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Bis zur Zusammenkunft mit Josef Almgruber, Arno Berg, Viktor Lüder und Steffen waren es noch zehn Minuten Zeit. Beate saß schon am Tisch, trank Kaffee, las den Zettel, den sie im Haus der Großmutter von Andreas gefunden hatte, noch ein paarmal und zerbrach sich den Kopf darüber, was die Zeilen zu bedeuten hatten. Tanja war offenbar freiwillig mit dem Mann mitgegangen. Wegen Andreas. Also hatte sich der Täter noch eine zweite Geisel geholt. Aber wozu?

Wenn ein Vater sein Kind entführte, ging es fast immer um einen Sorgerechtsstreit. Seit dem Mauerfall setzte sich der Entführer des jeweiligen Mädchens oder des jeweiligen Jungen nicht selten ins Ausland ab, um sich vor dem Zugriff der Polizei zu schützen. Hier lag der Sachverhalt aber anders. Georg Bruckner hielt sich, wie es schien, noch in der Nähe auf. Um einen Streit um das Sorgerecht ging es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, denn die Mutter scherte sich nicht groß um ihren Sohn. Vielleicht wäre sie sogar froh, wenn sie die Verantwortung loswurde. Um eine klassische Geiselnahme handelte es sich auch nicht, denn es gab keinerlei Forderungen. Worum ging es ihm also?

Verwunderlich war, dass Bruckner offensichtlich problemlos herausgefunden hatte, wo Tanja steckte. Hatte er sie überwacht? Und zuvor seinen Sohn? Wo konnte man zwei Menschen verstecken, ohne dass es auffiel?

Auf einmal wurde ihr erst siedend heiß und dann eiskalt. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und zur Tür hinausgerannt. Natürlich! Warum war sie nicht eher darauf gekommen?

Doch in diesem Moment traten Arno Berg und Josef Almgruber in den Raum, Steffen und Viktor, die in ein Gespräch vertieft waren, folgten.

Almgruber, der noch etwas blass aussah, wurde umringt, ihm wurde sanft auf die Schulter geklopft, was ihm sichtlich peinlich war. Beate erhob sich, ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer Umarmung. »Willkommen zurück«, sagte sie leise und meinte nicht nur seine Abwesenheit wegen des Krankenhausaufenthalts.

Josef verstand die Anspielung. »Ab sofort sind wir wieder ein Team, Frau Kollegin.«

»Wird ja auch Zeit«, murmelte sie.

Einen Moment spürte sie die Stoppeln seines Kinns über ihre Wange reiben. Sie löste sich etwas verlegen von ihm und setzte sich.

Steffen schien prompt eifersüchtig zu werden. Er ließ sich dicht neben Beate nieder und nahm unter dem Tisch heimlich ihre Hand. Sie drückte seine Finger kurz, entzog sich ihm dann aber. Schließlich waren sie im Dienst und unter Kollegen. Seine Liebesbekundungen konnte er sich auch für später aufheben.

Arno Berg begrüßte sie mit ein paar knappen Worten. »Ich freue mich, dass wir wieder vollzählig sind. Wie alle wissen, können wir uns keine Ausfälle leisten.« Er nickte Josef Almgruber zu, wünschte ihm weiterhin gute Genesung und mahnte zu mehr Vorsicht.

»Auch wenn man einen feigen Angriff von hinten nicht jederzeit erwarten kann, müsst ihr und müssen Sie genau das tun: den Angriff von hinten jederzeit erwarten.«

Almgruber senkte beschämt den Kopf und brachte ein paar Dankesworte für den Zuspruch und die Besuche in der Klinik hervor.

»Und nun kommen wir mal zu unserem Fall«, sagte Berg ungeduldig. »Wer hat etwas zu vermelden?«

Viktor Lüder hob die Hand. Vor ihm lag wieder einmal ein ziemlich hoher Stapel Akten auf dem Tisch.

