Sie beobachtete ihn, achtete auf jede seiner Bewegungen. Den Schlüssel, den sie ihm reichte, nahm er wie in Zeitlupe an sich. Andreas wirkte in manchen Momenten irgendwie benebelt, geistesabwesend. Hatte ihr Bewacher ihm was zur Beruhigung gegeben? Vielleicht ein Medikament in den Tee getan? Das wäre für eine Flucht ziemlich ungünstig. Andererseits schien er körperlich einigermaßen fit zu sein.
Er kann es schaffen, dachte sie. Er muss es schaffen.
Der Eimer und die Waschschüssel standen griffbereit so neben der Tür, dass der Eintretende sie nicht gleich bemerken würde. Tanja sah sich nach weiteren Dingen um, die man für einen Angriff, um sich aus der Gefangenschaft zu befreien, oder auch für die nötige Selbstverteidigung nutzen konnte. Richtige Waffen gab es hier natürlich nicht. Auch kein Messer, keine Gabel, nicht mal einen Löffel. Auch einen einfachen Aluminiumlöffel hätte man zur Stichwaffe umfunktionieren können, wenn man das obere Teil abbrach und den Stiel an einer Mauerkante scharf schliff. Im Geschlossenen Jugendwerkhof war die Abgabe jedes Löffels genauestens kontrolliert worden. Messer hatte man ihnen ohnehin nicht gegeben.
In einer dunklen Ecke fand sie neben einem geöffneten Päckchen ATA-Scheuerpulver eine Plastikflasche mit dem Desinfektionsmittel Wofasept, das Chlor enthielt und das noch aus dem VEB Chemiekombinat Bitterfeld stammte.
Böser Fehler, dachte sie. Wie kann der Typ so was einfach so herumstehen lassen? Was, wenn Andreas in seiner Verzweiflung davon getrunken hätte? Im Werkhof waren absichtliche Vergiftungen mit Putzmitteln häufig vorgekommen. Das Ziel solcher Aktionen war allerdings stets, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden. Doch meist landete man nur wegen sogenannter Selbstverstümmelung in der Arrestzelle.
Tanja stellte sich mit dem Rücken zum Türspion für den Fall, dass sie beobachtet wurde, und schüttelte die Flasche vor ihrem Körper. Sie schien noch genügend Flüssigkeit zu enthalten. Tanja schraubte den Verschluss ab und roch an dem Mittel. Es stank tatsächlich ätzend nach Chemie.
Andreas hockte mit leerem Blick auf dem Rand der Pritsche. Er starrte die schimmlige Wand an oder auch den dreckigen Boden. Er schien nicht zu bemerken, was sie da trieb. Sie musste ihn irgendwie auf das, was kommen sollte, vorbereiten. Nur wie?
Sie setzte sich neben ihn und schob das Desinfektionsmittel unter das Bretterbett. Als sie sich leicht an ihn lehnte, spürte sie das Zittern, das durch seinen Körper lief.
»Ist dir kalt?«
»Mir ist immer kalt«, murmelte er. »Jedenfalls hier«, fügte er hinzu.
»Hm.« Tanja legte den Arm um ihn. »Entspann dich. Meinst du, er beobachtet uns jetzt?«
»Schon möglich.«
Sie lauschten einen Moment. Es war nichts zu hören. Wenn die Klappe des Türspions bewegt wurde, erzeugte das normalerweise ein metallisch scharrendes Geräusch. Aber es blieb still.
»Hör mal, er hat dir doch nichts angetan, oder? Ich meine, dich irgendwie angefasst oder so.«
Andreas schüttelte den Kopf und blickte sie dann fragend an. »Ist es eigentlich warm in Portugal?«
»Ja, da, wo wir hingehen werden, ist es warm.« Sie sagte das im Brustton der Überzeugung. Obwohl sie sich nicht sicher war. Sie hatte nur in dem Haus von Andreas’ Großmutter diesen Bericht in der Illustrierten gelesen und sich immer wieder die Bilder angesehen. Auf jedem der Fotos schien die Sonne, beleuchteten die Sonnenstrahlen den zimtfarbenen Sand und das türkisfarbene Meer. Die Felsen standen in dieser Landschaft herum wie versteinerte Dinosaurier.
