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Sobald er sich auch nur etwas bewegte, pulsierte der Schmerz unerträglich in seinem Kopf. Josef nahm noch eine Tablette, spülte sie mit kaltem Kaffee hinunter.

Die Kollegen im Versammlungsraum achteten ohnehin nicht auf ihn. Sie starrten Beate Vogt an, die gerade erzählte, wo ihrer Meinung nach Georg Bruckner stecken könnte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er dort ist und die beiden Jugendlichen an diesem Ort gefangen hält.«

»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«, fragte Arno Berg. Er wirkte einigermaßen überrascht.

Josef konnte es ihm nicht verübeln. Zwar hieß es, dass ein Täter manchmal an den Tatort zurückkehren würde, allerdings bedeutete es nicht, dass er sich dort tagelang aufhielt und weitere Verbrechen beging. Wenn es denn wirklich so war, musste Bruckner ausgesprochen kaltblütig sein.

»Unser Verdächtiger kennt sich in dem Gebäude aus wie vermutlich kein anderer«, erklärte Beate. »Vielleicht ist es so eine Art zweites Zuhause für ihn geworden. Ein Zuhause mit vielen Räumen, in dem er ungestört ist.«

Arno Berg stützte sein Gesicht in die Hände, als wollte er kurz abtauchen, und holte tief Luft. Einen Moment herrschte Schweigen. »Na schön, gehen Sie nachsehen!«, sagte er schließlich und hieb die Fäuste auf den Tisch. »Kollege Almgruber, fühlen Sie sich schon leistungsfähig genug, Ihre Kollegin zu begleiten?« Er musterte ihn skeptisch.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, antwortete Josef. Bis sie in Torgau waren, würden die Kopfschmerzen schon nachlassen. Ein bisschen Ablenkung half sicher auch.

»Wir brauchen noch jemanden, der sich in dem Haus auskennt«, sagte Beate Vogt. »Das Areal mit den Gebäuden ist unübersichtlich. Das Schließsystem ist nicht ganz unkompliziert. Es gibt im Gefängnistrakt drei Etagen mit zahlreichen Gruppen- und Einzelzellen, außerdem den Verwaltungstrakt und den Keller mit den Dunkelzellen, dem Fuchsbau sowie Nebengebäude.«

Arno Berg nickte. »Herr Lüder, schauen Sie in die Akten und kümmern Sie sich schnellstmöglich um den passenden Kandidaten. Wir sollten jetzt keine Zeit mehr verlieren.«

Viktor Lüder zog prompt einen Ordner aus dem Stapel, der vor ihm lag, schlug ihn etwa in der Mitte auf und blätterte kurz. »Alles klar, hab ihn schon.« Er sprang so abrupt auf, dass der Stuhl ein Stück nach hinten kippte. »Ich gehe ins Büro zum Telefonieren.«


Es war ein grauer kalter Tag mit dicken Regenwolken, die tief und bedrohlich aussehend über der Stadt Torgau hingen, sich aber nicht entladen wollten.

Josef stand mit Beate Vogt und Reinold Spieß, dem ehemals stellvertretenden Direktor, vor dem leer stehenden Gebäude des Geschlossenen Jugendwerkhofs. Auch wenn die meisten Gitter entfernt worden waren, wirkte das Haus wie ein Gefängnis aus längst vergangener Zeit. Josef sah zu den Fenstern hinauf und stieß unwillkürlich einen leisen Pfiff aus. »Das Zuchthaus steht hier schon ein paar Jahrzehnte, gell?«

Reinold Spieß warf ihm einen missmutigen Blick zu. Sie hatten drei Stunden gebraucht, um ihn ausfindig zu machen und ihn schließlich mit einem Wartburg, dem Einsatzfahrzeug der MUK, aus einer Torgauer Gaststätte, die sich in der Nähe seiner Wohnung befand, abgeholt. »Na, dass das kein Neubau ist, sieht man ja. Ursprünglich war das eine Militärarrestanstalt«, gab er Auskunft, als wäre er ein Fremdenführer. »1901 erbaut. Später, also nach dem ersten Weltkrieg, wurde es ein Gerichtsgefängnis. Zu Nazizeiten kam der Zellenbau dazu. Tja, die gute deutsche Wertarbeit nutzten dann auch die Sowjets nach 1945, genauer gesagt der NKWD, die Geheimpolizei. Bis das Haus dann 1952 ein Jugendgefängnis und ab Mai 1964 der geschlossene Jugendwerkhof wurde. Ich interessiere mich ein wenig für die Historie des Ortes, wissen Sie?«

»Eine finstere Geschichte«, sagte Josef.

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Für die meisten Bürger der Stadt war der Werkhof ein normaler Arbeitgeber. Egal, wer gerade das Sagen hatte.«

»Und heute?«, fragte Josef. »Was wird jetzt aus dem Anwesen?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Spieß ungehalten. »Das Gebäude wurde kürzlich der Treuhandanstalt übergeben. Ich bewahre zwar den Schlüsselbund für die auf, falls es Besichtigungswünsche gibt, erhalte aber keinerlei Informationen. Vielleicht verkaufen die es ja an einen reichen Wessi, und es wird ein Vier-Sterne-Hotel draus?« Er lachte gekünstelt.

»Vier Sterne wohl weniger«, meinte Josef. »Vielleicht ein Stundenhotel? Gibt ja bestimmt einen gewissen Nachholbedarf im Osten.«

»Stimmt.« Reinold Spieß grinste. Offenbar fand er den Themenwechsel amüsant. »Beate-Uhse-Kataloge fanden ja bereits reißenden Absatz, die gab es direkt nach dem Mauerfall für fünf Mark Ost das Stück, und die Intershops, die jetzt nicht mehr benötigt werden, wandeln sich nach und nach in Sex-Shops um. Hab ich gehört.« Der Mann zwinkerte ihm zu.

»Na, Sie sind ja bestens informiert.« Josef lachte.

»Der real existierende Kapitalismus präsentiert sich also zuallererst mit seinen Geschlechtsteilen aus Plastik, mit Pornos und Reizwäsche. Das macht die moralische Überlegenheit der BRD natürlich auf einen Schlag deutlich«, spottete Reinold Spieß.

Beate Vogt räusperte sich. »Können wir jetzt mal ins Gebäude gehen? Oder möchten die Herren noch weiter miteinander plaudern? Dann geben Sie mir den Schlüssel, und ich mache den Job allein.«

Josef warf ihr einen verwunderten Blick zu. War sie etwa beleidigt? Wieso nahm sie den Small Talk so ernst?

»Sie können sich ja nachher in einer Kneipe weiter über Ihre Erfahrungen mit Sex-Spielzeugen und Erotikheften austauschen«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Jetzt halten Sie beide bitte die Klappe, wenn wir reingehen, ja? Vergessen Sie nicht, dass wir im Einsatz sind, Kollege Almgruber.«

Er nickte ihr etwas betreten zu. Sah er etwa so aus, als würde er das Ganze nicht ernst nehmen? Als würde er sie nicht ernst nehmen?

Reinold Spieß holte mit einem leicht verächtlichen Seitenblick auf Beate Vogt einen überdimensional großen Schlüsselbund aus seiner Aktentasche und schloss die schwere Eingangstür auf.