56

Seit Stunden hockten Josef und sein junger Kollege Viktor Lüder in dem schmucklosen Torgauer Besprechungsraum, tranken in den kurzen Pausen dünnen Kaffee und befragten nacheinander die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendwerkhofs.

Einen besonders intensiven Kontakt schien Georg Bruckner zu seinen Kollegen nicht gehabt zu haben, wie Josef feststellte. Anscheinend kannte niemand ihn näher. Keiner wusste, wo er sich gegenwärtig aufhielt.

»Er war ja fast immer nur nachts da«, sagte die ehemalige Erzieherin Hildegard Hellermann und zog an einer Strähne in ihrem dauergewellten Haar herum. »Er kam meist, wenn ich ging. Oder umgekehrt. Wenn ich Frühdienst hatte und ich morgens erschien, war er mit seiner Schicht fertig.«

»Gab es keine Zusammenkünfte, Dienstbesprechungen oder dergleichen?«, fragte Josef.

»Doch, natürlich. Aber da saß er oft nur schweigend dabei. Die Reden hielten andere.«

Lüder blätterte in einer Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Haben Sie sich eigentlich bedankt bei Herrn Bruckner?«

»Bedankt?«, fragte sie erstaunt zurück.

»Na, er hat Sie immerhin aus diesem Fuchsbau im Keller geholt, in den sie der Jugendliche Maik Kerner vor der Flucht der drei Jugendlichen gesperrt hatte.«

Kollege Lüder hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er schien die Akten mittlerweile fast auswendig zu kennen.

Hildegard Hellermann schnappte kurz nach Luft bei der Erinnerung und konnte nicht gleich antworten. »Ich war ja dann erst mal im Krankenhaus«, brachte sie schließlich heraus.

»Es gab also hinterher kein Treffen mit Ihrem Retter und Ihnen?«

»Ach Gott, Retter . Nun ja, er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nicht mehr und nicht weniger.«

Viktor Lüder betrachtete sie stirnrunzelnd.

»Wo ist eigentlich Ihre junge Kollegin? Frau Vogtmann, oder wie heißt sie gleich? Sie war doch dabei. Und vermutlich hat sie mehr mitbekommen als ich, als ich dort ohnmächtig in diesem Loch lag.«

»Beantworten Sie bitte die Frage«, mahnte Josef. Einen Tick zu barsch, wie er selbst fand.

Frau Hellermann sah ihn verwirrt an. In gewissem Sinn hatte sie ja recht, wie er sich eingestehen musste. Beate Vogt war eine Zeugin des Vorfalls. Wäre sie jetzt hier, hätten sie nicht erst in den Akten herumwühlen müssen.

»Sie haben sich nicht mit Georg Bruckner getroffen?«, wiederholte Lüder.

»Nein, es gab kein Treffen mit ihm«, sagte sie hastig. »Wir haben uns ja auch kaum noch gesehen, wissen Sie?«

»Laut Aussagen seiner Nachbarin fuhr Georg Bruckner von seinem Wohnort weiterhin regelmäßig nach Torgau, auch nach der Schließung des Jugendwerkhofs. Haben Sie eine Ahnung, was er dort gemacht hat?«

Josef hob den Kopf und musterte sie.

»Bei mir war er jedenfalls nicht, falls Sie das andeuten wollen.«

Josef verkniff sich gerade so ein Lachen. »Ich will gar nichts andeuten. Wir versuchen herauszubekommen, wo er sich aufhält, das ist alles.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen und bei welcher Gelegenheit?«, hakte Lüder nach.

Die Frau zupfte sich nervös am Ohr. »Beim Einkaufen war das. Das ist noch gar nicht so lange her … Vor ein paar Tagen erst. Aber wann genau … Er hat jedenfalls Süßigkeiten gekauft. Diese Schokolade mit dem kleinen niedlichen Mohren drauf.«

»Sarotti«, murmelte Almgruber.

»Genau. Das ist mir aufgefallen, weil es mehrere Tafeln waren.«

Josef zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Haben Sie sonst noch etwas bemerkt? Hat er etwas gesagt?«

Hildegard Hellermann zog nun ausgiebig an ihrem anderen Ohr.

