Beate Vogt achtete darauf, dass sie Herrn Spieß möglichst nicht zu nahe kam. Er roch ziemlich penetrant nach Alkohol und Zigarettenrauch. Sie hatten ihn aus einer Stampe abgeholt, in der er offensichtlich ein paar Stunden verbracht hatte. Betrunken wirkte er allerdings nicht.
Durch das Verwaltungsgebäude waren sie schon gegangen, ohne etwas Besonderes festzustellen. In den meisten Räumen herrschte Chaos. Aufgerissene Schränke, herausgezogene Schubladen, Glas auf dem Boden, das von zerstörten Fensterscheiben stammte. Vermutlich war es nicht besonders schwer, von außen mit einer Leiter oder anderen Hilfsmitteln über die Mauer zu steigen und durch eines der demolierten Fenster ins Innere zu gelangen.
Beate fiel auf, dass noch einige der Akten über die eingewiesenen Jugendlichen auf den Tischen, in den Schränken und sogar auf dem Boden herumlagen, und fragte sich, warum die in den vergangenen Monaten immer noch nicht gesichert worden waren. Seit dem letzten Jahr schien sich nicht viel getan zu haben. Sogar Baugerüste standen noch am Gebäude. Manche Gitter, längst nicht alle, waren abgebaut worden und lagen wie schon vor einem Jahr im Hof herum, wie sie bei einem Blick aus dem Fenster feststellte. Der Stacheldraht, der sich noch um Rohre und Blitzableiter zog, schien allmählich schon zu rosten. Zwei aus dem Gefängnistrakt bereits entfernte Zellentüren, außerdem Sichtblenden, die verhindert hatten, dass die Jugendlichen aus dem Fenster sehen konnten, lehnten an der meterhohen Mauer. Hunderte leere Holzkisten lagen ungeordnet auf dem Boden herum. Von Zucht und Ordnung, die einst in dieser Anstalt geherrscht hatten, war nicht mehr viel zu erkennen.
Dennoch sah es aus, als wäre die Zeit hier stehen geblieben. Das ganze Areal wirkte wie ein vergessener Ort, der an Düsternis kaum zu übertreffen war.
In einem Arbeitsraum standen veraltete, plump wirkende Bohrmaschinen. Es roch noch nach Metall und – wie es Beate vorkam – nach dem Angstschweiß der Jugendlichen. Neben einer Maschine nahm sie etwas wahr, das wie ein großer schwarzer Schatten aussah. Lauerte da jemand den unwillkommenen Besuchern auf? Beate trat erschrocken einen Schritt rückwärts. Der Schatten bewegte sich nicht.
Sie zog ihre Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Die mysteriöse Gestalt entpuppte sich zum Glück nur als eine Leiter, die an der Wand lehnte und über die eine schmutzige Wattejacke hing.
Der Gefängnistrakt, den sie nun betraten, wirkte noch beklemmender. Sie liefen schweigend und so leise wie möglich durch die untere Etage. Dem Mann, der sie führte, Reinold Spieß, hatten sie nicht viel zu dem Einsatz gesagt. Nur dass sie auf der Suche nach einem Verdächtigen seien. Er sollte sie durch sämtliche Räume des Jugendwerkhofs lotsen, auch solche, die eventuell etwas versteckt lagen, möglichst lautlos die Türen und Gitter aufschließen, sich dann zurückziehen und ihnen das Feld überlassen.
Natürlich klirrte der Schlüssel trotzdem manchmal in die Stille hinein. Beate blickte prüfend durch den Spion einer Zelle und zog dann vorsichtig die zwei Riegel vor der Gefängnistür zurück. Almgruber sicherte das Ganze mit gezogener Waffe, ehe sie den Raum öffneten und hineingingen. Spieß hielt sich, wie abgesprochen, ein paar Meter hinter ihnen.
Zwischendurch lauschten sie auf verdächtige Geräusche. Es blieb ruhig. Einmal hörten sie ein Rascheln, ein Tier lief vor ihnen davon. Eine Ratte.
Die Etagen und einzelnen Bereiche waren ebenfalls durch Gitter getrennt und zugeschlossen. Reinold Spieß suchte meist eine Weile nach dem richtigen Schlüssel an dem großen Metallbund. Ein Stockwerk höher befand sich der zweite Jungentrakt, dort lag auch die Zelle, in der der Mord geschehen war. Die Tür war immer noch versiegelt.
