58

Wie erstarrt stand Tanja in dem dunklen Raum und versuchte zu erkennen, was da draußen im Garten von Andreas’ Großmutter vor sich ging. Die Gestalt schien sich nicht zu rühren. War sie beobachtet worden? Die ganze Zeit?

Zwar hatte sie die Ofenklappen inzwischen geschlossen und das Licht erst gar nicht eingeschaltet, aber der Rauch, der aus dem Schornstein stieg, war, wenn in der Dunkelheit auch nicht zu sehen, so doch zu riechen. Wer immer dort lauerte, wusste also, dass sich jemand hier aufhielt.

Nach dem ersten Schrecken löste sie sich aus der Bewegungslosigkeit, überzeugte sich davon, dass die Tür abgeschlossen war, und schlich sich hinter die schwere, dunkle, halb zugezogene Gardine. Der Fensterrahmen wirkte marode. Risse zogen sich durch das Holz. Vertrocknete Farbreste blätterten von ihm ab. Im Zweifelsfall war das Fenster kein Schutz.

Auf ihren Fluchten aus den Jugendwerkhöfen war sie hin und wieder in Datschen eingebrochen, um irgendwo zu schlafen und ein paar übrig gebliebene Kekse oder Äpfel aufzustöbern. Wer hier einsteigen wollte, musste sich nicht groß anstrengen. Und auch sie war ja ohne die geringste Anstrengung in dieses Haus eingebrochen. Die Hintertür!, fiel ihr plötzlich ein. Sie war offen! Wieso hatte sie daran nicht gleich gedacht?

Sie beeilte sich nachzusehen. Die Tür war zu. Aber sie fand keinen Schlüssel, und einen Riegel gab es hier auch nicht. Tanja schob einen schweren Sessel unter die Klinke. Fürs Erste musste das genügen. Wenn jemand hereinkam, würde sie es hören. Verhindern könnte sie es ohnehin nicht.

Tanja lief zurück in das vordere Zimmer, wartete einen Moment ab, zwang sich, trotz des Qualms aus dem Ofen ruhig und gleichmäßig zu atmen, ehe sie sich traute, wieder hinauszuspähen. Vielleicht war sie ja auf dem Holzweg? Womöglich kam ja nur ein Bekannter oder Nachbar von Andreas’ Großmutter zu Besuch oder wollte nach dem Rechten schauen? Allerdings würde so jemand wohl kaum im Garten herumschleichen.

Sie konnte die schwarze Gestalt nicht mehr ausfindig machen. Aber das musste ja nichts bedeuten. Hatte sich der Eindringling hinter einem Baum versteckt, oder stand er schon direkt vor der Tür?

Was sollte sie tun? Rausgehen und nachsehen? Tanja kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie zog die Gardine ein winziges Stück zurück. Plötzlich sah sie den in Schwarz gehüllten Menschen direkt an der Scheibe vorbeigehen. Sie taumelte ein Stück zur Seite.

Es klopfte. Laut und energisch.

Tanja schlich sich zur Tür und schob schnell noch den Riegel vor.

Es pochte erneut. Die einfache Holztür bebte. Sie spürte ihr Herz einen Satz machen und rasend schnell schlagen. Sollte sie sich verstecken? Und wo? Es gab keinen Schrank, der groß genug war, dass sie hineinpasste. Unter das Bett? Hinter das Sofa? Wie ein Kind beim Versteckspiel? Das kam ihr lächerlich vor.

Sie nahm allen Mut zusammen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, schrie sie.

Es wurde still. Das Pochen hörte auf. Sie wartete, lauschte, wartete. Da waren Schritte zu hören, oder?

Die Gestalt stand auf einmal am Fenster. Aber sie konnte das Gesicht nicht erkennen. Es war vollkommen schwarz. Rabenschwarz. Ein Rabe in Menschengestalt. Sie kicherte nervös.

Erst dann bemerkte sie, dass er eine Mütze über dem Gesicht hatte, die manche Leute beim Skilauf trugen, im Schnee, im tiefsten Winter. Man sah nur die Augen. Und die starrten sie an.

Sie erschienen ihr ebenfalls schwarz.

Kannte sie ihn?

»Komm einfach raus, Tanja«, sagte eine Männerstimme. Er sprach nicht laut und nicht leise. »Komm raus, und ich bringe dich zu ihm.«

»Zu wem?«, fragte sie beinahe atemlos und schnappte nach Luft. Wer war der Mann? Woher wusste er, wie sie hieß? Wieso tauchte er hier auf?

»Komm raus, und ich bringe dich zu Andreas.«

Zu Andreas? Wirklich?

»Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?«

»Gar nicht. Entweder du vertraust mir oder nicht.«

Das ist absurd, dachte Tanja. Völlig bescheuert. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und tat nichts.

Die schwarze Gestalt ging gemächlich rückwärts. Verschwand, ohne sich umzudrehen in einem Busch. Es sah aus, als würde der Mann von den Blättern verschluckt werden.

Sie würde nie erfahren, ob es stimmte, was er sagte. Ob er sie zu Andreas bringen konnte.

War sie feige? Ließ sie ihren einzigen Freund im Stich?

Und noch etwas kam ihr in den Sinn: Vielleicht war dieser Mann der Mörder. Und wenn sie ihn entlarvte, käme ihr Vater aus der Schusslinie. Das war es doch, was sie wollte, oder? Niemand würde ihren Vater mehr verdächtigen, wenn sie den richtigen Mörder fand.

Langsam bewegte sie sich auf die Tür zu. Zog den Riegel zurück. Drehte den Schlüssel umständlich im Schloss. Auch diese Tür klemmte. Sie bekam sie nicht gleich auf. Sie stellte sich vor, dass der Fremdling zurückgekommen war und sich gegen sie lehnte.

Unsinn. Er wollte doch, dass sie rauskam. Das Haus war einfach alt. Die Tür aufgequollen, als wäre sie mal feucht geworden.

Als sie draußen stand, hielt sie nach ihm Ausschau, aber sie sah ihn nicht. War er abgehauen? Hatte er die Lust verloren, auf sie zu warten?

Sie hörte ein seltsames Quietschen. Dann bemerkte sie, dass sich die Hollywoodschaukel bewegte, die vor der Hecke zum Nachbargrundstück stand. Es war dunkel dort, und sie erkannte nicht gleich, dass die schwarze Gestalt dort saß und jetzt ruhig vor- und zurückschaukelte. Hin und her und her und hin. Wie ein großes, finsteres Kind.

Er wartete also doch auf sie. Und nahm sich die Zeit, die es kostete.

Wie aufmerksam.

Wieder schüttelte sie dieses merkwürdige Lachen.

Langsam trat sie ein Stück vor die Tür, zeigte ihm, dass sie bereit war. Was sollte schon passieren? Sie fühlte keine Angst.

Entweder er brachte sie zu Andreas, oder er brachte sie um.