Hinter einem Tränenschleier sah Andreas sie an.
Tanja hielt ihm die Frischhaltedose mit den Weintrauben direkt vor das Gesicht.
»Na?«, fragte sie.
Andreas blinzelte, wandte den Blick von ihr ab und starrte in die rosarote Box hinein. Auch wenn er den Inhalt nur verschwommen vor sich sah: Besonders frisch hatte die Dose das Obst nicht gehalten. Der faulig süße Geruch stieg ihm aufdringlich in die Nase.
»Noch ein Träubchen?« Sie legte den Kopf schief, wie ein Vogel, der seinem hungrigen Küken etwas in den Schnabel werfen wollte.
Abwehrend hob er die Hand. »Du nimmst mich nicht ernst«, beklagte er sich. »Ich mache einen Hungerstreik! Was zur Hölle kapierst du daran nicht?«
Seine Wut überraschte ihn selbst. Aber es kränkte ihn, dass ausgerechnet Tanja ihn nicht verstand.
»Ich nehme dich sogar sehr ernst. Wäre ich sonst hier? Aber mit deiner Hungerei schädigst du dich nur. Und ein bisschen Vitamine schaden dir nicht, im Gegenteil. Ein Bisschen .« Sie lachte, aber es klang nicht echt.
Müde zuckte er mit den Schultern, obwohl ihm klar war, was sie wollte: Er sollte essen. Aber das hatte er sich abgewöhnt. Er sah keinen Sinn mehr darin, sich Dinge in den Mund zu stecken, zu kauen, zu schlucken. Am Ende kam alles wieder stinkend aus ihm heraus. Plumpste in den Kübel. Wozu?
Die halbe Traube, die sie ihm in den Mund gesteckt hatte, war ihm schon zu viel gewesen. Er hätte sie am liebsten wieder ausgespuckt. Doch er tat, was sie sich wünschte. Ihr zuliebe .
Die Träne, die sich von seinen Wimpern löste und ihm über das Gesicht rann, fühlte sich ebenso fremd an. Als gehörte sie gar nicht zu ihm.
Tanja schob ihm die nächste Frucht zwischen die Lippen und sah ihn mit großen Augen an.
Ihr zuliebe zerbiss er das Ding. Die Traube schmeckte ekelhaft. Nach Plastik. Nach der stinkenden Box, die Herr Jemand ihm täglich brachte. Nach etwas Falschem. Der Saft lief in seinem Mund aus, rann in seine Kehle. Er musste schlucken. Ihr zuliebe . Es fiel ihm merkwürdig schwer. Er verschluckte sich. Hustete.
»Noch eine?«
Hustend schüttelte er den Kopf. Wieso war sie hier? Hatte Herr Jemand sie etwa hergeholt, damit er seinen Streik beendete? Steckte sie mit ihm unter einer Decke? Unsinn. Wieso war er immer so misstrauisch?
Tanja seufzte. »Oder etwas anderes? Was Herzhaftes? Da liegen Wiener Würstchen auf dem Tisch, die noch ganz passabel aussehen. Du musst wieder zu Kräften kommen.«
»Mir geht es gut«, sagte er, nach Luft japsend.
Sie sah ihn zweifelnd an. »Eine Wiener mit Bautzner Senf. Dazu ’n trockenes Konsumbrötchen. Bestes Mitropa-Essen«, versuchte sie zu scherzen. »So kommt der junge Herr wieder zu Kräften.«
»Ich bin kräftig genug. Mir geht’s gut«, wiederholte er stur.
Seine Sinne schienen – vielleicht durch den Hunger – geschärft. Er konnte sehen, dass sie ihm nicht glaubte.
Andreas erhob sich, ging in die Mitte der Zelle und absolvierte ein paar Liegestütze zum Beweis. Nach einer Weile kamen die Meerschweinchen aus ihren Häusern und schnupperten an seinen Fingern.
»Siehst du?«, sagte er. »Alles bestens. Ich bin topfit. Gib den Tieren die Trauben.« Seine Mundwinkel verzerrten sich. Er hoffte, dass es wie ein Lächeln aussah. »Sie müssen fressen, sonst sterben sie«, fügte er hinzu.
»Ja, in Ordnung. Aber du musst auch … Andreas, ich halte das nicht lange aus! Ich halte das überhaupt nicht aus! Das verstehst du doch? Ich dreh hier sonst durch. Du willst doch auch hier raus?«
Andreas erhob sich und wischte sich die Hände an der Hose ab. Wie ein Roboter machte er Kniebeugen. Er antwortete nicht.