Beate wechselte einen fragenden Blick mit Josef Almgruber. Er zuckte nur mit den Schultern. Sie begnügte sich damit, einen Blick durch den Spion zu werfen.
Beate sah ihren Kollegen wieder an und schüttelte den Kopf. Der Raum war menschenleer. Ansonsten schien er unverändert. Nur die Leiche fehlte.
Die Gruppenzelle mit den Dreifachstockbetten, in die sie als Nächstes gingen, wirkte, als wäre sie gerade erst verlassen worden. Sogar die Decken lagen noch ordentlich zusammengelegt auf den Gestellen. In der Ecke stand ein Kübel mit einer angetrockneten weißen Substanz, die leicht nach Chlor roch.
Im Geiste sah sie einen Moment Andreas, der mit leerem Blick vor ihr stand. Blass und verloren, ein Kind, das niemand schützte.
Was für ein Elend, was für ein Grauen, wie viel Leid hatten hier geherrscht? Welche schrecklichen Dinge mussten sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte innerhalb dieser Mauern abgespielt haben? Es kam ihr vor, als würde der Schmerz immer noch in diesen Zellen hocken.
Der Trakt im oberen Stockwerk, in dem die Mädchen eingesperrt worden waren, unterschied sich nicht von den Bereichen der Jungen. Beate bemerkte die Glasbausteine unter ihren Füßen. Die Jungen mussten gesehen haben, wenn die Mädchen über ihnen langgelaufen waren, wenn sie auf den Gang traten. Aus den Akten wusste sie, dass zahlreiche Insassen wegen verbotener Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht in die Einzelarrestzellen gesperrt wurden – wegen des sogenannten Kassiberns, also des Schmuggelns von streichholzschachtelgroßen Briefchen, oder in einigen Fällen sogar nur wegen Blickkontakt. Erstaunlicherweise hatte das Erzieherpersonal akribisch aufgeschrieben, wer von den Minderjährigen für was bestraft wurde. Die Strafen waren für kleine Delikte oft unverhältnismäßig hart gewesen. Sogar jeder noch so kleine Flirt war sanktioniert worden. Auch Tanja hatte wegen Kleinigkeiten ein paarmal im Arrest gesessen, wie Beate aus dem langen Gespräch mit ihr wusste.
In der Mädchenetage kontrollierten sie ebenfalls diese trostlosen Isolations- und Gruppenräume sowie die Sanitärbereiche. Der Raum mit den fünf Toiletten, von dem Tanja ihr erzählt hatte, löste einen Würgereiz bei Beate aus, als sie ihn betrat – nicht nur, weil es hier immer noch nach einer Mischung aus Urin, Fäkalien und Desinfektionsmitteln stank, als würde sich der Geruch hier konservieren. Die Becken standen nebeneinander, ohne Trennwände oder irgendeinen Sichtschutz. Tanja hatte ihr davon berichtet, dass die Toilettengänge zu festgelegten Zeiten auf Befehl zu erfolgen hatten und der Erzieher an der Tür stand und den Mädchen zusah – auch dann, wenn sie ihre Tage hatten und gezwungen waren, die drei Binden, die sie in dieser Zeit pro Tag erhielten, unter Bewachung zu wechseln. Kaum vorstellbar und absolut würdelos fand Beate diese Grenzüberschreitungen.
Warum taten Menschen anderen Menschen solche Ungeheuerlichkeiten an? Kein Tier würde ein anderes Tier derart demütigen.
Auf eine Spur von Georg Bruckner, Andreas und Tanja stießen sie jedoch auch im Bereich der Mädchen nicht. War ihre Vermutung, dass sie sich irgendwo in dem Areal aufhielten, falsch?
Doch es blieben noch die Zellen im Keller. Wobei die Lebensbedingungen dort naturgemäß noch schlechter waren. Soweit sie sich erinnern konnte, gab es keine Waschräume dort, keine Toilette; es war dunkel und kalt. Mit Schaudern dachte sie an den winzigen Fuchsbau, in den einzelne Jugendliche zur Strafe für ihr widerständiges Verhalten gesteckt worden waren und aus dem sie zusammen mit Georg Bruckner die Erzieherin Hildegard Hellermann befreit hatte. Die Vorstellung, wieder in den Keller zu müssen, löste Beklemmungen in ihr aus. Doch es half nichts. Sie mussten alle Räumlichkeiten nach den Vermissten durchsuchen.
