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Andreas wusste nicht, welcher Tag heute war. Aber er schätzte, dass er seit drei Tagen und drei Nächten nichts mehr gegessen hatte.

Ihm war ein wenig schwindlig, und er fror mehr als sonst in dem Kerker, aber sein Bauch hatte aufgehört zu knurren – wie ein wildes wütendes Tier, das irgendwann eingeschlafen war. Der Essensgeruch von den Speisen, die sein Bewacher ihm weiterhin regelmäßig brachte, machte ihm nichts mehr aus. Er ignorierte ihn einfach.

Das Einzige, was er noch zu sich nahm, war Wasser und Tee. Auf seiner Zunge lag ein schaler Geschmack. Der Geschmack des Hungerns. Wasser oder Tee zu trinken half etwas. Es spülte das Bittere, Fade für ein paar Minuten weg.

Den Tag verbrachte er jetzt damit, auf der Pritsche zu liegen und den Meerschweinchen zuzusehen. Sie wurden allmählich zutraulicher. Wenn seine Hand schlapp hinabhing, kamen sie neugierig näher und schnupperten an seinen Fingern. Er fütterte sie nicht mehr so oft wie am Anfang, aber er versorgte sie noch. Das war er ihnen schuldig. Ganz einfach, weil sie ohne ihn sterben würden.

Manchmal dachte er über seinen Bewacher nach. Herr Jemand verhielt sich wie ein Schachspieler, der seine wichtigste Figur nicht verlieren wollte. Aber wozu? Warum tötete er Andreas nicht einfach, wenn er ihn aus dem Weg räumen wollte? Wieso war es ihm wichtig, dass er weiterlebte?

Die Meerschweinchen waren ein guter Trick. Wäre Andreas allein, hätte er die Zelle längst angezündet. Das Feuerzeug besaß er noch. Das Feuerzeug des Mörders. Herr Jemand hatte auf eine Leibesvisitation verzichtet und es nicht entdeckt. Manchmal holte Andreas es mitten in der Nacht aus seiner Hosentasche und betrachtete es. Manchmal ließ er ganz kurz die kleine Flamme tanzen. Aber er zündete nichts an. Er konnte unmöglich einen Raum in Brand stecken, in dem Tiere lebten. Er musste sie beschützen, durfte nicht zulassen, dass ihnen etwas Böses geschah.

Herr Jemand hatte sich, außer am frühen Morgen, den ganzen Tag noch nicht blicken lassen und abgesehen von ein paar Broten, Tee und Wasser keine Nahrungsmittel gebracht.

Den Teller mit den Broten hatte Andreas zu den anderen Lebensmitteln auf den Tisch gestellt und ihn augenblicklich vergessen.

Dass das Mittagessen heute auszubleiben schien, interessierte ihn nicht sonderlich. Sollte es Herr Jemand etwa aufgegeben haben, ihn durchzufüttern?

Irgendwann – vermutlich war es Nachmittag – wurde Andreas doch unruhig. Was wäre, wenn sein Bewacher gar nicht mehr kam? Wenn er zum Beispiel einen Unfall gehabt hatte? Oder das Interesse an seinem lebenden Spielzeug verloren?

Andreas fing beinahe an, ihn zu vermissen. Immerhin war Herr Jemand ein menschliches Wesen, der von seiner Existenz in diesem Verlies wusste. Der einzige Mensch, der davon wusste. Er stellte sich vor, wie er in fünfzig oder sechzig oder hundert Jahren gefunden wurde. Es war feucht und kalt in dem Keller. Vielleicht verwandelte er sich in eine Mumie. Und die vier Meerschweinchen lagen als mumifizierte Fellknäuel neben ihm. Wie kleine Opfergaben. Komischerweise musste er über das Bild in seinem Kopf plötzlich schrecklich lachen. Obwohl er gleichzeitig traurig war. Wurde er denn in der Einsamkeit verrückt? Drehte er langsam, aber sicher durch?

Auch als er die Stimme hörte, zweifelte er an seinem Verstand. Herr Jemand redete nie, wenn er kam. Er führte auch keine Selbstgespräche. Und die Stimme, die Andreas wahrnahm, die diese übliche Stille durchbrach, war weiblich. Sie stellte Fragen. Sie protestierte gegen irgendetwas. Eine aufgeregte, wütende, laute Stimme. Es kam ihm vor, als würde er sie kennen.

Als die Tür aufgeschlossen wurde, richtete Andreas sich auf, setzte sich gerade auf den Rand der Pritsche und wartete ab. Wie ein Kind, das Weihnachten auf die Bescherung wartete. Herr Jemand hatte ihn schon oft überrascht. Das musste er ihm lassen. Er gab sich Mühe. Verteilte sogar Geschenke. Einen anderen Menschen hatte er Andreas bisher nicht gebracht. Das wäre mal etwas Neues.

Der Mensch, der in die Zelle geschoben wurde, hatte – wie auch Herr Jemand – kein erkennbares Gesicht. Nur dass er keine Sturmhaube trug, sondern eine Art Kopfkissenbezug Augen, Mund und Nase bedeckte.

»Scheiße, wo bin ich hier?«, fragte die Stimme.

Andreas war sich jetzt ziemlich sicher, zu wem sie gehörte. Doch er brachte keinen Ton heraus.

Er bemerkte, wie sie sich schüttelte vor Kälte. Oder auch vor Angst. Wieder hier zu sein war schockierender als jeder Albtraum. Sie musste es wissen, musste wissen, wo sie gelandet war, auch wenn sie nichts sah.

Herr Jemand zog Tanja die Bedeckung vom Kopf, schloss die Tür, verriegelte sie und verschwand.

Tanja blickte sich ungläubig um. Sie trug einen Rucksack auf dem Rücken, als wäre sie auf Wanderschaft.

»Andreas?«

Er erhob sich langsam von der Pritsche, immer noch nicht fähig, etwas zu sagen.

War sie echt? Stand da wirklich Tanja ? Oder litt er schon an Halluzinationen?