»Wir sind zu zweit. Der Typ ist allein. Wenn der das nächste Mal reinkommt …« Sie sprach nicht weiter, sondern sah sich hektisch in der Zelle um. »Wir brauchen eine Waffe. Am besten was aus Metall. Hast du eine Idee?«
Andreas sprang in die Höhe. Hockstrecksprung. In die Hocke, Streckung, Sprung. Dann Liegestütz, Kniebeuge, wieder Hockstrecksprung. Torgauer Dreier hieß die Übung, mit der sie täglich schikaniert worden waren im Jugendwerkhof Torgau, in den Monaten der Gefangenschaft. Woche für Woche, Tag für Tag. Der Ablauf war fest in ihm verankert. Er musste nicht darüber nachdenken. Sein Körper spulte den Sport mechanisch ab. Er war nicht so schwach, wie Tanja dachte. Wenn es sein musste, konnte er kämpfen.
Tanja rannte nervös um ihn herum. Es gab nur zwei Gegenstände aus Metall. Und sie waren nicht schwer zu finden. Aber sie sah wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht. Sie warf sogar eines der Tierhäuschen um. Wenn sie so weitermachte, würde sie noch auf die Meerschweine treten.
»Hör auf!«, schrie er.
Tanja erstarrte mitten in der Bewegung und blickte ihn verblüfft an. »Womit?«
Andreas verdrehte die Augen, nahm die Trauben aus der Box und verfütterte ein paar davon an die Nagetiere. »Siehst du, sie lieben diese Früchte.«
»Du scheinst dich ja nicht gerade zu freuen, dass ich hergekommen bin.«
»Du bist nicht hergekommen. Er hat dich mir gebracht«, sagte Andreas.
Sie war ein Geschenk, eine Opfergabe. Herr Jemand wusste, was er tat, womit er Andreas einen Gefallen tun konnte.
»Spinnst du?« Einen Moment sah sie aus, als wollte sie sich auf ihn stürzen.
Er lachte. Diesmal war es ein echtes Lachen. »Die Waschschüssel ist aus Emaille. Der Leo ist ebenso aus Metall.«
Der Leo . Das war das Knastwort für den Scheißeimer.
Tanja lachte jetzt auch. »Okay, gleich zwei Waffen. Für jeden eine.«
Andreas wurde von diesem merkwürdigen Lachen geschüttelt. Er versuchte, damit aufzuhören, aber er konnte nicht. Es war jetzt eine abgemachte Sache, oder? Sie würden sich befreien.
»Und wohin dann?«, fragte er, als er sich schließlich beruhigt hatte.
Tanja zuckte mit den Achseln. »Erst mal in die Wohnung des Alten«, flüsterte sie. »Ich meine … da, wo wir uns schon mal versteckt haben. Und dann sehen wir weiter.«
»Dann sehen wir weiter«, wiederholte er mechanisch. Er fühlte sich irgendwie entrückt. Als wäre er gar nicht wirklich hier. Als würden sie sich im Traum begegnen und Fluchtpläne schmieden. Das war nicht real, oder?
»Ja. Vielleicht gehen wir zusammen nach Portugal.«
»Portugal?« Das klang für ihn, als wollte Tanja mit ihm auf den Mond fliegen.
»Das Land liegt neben Spanien. Ich hab Fotos in einer West-Zeitschrift gesehen. Dort gibt es rote Felsen und das Meer mit Wind, Wellen, Fischen und Segelbooten und so. In den Buchten leben Hippies. Ganz ohne Zwang, ohne Arbeit. Da können wir hin. Und schließen uns den Hippies an, was meinst du?«
»Gute Idee«, sagte er matt, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon sie eigentlich sprach. Rote Felsen? Hippies?
»Wir fangen Fische und braten sie am Lagerfeuer«, plapperte Tanja weiter. »Für das Feuer bist du natürlich zuständig.« Sie kicherte überdreht. »Ich bau mir eine Angel und fange die Fische, okay?«
Er wusste nicht, ob sie sich über ihn lustig machte. Aber er grinste jetzt auch. »Liegt der Schlüssel noch unter der Matte?«, fragte er unvermittelt.
»Keine Ahnung, aber den Zweitschlüssel, der in der Wohnung im Flur hing, den hab ich damals mitgenommen.«
Tanja stürzte sich auf ihren Rucksack und wühlte darin herum. »Ganz schön kalt in dem Scheißbunker. Aber ich schwitze wie verrückt«, murmelte sie vor sich hin.
»Meinst du, die Bude ist noch unbewohnt?«
»Davon gehe ich mal aus. Die Leute verlieren ihre Arbeit und verduften. Wer will schon noch in Torgau wohnen?«
»Ich jedenfalls nicht«, sagte er. »Ich will weg. Weit weg. So weit weg wie möglich.«
Tanja reichte Andreas den Wohnungsschlüssel. »Besser, wenn du den nimmst.«