»Hier ist nichts. Wir müssen runter«, sagte sie leise.
Almgruber nickte. Herr Spieß stand schweigend da, als wartete er auf einen Befehl.
Sie wurde nicht recht schlau aus ihm. Er tat, was sie ihm sagten, sein Gesicht blieb dabei die meiste Zeit ausdruckslos. Er ließ sich nicht in die Karten blicken, und Beate wusste nicht, ob er den Auftrag widerwillig erledigte oder froh war über die Abwechslung. Gäbe es den Jugendwerkhof noch, wäre er indessen der Direktor der Disziplinierungsanstalt, fiel ihr ein.
Reinold Spieß führte sie die drei Stockwerke wieder hinunter. Die Gitter zwischen den Etagen hatte er offen gelassen, sodass sie auf dem Rückweg etwas schneller vorankamen.
Das Kellerlicht, das im letzten Jahr noch geflackert hatte, war jetzt offenbar defekt. Niemand hatte sich darum gekümmert. Sie stapften im Schein ihrer Taschenlampen abwärts.
Beate dachte an ihre erste Begegnung mit Georg Bruckner, die genau an diesem Ort stattgefunden hatte. Ihr kam in den Sinn, dass er ihr zunächst unheimlich erschienen war – wie Urfin eben –, dass er sich jedoch, als es darum gegangen war, die Erzieherin aufzufinden, als recht hilfsbereit erwiesen hatte. Vielleicht war diese Beflissenheit ja nur Show gewesen, um sie zu täuschen?
Die Decke im Keller lag so dicht über ihnen, dass sie den Kopf einziehen mussten. Gerade als Beate daran dachte, Reinold Spieß den Schlüssel abzunehmen und ihn nach Hause zu schicken, denn in dem Kellergang konnte man sich nun wirklich nicht verlaufen, hörte sie ein leises Geräusch. Sie zupfte an Almgrubers Jackenärmel und deutete in die Richtung.
Einen Moment blieben sie stehen und lauschten.
Es klang wie ein Stöhnen. Oder ein Wimmern. Und es hörte sich nach einer weiblichen Stimme an. Beate fühlte eine Gänsehaut auf ihrem Rücken.
Beinahe gleichzeitig zogen sie und Josef ihre Waffen und verständigten sich mit Blicken. Beate gab ihrem zivilen Begleiter mit Handzeichen zu verstehen, dass er sich im Hintergrund halten solle. Als die Geräusche deutlicher wurden, winkte sie ihn energisch zurück die Treppe hinauf und bedeutete ihm, zum Ausgang zu gehen.
Spieß beachtete sie gar nicht. Er starrte in die Richtung, aus der die Töne kamen, und runzelte die Stirn, beugte sich angespannt ein Stück vor, als versuche er herauszufinden, zu wem die Stimme gehörte.
Josef Almgruber schlich sich an der Wand entlang weiter vorwärts, Beate folgte ihm.
Die letzte Tür des Zellentraktes stand offen. Ein schwacher Lichtschein fiel auf den Gang. Wieder erklangen die Klagelaute, die auf Beate an diesem Ort besonders gespenstisch wirkten.
Auf Zehenspitzen lief sie bis ganz nach hinten. Almgruber betrat die Zelle zuerst. Als sie nach ihrem Kollegen in den Raum kam, sah sie zwei Personen am Boden liegen. Beide schienen verletzt. Aber sie stellte fest, dass sie atmeten. Sie lebten also. Beate erkannte Tanja Wolter, die vor sich hin wimmerte, und Georg Bruckner, der entweder ohnmächtig war oder einfach nur still dalag. Almgruber hielt die Waffe auf Bruckner gerichtet. Dabei stand er neben Tanja und versuchte offenbar herauszubekommen, was mit ihr los war.
Beate richtete ihre Waffe ebenfalls auf den Verdächtigen. Almgruber signalisierte ihr, dass sie sich um Tanja kümmern solle, rief per Funkgerät einen Krankenwagen und ging zu dem Liegenden.
Bruckner, der auf dem Bauch lag, rührte sich nicht, er schien vollkommen apathisch zu sein und gab auch keinen Ton von sich. Josef Almgruber fühlte seinen Puls, legte ihm Handschellen an und untersuchte ihn nach Waffen. »Herr Bruckner, können Sie mich hören? Sie sind hiermit vorläufig festgenommen.«
Der Mann antwortete nicht.