Er blickte sie an und fragte sich, ob das ein Tick von ihr war.

»Das hilft mir, mich zu konzentrieren«, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte.

Josef nickte ihr zu, etwas verlegen darüber, dass er beim Anstarren ertappt worden war. »Können Sie sich erinnern, ob Herr Bruckner sich mal zu dem Fall des toten Direktors geäußert hat?«

Zögernd schüttelte sie den Kopf. »Viel gesprochen haben wir alle nicht darüber. Der Vorfall war einfach zu schrecklich.« Sie seufzte. »Wobei … Doch, Kollege Bruckner hat mich beim Einkaufen gefragt, ob es etwas Neues geben würde und man den Täter indessen gefasst hat. Aber ich konnte ihm ja nichts dazu sagen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wusste ja nicht mal, dass die Kripo noch ermittelt«, fügte sie leise hinzu. »Ich dachte …« Sie verstummte.

»Was dachten Sie?« Josef hätte gern auf seine Uhr gesehen, aber er hielt sich zurück und blickte stattdessen der ehemaligen Erzieherin, so streng er konnte, in die Augen.

»Ich dachte … der Fall wäre abgeschlossen. Ähm … eingestellt sagt man, oder? Es schien sich ja um einen Selbstmord zu handeln. Der Mauerfall, die Schließung seiner Einrichtung, die Ungewissheit, was jetzt kommt, hätten ihn dazu getrieben, hieß es ja. Es klang erst mal glaubwürdig. Obwohl ich mir das nicht vorstellen konnte. Aber der Polizist, der zuerst ermittelt hat, war ja der Meinung, dass er sich … na, Sie wissen schon.«

»Wieso konnten Sie sich das nicht vorstellen?«, fragte Lüder.

»Er war nicht der Typ dafür«, antwortete sie. »Einer wie er … ein Chef durch und durch … bringt sich doch nicht um.«

»Kommt aber vor«, murmelte Lüder, der etwas auf seinen Block notierte, geistesabwesend. »Denken Sie an Hitler.«

»Ach, das muss jetzt nicht sein«, rutschte Frau Hellermann heraus. Sie kicherte nervös und wurde rot. »Wer denkt schon gern an Adolf Hitler?«

»Mal abgesehen von einigen Historikern wohl niemand«, räumte Josef ein.

Was führten sie hier eigentlich für ein merkwürdiges Gespräch? Und wieso machte Lüder so eine unpassende Bemerkung? Er sah jetzt doch auf seine Uhr. Die Elternversammlung in Halle würde in ein paar Stunden beginnen, und er musste noch zu dem Arzt Dr. Rehling in das Torgauer Krankenhaus, um ihn zu befragen. Anschließend hatte er noch einen Gesprächstermin bei seinem Chef Arno Berg in der Leipziger Dienststelle.

»Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns an«, sagte er und reichte Frau Hellermann seine Karte. »Wir danken Ihnen für das Gespräch.«

»Sie haben uns sehr geholfen«, fügte Lüder automatisch hinzu, ohne den Kopf zu heben.

Glatte Lüge, dachte Josef. Aber Hildegard Hellermann lächelte stolz. »Dann hoffe ich, dass Sie den Täter bald erwischen«, sagte sie. »Schließlich möchte man ja wieder ruhig schlafen können.«


Josef hasste Krankenhäuser. Seit dem Tod seiner Frau und seinem eigenen Klinikaufenthalt versuchte er sie zu meiden. Aber der Arzt, der die Leiche des Direktors Karl Zinkner am Tatort untersucht hatte, war stur geblieben, weigerte sich, als Zeuge aufs Revier zu kommen, und hatte sich mit fehlender Zeit und zu viel Arbeit herausgeredet.

Josef wollte das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sein Magen knurrte. Zum Mittag hatte er sich nur eine Banane gegönnt. So langsam bekam er Hunger.

Dr. Rehling saß ihm mit einem Gesichtsausdruck im Behandlungszimmer gegenüber, als wäre sein Gast ein Patient, der zu oft kam und höchstwahrscheinlich simulierte. Er presste den Mund zusammen, sodass seine Lippen eine gerade Linie bildeten. Wie bei einem Strichmännchen, dachte Josef. Die Augen des Arztes waren schmale Schlitze, die Miene wirkte verkniffen. So viel Abwehr war ihm selten begegnet.