»Ich habe herausgefunden, dass es über Georg Bruckner, der zurzeit arbeitslos gemeldet ist, eine Jugendhilfeakte aus seiner Kindheit und Teenagerzeit gibt. Zum Glück ist sie noch erhalten, und so habe ich mir diese und ein paar andere Unterlagen kommen lassen.« Er tippte auf die Sammlung mit den Ordnern und blickte in die Runde. »Der Mann hatte eine schwere Kindheit. Die Eltern flüchteten aus der DDR kurz vor dem Mauerbau und ließen ihren Sohn zurück. Der Junge kam in ein Heim. Dort war er ein Einzelgänger. Fügt sich nicht ins Kollektiv ein , ist die häufigste Anmerkung des Erzieherpersonals. Er habe erhebliche Schwierigkeiten, sich ein- und unterzuordnen und würde sich nicht an die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens halten . Aufgezählt sind Vergehen wie unerlaubtes Entfernen vom Heimgelände, Disziplinverstöße, Ungehorsam, Beschädigung von Volkseigentum, Vernachlässigung der Ämter, Diebstähle, aggressives und provokantes Verhalten gegenüber Erziehern und Zöglingen. Um es kurz zu machen: Er wanderte von einem Heim ins nächste und landete zur Umerziehung in einem Jugendwerkhof in einem Nest in der Märkischen Heide. Dort traf er auf einen jungen Erzieher, der unter den Jugendlichen schnell als äußerst gewalttätig bekannt wurde und der etliche Jahre später Direktor des Jugendwerkhofs Torgau wurde: Karl Zinkner.«

Viktor Lüder machte eine Pause, als wartete er auf Beifall.

»Es gibt also eine Vorgeschichte«, stellte Arno Berg trocken fest. »Aber wieso wurde der möglicherweise misshandelte Junge später Nachtwächter im schlimmsten Jugendwerkhof der DDR?«

»Um sich an Zinkner zu rächen? Er könnte den Mord lange geplant und nur auf eine passende Gelegenheit gewartet haben«, mutmaßte Lüder.

»Und entführt dann den eigenen Sohn?« Berg runzelte die Stirn. »Und nun auch dieses Mädchen?«

»Vielleicht war das ein merkwürdiger Zufall, dass er in Torgau auf seinen Sohn traf. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Bruckner psychisch krank ist. Er wurde häufiger auffällig. Zum Beispiel in seiner Armeezeit. Er wurde aus der NVA sogar rausgeworfen. Danach landete er das erste Mal in einer Klinik. Wie ich herausfand, befand er sich im letzten Jahr wegen einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung für ein paar Wochen in einer psychiatrischen Klinik und ist auch noch in Behandlung. Das heißt, grob gesagt, er lebt in seiner eigenen Welt, die nicht unbedingt mit der Realität, wie wir sie kennen, kompatibel ist. Zu der letzten Sitzung bei seinem Psychiater erschien er allerdings nicht mehr und machte auch keinen neuen Termin. Wahrscheinlich hat er seine Medikamente abgesetzt.«

Arno Berg stöhnte und verzog entnervt das Gesicht. Wie Gewitterwolken zeigten sich dunkle Falten auf seiner Stirn.

»Kurz zusammengefasst heißt das also, wir haben es mit einem unberechenbaren Menschen zu tun, der möglicherweise einen Mord begangen und zwei Teenager entführt hat«, sagte Berg. »Gibt es außer Hiobsbotschaften auch Erfolgsmeldungen? Frau Vogt, sagen Sie uns noch etwas zu dem Zettel, den Sie da in der Hand halten? Und was sich bei Ihrer Spurensuche ergeben hat?«

Beate berichtete hastig und in aller Kürze von dem Gespräch mit Andreas’ Großmutter, von dem verlassenen Haus in der Provinz und davon, was sie darin vorgefunden hatte. Sie las Tanjas Notiz vor, die sie eigentlich schon auswendig konnte.

»Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Gewalt gegen die Jugendliche angewendet wurde, jedenfalls keine körperliche. Ich gehe davon aus, dass der Mann Tanja Wolter psychisch unter Druck gesetzt und ihr das Gefühl vermittelt hat, dass nur sie Andreas retten kann. Wie es aussieht, ist sie mit ihm mitgegangen.« Beate kämpfte gegen das schlechte Gewissen an, das plötzlich in ihr aufstieg. Hätte sie Tanja warnen sollen?

»Na prima«, sagte Berg sarkastisch. »Und Sie haben nicht zufällig herausgefunden, wo der Mann stecken könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe eine Vermutung.«