Beate deponierte ihre Pistole in Griffnähe und beugte sich tief über das Mädchen. Ihr Gesicht war schneeweiß. Wie es aussah, war Tanja am Kopf verletzt. Blut sickerte aus der Wunde. Auf dem Boden hatte sich eine kleine Lache gebildet. Es schien aber nur eine Platzwunde zu sein. »Keine Sorge, wir sind jetzt bei dir. Gleich kommt Hilfe«, sagte sie leise. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«
Tanja stieß wieder dieses wimmernde Geräusch aus, aber diesmal sagte sie auch etwas, ein einziges Wort: »Andreas.«
Beate seufzte unwillkürlich. »Wir haben gedacht, er wäre hier.«
»Ist geflüchtet«, brachte Tanja hervor. Sie versuchte, sich aufzurichten, und automatisch half Beate ihr und stützte sie.
»Es wäre besser, wenn du liegen bleibst. Du bist am Kopf verletzt. Die Sanitäter vom Rettungsdienst sind gleich bei dir.« Schnell griff sie nach der Filzdecke, die auf der Pritsche lag, und schob sie unter Tanjas Oberkörper.
»Andreas!«, sagte Tanja wieder. Ihre Stimme klang jetzt lauter, beinahe panisch. »Ich muss zu ihm! Er ist in der Wohnung des Direktors, in diesem Neubauviertel. Bringen Sie mich hin?«
Beate murmelte ein paar beruhigende Worte. »Wir kümmern uns darum. Und wenn es dir besser geht, kannst du …«
»Keine … Zeit … verlieren«, stammelte Tanja. »Ich muss … gleich … zu ihm! Er wartet auf mich.«
Tanja sank kraftlos zurück, als hätte sie sich überanstrengt. Ihr blasses Gesicht wirkte wächsern. Sogar ihre Lippen hatten auf einmal ihre Farbe verloren. Beinahe sah es aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Vielleicht hatte sie doch mehr Blut verloren, als es auf den ersten Blick schien? Sie redete jetzt so leise vor sich hin, dass Beate sie nicht verstehen konnte. Sie verstand nur die Worte »Scheiße« und »schwindlig«.
»Bleib ruhig, Tanja. Versuch, wach zu bleiben. Wir helfen dir. Und wir helfen auch Andreas, versprochen.« Beate blickte auf und sah Reinold Spieß am Türrahmen lehnen. Er starrte Tanja an. »Sie können gehen. Lassen Sie den Schlüssel hier!«, sagte sie schroff zu ihm.
Wie ein gelehriger Schüler kam er zu ihr und legte den Schlüsselbund neben sie ab. »Bitte schön«, sagte er.
Beate achtete nicht weiter auf ihn. Sie bekam nur am Rande mit, dass er die Zelle verließ. Sie sprach weiter mit Tanja und hoffte, dass sie nicht das Bewusstsein verlor.
Nach einer Weile fiel ihr auf, dass ihr der Geruch in dem Kerker bekannt vorkam. Das konnte doch nicht sein, oder? Es roch eindeutig nach …
Sie ließ ihre Blicke durch den halb dunklen Raum schweifen. In den Ecken standen kleine, scheinbar selbst gebastelte Häuschen. Auch etwas Heu und Stroh lag herum. Sie beugte sich so weit hinunter, dass sie mit dem Gesicht fast den kalten dreckigen nach Urin stinkenden Boden berührte, und nahm dunkle Knopfaugen wahr, die sie zu beobachten schienen.
»Das gibt’s doch wohl nicht. Gucken Sie sich das mal an!« Völlig verwirrt blickte sie zu Almgruber hinüber, aber der war mit Georg Bruckner beschäftigt.
Beate suchte die Tierhütten mit den Augen ab. Erkannte Krallen, Fell und Schnäuzchen. Sie waren hier. Alle vier. Und sie lebten! Beate grinste ungläubig. Dann versuchte sie, sich zusammenzureißen und sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie sah zu Almgruber hinüber, der sich gerade abmühte, den Verhafteten zum Aufstehen zu bewegen.
»Was fehlt ihm?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Er redet nicht. Seine Nase ist vielleicht gebrochen. Jedenfalls blutet sie ziemlich. Und er hat irgendwas mit den Augen, wie es aussieht.«
Beate sah es jetzt auch: Die Augäpfel waren blutunterlaufen. Immer wieder kniff Bruckner die Lider zusammen. Offenbar konnte er nichts sehen.