»Wir brauchen noch ein paar Auskünfte von Ihnen, Herr Doktor.«

»Ihre Kollegen haben mich doch bereits mehrfach befragt!«, sagte der Arzt ungehalten. »Es gibt nichts Neues zu berichten.«

»Aktuell fahnden wir nach Georg Bruckner«, erklärte Josef ruhig. »Er arbeitete als Nachtwache im Jugendwerkhof Torgau. Sie kennen ihn?«

Dr. Rehling zuckte mit den Schultern. »Flüchtig. Wird er verdächtigt?«

»Ich möchte zunächst von Ihnen wissen, ob Sie ihn in der Tatnacht vom neunten auf den zehnten November 1989 am Tatort oder in der Nähe gesehen haben.«

»Das weiß ich nicht mehr. Kann schon sein. Ich wurde von Herrn Braun, dem Hausmeister, angerufen. Als ich am Ort ankam, untersuchte ich natürlich sofort den Patienten, also den Leiter der Einrichtung, und konnte nur den Tod feststellen. Das heißt, ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob die Nachtwache im Raum war oder nicht.«

Josef starrte den Mann an und wartete ab. Viele Befragte redeten von sich aus weiter, wenn man einfach keine Fragen stellte. Der Arzt wich seinem Blick aus und schwieg.

»Kam es sonst auch vor, dass sie nachts in die Disziplinaranstalt gerufen wurden?«

»Ja, hin und wieder kam das vor.«

»Weshalb?«

»Wenn einer der Jugendlichen ernsthaft erkrankte, sehr hohes Fieber bekam, Schüttelfrost, Krampfanfälle oder auch bei Suizidversuchen. Also, wenn die Erkrankung oder Verletzung schwerwiegend war.«

»Sind Sie bei diesen Anlässen Herrn Bruckner begegnet?«

»Manchmal schon. Es hatte ja meist nur ein Erzieher Dienst und dazu die Nachtwache. Also lief man sich über den Weg.«

»Wie wirkte er auf Sie? Hatten Sie als Arzt den Eindruck, dass mit ihm etwas nicht stimmen könnte?«

Dr. Rehling runzelte die Stirn. »Wenn ich gerufen wurde, kümmerte ich mich ausschließlich um den Patienten. Meist war auch der Direktor schnell zur Stelle. Und mit ihm besprach ich das weitere Vorgehen. Also zum Beispiel, ob der Patient ins Krankenhaus muss oder nicht. Die Nachtwache habe ich kaum wahrgenommen. Er war da, schloss Türen auf und zu, aber ich habe nicht auf ihn geachtet. Ob er psychisch auffällig war, kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen Sie schon mit dem behandelnden Psychiater sprechen.«

»Also wussten Sie doch, dass er in Behandlung war?«

»Das entnehme ich Ihren Fragen.«

»Es ist Ihnen also nie etwas aufgefallen an Herrn Bruckner?« Josef lehnte sich zurück und sah Dr. Rehling zweifelnd an.

»Doch, schon. Dass er ein komischer Kauz war. Aber da ist er ja nicht der Einzige.«

»Können Sie mir ein Beispiel für sein seltsames Verhalten nennen?«

Dr. Rehling holte tief Luft, als wäre ihm alles zu viel. »Er redete manchmal wirres Zeug. Von Gott, von Dämonen, von Geistern. Ehrlich gesagt, habe ich mich etwas gewundert, dass er dort nachts als Aufsichtsperson herumspaziert. Aber es ging mich nichts an.«

»Sie haben nicht mit dem Direktor darüber gesprochen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wozu? Es war nicht meine Aufgabe. Ich war kein Mitarbeiter des Werkhofs. Ich arbeitete mit Zinkner zusammen, gelegentlich auch mit seinem Stellvertreter, dem Herrn Spieß. Oder mit Frau Hellermann, wenn es um ein Mädchen ging. Und das war’s.«

»Das war’s? Und was ist mit der Staatssicherheit? Die hatten doch den Fall übernommen, soweit ich informiert bin.«

Ein nervöses Zucken lief über das Gesicht des Arztes. »Selbstverständlich habe ich Auskunft erteilt, wenn ich vom MfS befragt worden bin. Genauso wie ich Ihnen jetzt Auskunft erteile.«

Seine Stimme wirkte jetzt rauer, gepresst. Josef nahm wahr, dass sich auch die Körperhaltung des Befragten veränderte. Als würde er jeden Moment mit einem plötzlichen Angriff rechnen.


