Georg Bruckner konnte es nicht fassen. Was für ein verdammter Fehler, dass er sie hergeholt hatte! Tanja, die Unberechenbare, dieses Miststück!
Tagelang hatte er sie beobachtet, kontrolliert und beschattet. So wie er zuvor Andreas beobachtet, kontrolliert und beschattet hatte. Schließlich war er zu dem Schluss gekommen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Sie wirkte matt, lag die meiste Zeit im Bett oder auf dem Sofa, bewegte sich kaum mal nach draußen. Gleichzeitig hatte er geglaubt, dass sie jedoch durchaus fähig sein würde, Andreas von seinem Hungerstreik abzubringen. Und als er dann beobachtete, dass sie sich im Häuschen der Großmutter eingenistet hatte, sah er seine Chance gekommen.
Eine Dummheit. Ein Fehler.
Doch die Einsicht kam zu spät. Andreas war weg. Georg war durch das Scheuerpulver, das in seine Augen geraten war, fast blind. Er war nicht in der Lage, seinem Jungen zu folgen.
Und er war nicht in der Lage, ihn zu halten, wie er jetzt begriff. Selbst die Meerschweine hatten Andreas nur vorübergehend beschäftigt. Georg war auf die Tiere gestoßen, als er dieser Polizistin einmal gefolgt war, um herauszufinden, was sie wusste. Problemlos war er in ihre Wohnung eingedrungen, kurz nachdem die Polizistin sie wieder verlassen hatte. Ein simpler Dietrich hatte gereicht, die Tür zu öffnen. Er hatte nichts gefunden, das ihm über den Ermittlungsstand Aufschluss gab. Aber er war auf die Nagetiere gestoßen, die ein Kind wie Andreas vielleicht mögen würde.
Georg kroch auf dem Boden herum, einige Minuten lang, eine Ewigkeit, so kam es ihm vor. Er konnte fast nichts sehen. Seine Augen brannten höllisch. Seine Nase schmerzte. Blut floss aus ihr, lief ihm in den Mund. War sie gebrochen? Er stemmte sich ein Stück hoch, spuckte das Blut wütend aus. Er besaß noch seine alte Kraft, aber sie nützte ihm nichts. Es sei denn, er würde dieses Mädchen umbringen. Tanja, die ihm alles versaut hatte. Aber wozu sollte das gut sein? Sie wusste nicht, was sie tat. Glaubte, sie würde Andreas schützen. Das konnte er ihr doch nicht verübeln, oder?
Jetzt lag sie stöhnend in der Ecke. Verschwommen nahm er ihre zusammengekrümmte Gestalt wahr. Er strengte sich an, genauer zu erkennen, was mit ihr los war. Ihr Blut mischte sich mit dem weißen Reinigungspulver. So schnell würde sie nicht wieder aufstehen. Geschah ihr recht.
Ein Spruch fiel ihm ein aus seiner Kindheit: Strafe muss sein .
Wer hatte das gesagt? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich hatte er diesen Satz im Heim öfter gehört. Vielleicht sogar von Karl Zinkner, als der noch kein Direktor in Torgau, sondern ein Erzieher in einem normalen Jugendwerkhof gewesen war. Zinkner hatte sich Georgs Gesicht nicht gemerkt, obwohl er da manchmal hineingeschlagen hatte – mit der Faust oder dem Schlüsselbund. Sogar die Narbe auf Georgs Wange war eine Hinterlassenschaft von ihm. Trotzdem hatte Zinkner später den Erwachsenen, den Kollegen Bruckner , nicht in Verbindung mit dem dünnen unauffälligen Jungen von damals gebracht. Die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, hatte sich Georg schon als Kind im Heim antrainiert.
Der Direktor Karl Zinkner hatte ihn meist übersehen. Die Nachtwache war für ihn nicht von Belang. Sie waren sich auch nicht besonders oft über den Weg gelaufen im Dienst. Jedenfalls hatte Zinkner ihn, den Wachmann, nicht weiter wahrgenommen. Selbst dann nicht, wenn der Direktor nachts durch die Gänge schlich. Wozu auch? Kollege Bruckner war nur ein Instrument in seinem Herrschaftssystem. Ungefähr so wichtig wie die Gitter vor den Fenstern oder die Riegel an den Türen. Einer, der dafür sorgte, dass die Jugendlichen nicht ausrissen, sich nicht verletzten, sich nicht umbrachten – oder sonstige Dummheiten begingen.
Ein Mittel zum Zweck. Der Zweck heiligt die Mittel . Noch so ein Spruch, der ihm in den Sinn kam. Ihn, Georg, hatte niemand geheiligt. Er war ein Strafversetzter. Nicht der Einzige, der im Jugendwerkhof Torgau arbeitete, und darum fiel es nicht weiter auf. Nach dem verweigerten Schuss auf den Grenzverletzer , als er bei der NVA gedient hatte, schoben sie ihn ab, sollte er sich bewähren. Er hätte auch in eine Haftanstalt als Schließer gehen können, nach Cottbus oder Bautzen, oder aber nach Bitterfeld, um dort im Chemiekombinat zu schuften. Natürlich hatte er sich nach dem Aufenthalt in der Klapsmühle für Torgau entschieden. Vorsichtshalber fälschte er Lebenslauf und Papiere und gab sich als Mitarbeiter der Nervenklinik aus. Wahrscheinlich hätten sie ihn aber auch so genommen. Ein Nachtwächter hatte schließlich nicht mehr zu tun, als nachts zu wachen. Und in dem Torgauer Spezialheim für die Spezialfälle befand er sich in der Höhle des Löwen, das war ihm klar gewesen. Wenn man seinem Feind nah ist, hat man ihn besser unter Kontrolle . Diesen Spruch hatte er sich selbst ausgedacht.
Dass sein eigener Sohn Andreas in dieser höllischen Anstalt landete, war ein Zufall und auch wieder nicht. Andreas galt als schwer erziehbar und außerdem als Brandstifter. Die Gründe für seine Aufmüpfigkeit interessierten niemanden. Einer wie er wurde weggesperrt in eine Einrichtung, in der er Tag und Nacht überwacht wurde. Torgau war der einzige geschlossene Jugendwerkhof und galt als Endstation. Manche Zufälle waren also doch nicht so zufällig, wie es im ersten Moment schien.
Und er, Georg Bruckner, hatte seinen Sohn nicht beschützt. Er war ein Rabenvater.
Und Andreas ein aus dem Nest gefallenes Rabenjunges.
Niemand würde ihm glauben, dass er Andreas nur schützen wollte. Nicht einmal Andreas selbst. Dabei war ein leer stehendes ehemaliges Gefängnis der perfekte Ort, um sich zu verstecken, sich zu verbarrikadieren. Eine Festung, die den Feind abhielt. Die den Mörder fernhielt von seinem nächsten Opfer.