»Es wird dir da gefallen«, versprach sie. »Es gibt sogar Palmen. Hast du schon mal echte Palmen gesehen?«
»Noch nicht mal falsche.«
»Du wirst sehen: Alles wird gut.«
»Und wenn nicht?«
»Verlass dich drauf.«
»Aber was ist, wenn nicht alles gut wird?«
»Schlechter als jetzt kann es ja nicht werden, oder? Also kann es nur besser werden.«
»Das heißt aber nicht, dass es gut wird«, sagte er resigniert.
»Hör zu.« Sie flüsterte jetzt, dicht an sein Ohr gebeugt. »Wenn er das nächste Mal reinkommt, überwältigen wir ihn, und du nimmst den Schlüssel und haust ab. Ich werde ihn noch eine Weile beschäftigen, damit er dir nicht folgen kann, okay? Und dann komme ich nach, und wir treffen uns in der Wohnung. Hast du mich verstanden?«
»Können wir nicht zusammen abhauen?« Er klang immer noch mutlos. Seine Schultern sackten nach unten.
»Nein. Ich muss sicherstellen, dass er dir nicht folgt. Du bist bestimmt ziemlich geschwächt nach der Zeit hinter diesen Mauern. Du kannst vielleicht nicht so schnell laufen.«
Andreas schwieg. Er sah ängstlich zur Tür.
»Du musst mir vertrauen«, sagte Tanja. »Vertraust du mir?«
»Ich möchte auf ein Segelboot. Ich will übers Meer segeln, wenn wir in diesem anderen Land sind. Versprichst du mir, dass wir mit einem Schiff fahren?«
»Ich verspreche es.«
»Gibt es da Delfine?«
»Natürlich.«
Ein schüchternes Leuchten zeigte sich in seinen Augen und verschwand gleich wieder. »Wirklich?«
»Klar.«
»Okay. Ich vertrau dir.«
Sie lächelte ihn an, als wären sie schon in Freiheit. Und auf dem Weg nach Portugal.
»Prima. Was gibt es zu beachten? Wie verhält er sich, wenn er dir das Essen bringt?«
»Für gewöhnlich kommt er nicht rein in die Zelle«, sagte er leise.
»Verstehe.«
Die Erwachsenen hatten in der Zeit ihres Aufenthalts im Jugendwerkhof Torgau die Arresträume nie betreten. Sie blieben stets im Gang stehen. Zur Not, falls ein Insasse aus Verzweiflung ausrastete oder auch nur einen unerlaubten Schritt auf sie zukam, konnten die Erzieher die Tür schnell zuschlagen und verriegeln. Ihnen war das Schicksal der Jugendlichen völlig egal gewesen.
Dieser Unbekannte, der sie jetzt an diesem Ort gefangen hielt, tickte irgendwie anders. Ihm schien etwas an Andreas zu liegen. Sonst wäre sie doch nicht hier, oder? Vielleicht machte der Kerl sich Sorgen, dass sein Gefangener tatsächlich verhungern könnte? Hatte er sie hierhergebracht, damit sie auf Andreas aufpasste? Nun, genau das tat sie ja jetzt.
»Wir müssen ihn dazu bringen, dass er reinkommt«, meinte Tanja.
»Und wie?«
»Kannst du ein bisschen schauspielern? Wenn er aufschließt, sackst du zusammen, wirst ohnmächtig«, schlug sie vor.
Andreas kam nicht mehr dazu, zu antworten. Schritte näherten sich, begleitet vom Schlüsselgeklirr.
»Bereit?«, flüsterte sie.
Er nickte. Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sein Gesicht wirkte immer noch blass. Aber er hatte aufgehört zu zittern.
Einen Moment fragte sich Tanja, ob auch sie bereit war, das zu tun, was getan werden musste. Doch was blieb ihr anderes übrig? Niemand besaß das Recht, sie einzusperren. Weder Andreas noch Tanja gehörten hierher. Sie gehörten unter den freien Himmel und nicht in dieses dreckige, versiffte Loch.
Als die Tür aufsprang, sank Andreas beinahe zeitgleich auf den Boden. Es sah so täuschend echt aus, dass Tanja laut und erschrocken aufschrie.
Der Mann stand im Türrahmen und bewegte sich nicht. Er war groß und kräftig. Dass er zupacken konnte, hatte sie schon an seinem harten Griff gemerkt, als er sie herbrachte.