Auf dem Weg nach Leipzig stand Josef eine Weile im Stau. Als er mit Verspätung endlich ankam, war sein üblicher Parkplatz vor dem Revier besetzt. Etwas entnervt stellte er den Wagen einfach irgendwo in der Nähe der Dienststelle ab. Genau genommen im Halteverbot. Na, und wenn schon. Der Opel war schließlich sein Dienstfahrzeug, und er befand sich im Dienst. Seine Sonderrechte als Polizist nahm er ja sonst kaum in Anspruch.

Herr Berg hatte einen Teller mit Keksen, die vermutlich schon etwas verstaubt waren, auf dem Tisch stehen. Josef machte sich darüber her und bekam von Moni, der Sekretärin, sogar noch einen halbwegs vernünftigen Kaffee serviert.

Kauend präsentierte er Arno Berg seine mageren Ermittlungsergebnisse. Keine Spur von Georg Bruckner. Keine Hinweise, wo er sein könnte. Dafür ein paar halb gare Aussagen vom Erzieherpersonal und von diesem Arzt.

»Dr. Rehling erwähnte, dass nachts außer dem Wachmann meist auch ein Erzieher im Jugendwerkhof anwesend war. In der Akte steht dazu allerdings kein Name«, sagte Josef nachdenklich. »Könnte es sein, dass die Sonderermittler vom Amt für Nationale Sicherheit Schriftstücke aus den Akten entnommen und nicht zurückgelegt haben?«

Arno Berg hob seine schweren Schultern. »Das Amt wurde ja in Windeseile aufgelöst. Es herrschte ein einziges Chaos. Schon möglich, dass nicht alles ordnungsgemäß abgeheftet wurde.« Seine Stimme klang ironisch. »Wie Sie vielleicht wissen, sind in dieser Zeit auch etliche Unterlagen vernichtet worden.«

»Schon klar. Aber was ist, wenn hier etwas vertuscht werden sollte?«

Sein Vorgesetzter runzelte die Stirn, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und Josef musste an ein herannahendes Gewitter denken. Hatte er seine Frage zu direkt formuliert?

»Ist das Ihr Ernst, Herr Kollege?«

»Haben Sie sich schon mal gefragt, warum die Spezialkommission der Stasi den Fall überhaupt übernommen hat?«

»Sie meinen doch nicht etwa, dass das MfS dahintersteckt? Hinter einem Mord ?«, fragte Arno Berg empört.

Doch. Josef meinte genau das. Obwohl er keinerlei Beweise hatte. Aber wieso waren wichtige Hinweise verschwunden?

»Vielleicht nicht so direkt«, räumte er ein. »Ich möchte hier niemanden einfach so bezichtigen. Aber es sollte womöglich nicht ins Licht der Öffentlichkeit gelangen, was da in diesem Werkhof am Tag des Mauerfalls passiert ist. Vielleicht sollte auch das Ganze nicht ins Licht der Öffentlichkeit, also die haarsträubenden, zweifelhaften Praktiken der Umerziehung. Ein Mord würde sicherlich Fragen aufwerfen, die Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen, die ja jetzt auch in der Zone über bisher Verschwiegenes berichten darf. Insofern halte ich es für wahrscheinlich, dass die Ermittlungsakte vom Amt für Nationale Sicherheit manipuliert wurde. Oder zumindest für nicht ganz unwahrscheinlich.«

Wer weiß, was die Genossen sonst noch alles vertuscht haben, dachte er. Doch die Mimik seines Chefs hellte sich kein bisschen auf, und er wollte ihn nicht noch mehr reizen.

