachtete sie wie einen Gegenstand. Sie zog sich die Dornen aus der Haut. Es blutete ein wenig, nicht der Rede wert. Der körperliche Schmerz zeigte ihr, dass sie am Leben war.
Nach Einbruch der Dunkelheit tappte Tanja in dem Haus im Dunkel umher, auf der Suche nach Streichhölzern. Sie fand ein Päckchen in einer Schublade in der Küche. War es riskant zu heizen? Doch es war einfach zu kalt auf Dauer. In der Nacht hatten ihre Zähne geklappert vor Kälte. Sie konnte schlecht einschlafen und wachte immer wieder auf.
Ein bisschen Rauch, der aus dem Schornstein waberte, würde schon nicht auffallen, hoffte sie.
Sie öffnete die Klappe und stocherte mit einem Feuerhaken in der Asche herum. Der Ofen schien schon lange erloschen. Sie musste wieder an Andreas denken. Feuer machen war eigentlich seine Aufgabe. Sie sah ihn vor sich, wie er fasziniert in die Flamme einer Kerze starrte, und kicherte ein wenig. Man sah ihm nicht an, dass er ein kleiner Feuerteufel war. Er sah aus wie die Unschuld vom Lande. Aber er kokelte gern. In der Wohnung des Direktors hatte er die Teebeutel entleert, wie eine Rakete aufgestellt und angezündet. Sie waren schnell heruntergebrannt, die Reste wie Ballons in die Höhe geflogen und als Aschewölkchen zurückgekehrt.
Tanja besaß offenbar weniger Talent. Das erste Streichholz brach, als sie es über die Reibefläche zog, beim zweiten flog der Schwefelkopf ab, auch der dritte weigerte sich, Feuer zu fangen. Wie es aussah, waren die Hölzer feucht geworden.
»Mist!«, zischte sie.
Tanja brauchte eine Weile, ehe es ihr gelang, ein brauchbares Zündholz zu finden und die Flamme zu entfachen. Stück für Stück schob sie ihr Nahrung zu, zerbrochene Zweige, Tannenzapfen und Kienäpfel. Sie zerriss eine alte Zeitung, eine Wochenpost mit ausgefülltem Kreuzworträtsel, riss sie in kleine Teile und schob sie in das Feuer.
Schon nach ein paar Minuten begann es ziemlich zu qualmen. Hoffentlich war nicht das Rohr verstopft, sonst brachte sie sich womöglich mit den Abgasen und einer Kohlenmonoxid-Vergiftung um.
»Ach Quatsch«, murmelte sie vor sich hin, »wird schon schiefgehen.«
Tanja ließ beide Klappen offen, hielt die Hände vor das Feuer und wärmte sich wie an einem Kamin. Es knackte und knisterte, wenn die Flammen die Zapfen und Kienäpfel fraßen. Ein paar Funken flogen auf das Blech vor ihren Füßen, und sie trat sie aus. Allmählich wurde der Qualm dicker und floss um sie herum. Sie schloss die obere Klappe. Vorsichtshalber konnte sie ja das Fenster öffnen.
Als sie sich erhob, bemerkte sie durch die Scheibe eine große dunkle Gestalt, die vor dem Haus zu lauern schien.
Das war eindeutig nicht Andreas. Hatte der Lichtschein aus dem Ofen sie verraten? Es war zu spät durch die Hintertür abzuhauen. Ihr Plan kam ihr jetzt einfach nur noch dumm vor.
Wer auch immer dort draußen stand, hatte sie bereits im Visier.