Hatten sie überhaupt eine Chance gegen ihn?
Sie ließ sich zu Andreas nieder, redete laut und so besorgt sie konnte auf ihn ein: »Was ist mit dir? Kannst du was sagen? Kannst du mich hören?« Sie plapperte einfach drauflos und hoffte, dass es dramatisch genug klang. Ihr Bewacher machte immer noch keine Anstalten, in den Raum zu kommen. Mit einem lächerlichen Teller in der Hand schien er einfach nur abzuwarten. Tanja tat so, als würde sie sich damit abmühen, den Bewusstlosen auf die Pritsche zu wuchten.
»Helfen Sie mir! Helfen Sie mir doch!«, schrie sie.
Die dunkle Gestalt rührte sich nicht. Der Mann glotzte sie nur durch die Sehschlitze seiner dämlichen Mütze an.
Dann beugte er sich nach unten und stellte den Teller ab.
Wenn er jetzt wieder ging, wäre ihr Plan hinfällig.
Tanja klatschte in Andreas Gesicht herum, versetzte ihm leichte Ohrfeigen. »Komm schon, wach auf, bitte! Mach doch nicht solchen Mist! Das kann doch nicht sein, dass du …« Klang sie glaubwürdig genug? Spielte das eine Rolle? Der Kidnapper schien es, warum auch immer, auf Andreas abgesehen zu haben, nicht auf sie. Tanja hob den Blick und starrte zu ihm hinüber. »Sie da! Helfen Sie ihm!«
Der Kerl rührte sich immer noch nicht.
Andreas hielt seine Augen geschlossen, gab keinen Ton von sich. Tanja fühlte seinen Puls.
Plötzlich war der Mann neben ihr. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen. Aber er stand da wie ein Soldat in einer finsteren Uniform.
Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk drückte er sie ein Stück beiseite, er benutzte nur zwei Finger dafür, als wäre sie eine Katze, die im Weg stand, oder etwas, das er nicht ernst nehmen konnte.
Tanja spürte die Wut in sich wachsen, schnell, unerbittlich. Sie ging von der Pritsche weg rückwärts. Auf Zehenspitzen bewegte sie sich beinahe rhythmisch, als wäre das Ganze ein lang einstudierter Tanz. Der Deckel fehlte. Der Deckel musste nicht mehr abgenommen werden. Das hatte sie schon vorhin getan. Sie wusste, was sich in dem Kübel befand. Etwas Scheiße und einiges an Urin. Eine gute Mischung. Niemand darf mich einsperren, dachte sie. Niemand darf Andreas einsperren. Ihre Hand umfasste den Henkel, sie hob den Eimer langsam und geräuschlos hoch. Ihr Atem ging schneller. Sie musste aufpassen, dass er ihren Atem nicht hörte.
Sie sah sich kurz um. Die Tür war halb geöffnet. Der Schlüssel samt Bund steckte im Schloss. Alles bestens also. Keinen Grund zur … Pa…
Jetzt wandte er sich in ihre Richtung. Andreas lag bewegungslos auf der Pritsche. Der Mann kam schnell auf Tanja zu, aber sie war schneller.
»Nimm das!«, schrie sie und kippte ihm den Eimer entgegen. Er taumelte zurück, sie lief ihm nach, sprang an ihm hoch wie eine Raubkatze und riss ihm die alberne Mütze vom Kopf, die jetzt klitschnass war, an der jetzt etwas vom stinkenden Inhalt des Kübels klebte.
Ein ernstes Gesicht mit stechendem Blick aus dunklen, fast schwarzen Augen, über die sich auffällige Brauen wölbten, kam zum Vorschein. Die längliche Narbe auf der Wange verlieh ihm ein gefährliches Aussehen. Kannte sie ihn? Oh mein Gott, dachte Tanja. Sie kannte ihn! Egal. Mit voller Wucht schlug sie den Kübel in sein Gesicht, direkt auf die Nase. Aber er schrie nicht, sondern packte ihren Arm. Sie spürte die Härte seines Griffs, versuchte, sich zu wehren, sich ihm zu entziehen, doch sie war wie in einem Schraubstock gefangen. Plötzlich sah sie, wie sich Andreas auf der Pritsche erhob, ein entschlossenes Glitzern in den Augen, den Hocker in beiden Händen.