»Ich glaube, Sie haben da ein falsches Bild«, sagte Berg. »Die Spezialkommission hat in den vergangenen Jahren oft gute Arbeit geleistet bei der Aufklärung von Mordfällen. Natürlich gingen diese Verbrechen in der DDR nicht in die Öffentlichkeit. Das heißt aber nicht, dass schluderhaft ermittelt wurde. Im Gegenteil. Die Genossen konnten in Ruhe die Fälle aufklären, ohne dass sie von sensationsgierigen Reportern bedrängt wurden.«

Josef sagte nichts dazu. Mit Sicherheit hatte auch Arno Berg mit der Stasi zusammengearbeitet. Vermutlich fühlte er sich auf den Schlips getreten. Und vielleicht glaubte er ja sogar, der Kommissar aus dem Westen wäre scharf auf seinen Posten?


Während der Elternversammlung in der Aula der Gehörlosenschule gab es weder etwas zu essen noch zu trinken. Es fiel Josef schwer, sich zu konzentrieren. Irgendwie musste er überlesen haben, dass nur ein Elternbeirat gewählt werden sollte und es – neben einer freundlichen Willkommensrede von der Lehrerin Juliane Siebenbach, Terminankündigungen für Klassenfahrten, Projekttage und ein Fußballspiel – vor allem um zahlreiche formale Dinge ging. Ihm fielen zwischendurch fast die Augen zu. Immerhin war er schon seit dem sehr frühen Morgen auf den Beinen.

Natürlich waren die Kinder bei der Versammlung nicht dabei, und er hatte Florian nur für ein paar Minuten kurz vorher gesehen. Es schien ihm so weit gut zu gehen. Er erzählte ihm von seinem Fußballtraining, und Josef versprach, ihn am nächsten Wochenende wieder nach Leipzig zu holen. Zu seiner Überraschung hatte sich sein Sohn nach Beate Vogt erkundigt. »Seid ihr noch Freunde?« Offenbar machte sich Florian Sorgen um ihn. Freunde zu haben war aus Sicht seines Kindes das Wichtigste überhaupt. Und vielleicht hatte er damit ja nicht ganz unrecht. Florians Besorgnis rührte Josef, auch wenn er im ersten Moment nicht wusste, wie er auf die Frage antworten sollte.

»Wir sind Kollegen«, hatte er schließlich ein wenig verlegen erwidert, aber an dem Ausdruck in Florians Gesicht gesehen, dass es nicht das war, was sein Sohn hören wollte.

Die Elternversammlung zog sich in die Länge. Es gab zu guter Letzt noch einen Punkt auf dem Zettel mit der Tagesordnung, der »Sonstiges« hieß. Josef überlegte, sich zu melden und vor versammelter Mannschaft seine Beschwerde über das In-der-Ecke-Stehen vorzubringen und das Demütigen von Kindern zu thematisieren. Doch als es so weit war, blickten die meisten schon auf ihre Uhren, rutschten unruhig auf den Stühlen hin und her. Der Erzieher Erhard Holter, der Florian zur Strafe ins Abseits, mit dem Gesicht zur Wand, gestellt hatte, glänzte ohnehin durch Abwesenheit. Jetzt noch eine Debatte lostreten? Vermutlich würde er nur den Unmut der Anwesenden auf sich ziehen. Sein ostfränkischer Dialekt würde ihn verraten. Der aus dem Westen muss ja unbedingt noch Kritik anbringen. Die wissen ja anscheinend alles besser.

Vielleicht hätte er sich auch nicht extra für die Elternversammlung sein edles taubenblaues Hemd und die schwarzen Markenjeans anziehen sollen. Er wirkte sicher auffällig für die Leute hier, fremd. Was will denn der? Dieser Besserwessi! Selbst wenn sie die Vorwürfe nicht laut aussprechen würden.

Wollte er das?

Zusammen mit den anderen Eltern lauschte er in das Schweigen zum Thema Sonstiges hinein. Die Zusammenkunft wurde beinahe hastig beendet. Es war ja auch schon recht spät.


Danach beeilte sich Josef, zu seinem Wagen zu kommen. Der Himmel spannte sich schwarz und sternenlos über ihm. Es nieselte. Er war müde und fühlte sich frustriert.