Er bewegte sich schnell und lautlos, ließ den Holzschemel mit Wucht auf den Kopf des Mannes krachen. Ihr Bewacher drehte sich überrascht nach ihm um.
Tanja beugte sich hinunter und biss dem Mann mit aller Kraft in die Hand. Er ließ sie los, versuchte Andreas zu packen. Doch der sprang zur Seite.
Sie angelte nach der Plastikflasche Wofasept, die unter der Pritsche stand. »Hey!«, schrie sie. Als der Mann sich zu ihr umwandte, schüttete sie ihm die chemische Flüssigkeit direkt ins Gesicht. Der Mann war immer noch stumm wie ein Fisch. Schüttelte sich. Rieb sich die Augen. Tapste umher wie ein Betrunkener. Rückwärts, vorwärts, zur Seite. Schluchzte schließlich verzweifelt auf. Brüllte einmal laut vor Wut.
»Lauf!«, brüllte Tanja jetzt. »Hau ab! Nimm den Schlüssel! Der steckt im Schloss!«
Andreas reagierte nicht. Er starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an. Sie verpasste ihm einen Stoß. Ein wenig zu heftig, sodass er kurz stolperte.
»Mach schon! Geh! Verschwinde von hier!«
Zögernd setzte er sich in Bewegung. Er sah jetzt den Mann an, nicht mehr Tanja.
»Ich kenn dich doch, Herr Jemand«, brachte er heraus. »Ich kenn dich. Hab dich schon paarmal gesehen.« Seine Stimme klang ratlos, beinahe traurig.
Der Mann streckte die Arme nach ihm aus. »Bleib, Junge! Du bist hier in Sicherheit. Da draußen …«
Andreas schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Muss hier weg. Ich kann hier nicht bleiben.« Er schwankte, kämpfte sich wie gegen einen inneren Widerstand Schritt für Schritt zur Tür. »Kann nicht … kann nicht bleiben, Herr Jemand, verstehst du das nicht?«, stammelte er immer wieder, als müsste er seinem Kidnapper die Flucht erklären, ihn um Verständnis bitten. Dann stolperte er hinaus.
Tanja hörte das Klirren des Schlüssels, die fliehenden Schritte. Viel zu langsam, dachte sie. Gleichzeitig ging sie rückwärts, bis sie die Wand erreichte.
Der Mann taumelte ihr nach. »Wo will er denn hin?«, fragte er und fing an zu fluchen. »Verdammt noch mal!«, schrie er. »Du musst ihn aufhalten! Kapier es doch! Er darf nicht …«
Sie hörte ihm nicht mehr zu, blickte zur Waschschüssel hinüber. Keine Chance. Die Schüssel stand auf der anderen Seite. Nicht erreichbar.
»Verstehst du nicht, was ich sage?«, zischte er. »Ruf ihn zurück, zum Teufel!«
Sie griff nach dem kleinen blauen Karton ATA . So ein dämlicher Name, dachte sie noch. Im nächsten Moment schüttete sie ihm das weiße Pulver direkt in die Augen. Das Scheuerpulver staubte wie trockener Schnee.
Er tat nichts, um sich zu schützen. Beinahe sofort sackte er auf die Knie. Als wollte er beten. Dann kroch er auf allen vieren umher.
Tanja versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben. Er griff nach ihr. Packte diesmal ihr Bein, riss an ihr, riss sie mit voller Wucht um. Sie fiel. Knallte gegen die Ecke der Steinmauer. Sie sah viele kleine Lichter. War jetzt Nacht? Da oben der schwarze Himmel? Sie versuchte, ein Sternbild zu erkennen: den großen Wagen oder den kleinen. Der Polarstern blinkte hinter ihren Lidern: hell, sehr hell. Der Himmel wurde weiß. Und dann bewegte sich ein schwarzer Fleck durch das Weiß. Sie konzentrierte sich darauf, genauer zu erkennen, was es war. Ein Rabe? Drehte weit über ihr ein Rabe seine Kreise?
Sie spürte ihn mehr, als dass sie ihn sah.
Seinen Flügelschlag. Den Luftzug im Gefieder.
Einen Moment flog sie mit ihm, konnte sie sehen, was er sah: zwei Menschen am Boden.