Lieber hätte er diese wertvolle Zeit, die er mit dieser sinnlosen Elternversammlung vergeudet hatte, mit seinem Sohn verbracht. Schlief er schon? Als er an dem Internatsgebäude vorbeilief, sah Josef zu den Fenstern hoch. Sie waren dunkel. Nur in einem Raum leuchtete noch ein mattes Licht.

»Schlaf gut, Flori«, flüsterte er hinauf. »Schöne Träume.«

Einen Moment spürte er einen Stich in seinem Innern. Wieso konnte er jetzt nicht bei seinem Kind sein? Warum hatte er einen Job, der es ihm unmöglich machte, sich Tag und Nacht um seinen Sohn zu kümmern? Wieso war er Polizist bei der Mordkommission und nicht Lehrer oder Journalist oder Taxifahrer?

Als er losfuhr, registrierte er, dass ihm ein Wagen folgte. Doch er achtete nicht weiter darauf. Die Aula war voller Eltern gewesen. Sie alle fuhren jetzt nach Hause. Vielleicht wohnten sogar manche in Leipzig, so wie er.

Der Parkplatz vor dem Haus, in dem er seit dem Tag der Wiedervereinigung lebte, war heute Abend ebenfalls besetzt. Einer von diesen Gebrauchtwagen, den gewiefte Händler aus dem Westen den Ossis nach der Währungsunion aufgeschwatzt hatten und der mit Beulen und rostigen Stellen übersäht war, stand auf seinem Platz. Josef registrierte es mit einem Achselzucken. Auf ein Ärgernis mehr oder weniger kam es nun auch nicht an. Noch gab es genug Möglichkeiten, den Wagen abzustellen. In einem Jahr würde das vielleicht schon anders aussehen.

Der Regen hatte zugenommen, und als Josef in einer dunklen Sackgasse aus dem Opel stieg, zog er den Kragen seines Mantels etwas höher. Beinahe stolperte er über ein Brett, in dem rostige Nägel steckten und das offenbar aus dem Haufen Sperrmüll stammte, der am Rand der Straße lag. Es war nicht zu übersehen, dass die Leute ihre Möbel, die zum Teil noch aus den fünfziger Jahren zu stammen schienen, entsorgten. Wie Josef aus Berichten von Kollegen wusste, wurde der alte Hausrat meist durch Schränke, Regale und Sofas von IKEA ersetzt. Einzelteile für die Einrichtung der Wohnung heranzuschaffen, die erst noch zusammengebaut werden mussten, war für an die Mangelwirtschaft gewöhnte ehemalige DDR-Bürger offenbar eine leichte Übung.

Er hörte das Knallen einer Wagentür und dann Schritte, die rasch näher kamen, aber blickte sich nicht danach um. So schnell wie möglich wollte er nach Hause, vielleicht noch ein Glas von dem edlen französischen Rotwein trinken, den er sich neulich geleistet hatte, eine Kleinigkeit essen, die Spätnachrichten sehen und dann ins Bett.

Der Schlag auf den Kopf traf ihn völlig unerwartet, wie aus dem Nichts. Josef taumelte ein Stück vorwärts, als wäre er plötzlich betrunken. Als er versuchte, sich umzudrehen, sauste ein zweiter Hieb auf ihn hinab. Etwas fiel neben ihn auf das Kopfsteinpflaster. Josef nahm noch wahr, dass es das Brett war, über das er gerade fast gefallen wäre. Dann sah er Sterne, versuchte zu begreifen, was passierte, und sackte auf die Knie. Blut lief über seine Stirn, seine Augen, er blinzelte, konnte nichts mehr erkennen. Ein brutaler Tritt in den Rücken nahm ihm einen Moment den Atem.

Er fiel lang hin, mit dem Gesicht in eine Pfütze. Wasser drang in seinen Mund, mischte sich mit seinem Blut. Er spuckte es aus, robbte mühsam ein Stück weiter. Ein erneuter Fußtritt, diesmal in die Seite, stoppte ihn.

Das bekam er noch mit, dann spürte er nichts mehr.