Andreas trat in die Pedale. Er kam mit dem Fahrrad, das er sich am Markt vor der Fleischerei ausgeliehen hatte, nicht besonders gut zurecht. Es hatte eine Acht im Vorderreifen und entsprach nicht seiner Größe. Ein ziemliches Schrottrad, das vermutlich einer älteren korpulenten Dame gehörte, die es zum Einkaufen für ihren Hackepeter, ihre Koteletts und ihre Bratwürste nutzte. Aber es war das einzige nicht angeschlossene, das er auf die Schnelle hatte finden können. Er würde es zurückbringen, nahm er sich vor. Schon bald, spätestens morgen.
Nach der Zeit in der Dunkelheit der Zelle konnte er nicht besonders gut sehen. Alles schien verschwommen. Die Lichter schmerzten ihn. Die Scheinwerfer entgegenkommender Autos waren ihm noch nie so hell vorgekommen. Vielleicht lag das auch an seinem Hungerstreik. Der Kreislauf machte ihm zu schaffen. Einige Dinge bemerkte er erst, wenn sie direkt vor ihm auftauchten. Eine Laterne war ihm im Weg, dann, als er ihr auswich, eine Mülltonne. Er konnte sie gerade noch so umkurven. Irgendwie kam es ihm vor, als wäre er betrunken. Es fiel ihm schwer, sich zu orientieren. Wo war er? In welcher Straße?
Er fühlte sich erschöpft. Erschöpft von seiner Gefangenschaft, erschöpft von Tanjas Befreiungsaktion, erschöpft vom Suchen nach dem richtigen Weg. Am liebsten würde er sich fallen lassen, einfach auf den Bürgersteig legen und schlafen. Aber das kam nicht infrage. Er musste in diese Wohnung, die vielleicht immer noch auf diese merkwürdig süßliche Art nach dem Direktor stank, und dort auf Tanja warten.
Es schien ihm zu heikel, anzuhalten und jemanden nach dem Weg zu fragen, also fuhr er immer weiter. Vorbei an parkenden Autos, an Laternenpfählen und verbeulten Mülltonnen. An diesen langweiligen Häusern samt all ihren langweiligen, mehr oder weniger weißen Gardinen, dem Kitsch auf manchen Fensterbrettern und ein paar Blumenkästen, in denen zurzeit wenig wuchs. Zum Glück war Torgau keine besonders große Stadt, und er war sich einigermaßen sicher, dass er in die richtige Richtung fuhr.
Nicht schlappmachen, Andreas , hörte er Tanja sagen, als säße sie hinter ihm auf dem Gepäckträger. Er freute sich beinahe über die Halluzination, aber er antwortete ihr nicht, sondern trat weiter in die Pedale, beinahe verbissen, so wie er in der Zelle verbissen seine Sportübungen gemacht hatte, Liegestütze, Hockstrecksprünge, Kniebeugen, und bog schließlich in das Viertel ein. Jetzt wusste er, wo er sich befand. Hielt an, lehnte das Rad einfach an eine Häuserwand, denn der Drahtesel besaß nicht einmal einen Ständer.
Ihm war immer noch etwas schwindlig. Er strauchelte vorwärts, den Bürgersteig entlang, fühlte sich wacklig auf den Beinen. Die Eingänge des Neubaublocks sahen alle gleich aus, aber er hatte sich die Nummer gemerkt.
Als er in dem Haus war, konnte er nicht widerstehen, sich einen Moment auf die Treppe zu setzen. Luft zu holen gegen den Schwindel. Dann kämpfte er sich weiter die Stufen hinauf, hielt sich am Geländer fest und war froh, dass Tanja ihn nicht so sah. So schwach. So … unglaublich … erbärmlich . Sie glaubte, dass er stark genug war für diese Flucht, sonst hätte sie ihn nicht losgeschickt. Aber vielleicht irrte sie sich ja?
Seine Füße kamen ihm schwer vor, seine Schritte hallten zu laut. Einmal stolperte er über eine Stufe. Er hoffte, dass niemand seinen holprigen Gang hörte. Einen Moment lauschte er, ob sich irgendwo eine Tür öffnete. Aus einer Wohnung tönten die Geräusche eines Fernsehers, aus einer anderen drang Hundegebell.
Er hatte Glück: Der Schlüssel passte noch.
Andreas schob sich leise in den Flur, drückte die Tür hinter sich zu. Er schlich sich durch die Wohnung, von Raum zu Raum. Die Bude war tatsächlich noch unbewohnt. Tanja hatte also recht gehabt. Alles sah unverändert aus. Jetzt musste er nichts weiter tun. Nichts weiter, als auf sie zu warten.
Er ließ sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Schaltete den Fernseher an, um sich ein wenig abzulenken. Das Bild war unscharf, verschwommen, aber wenigstens funktionierte der Apparat noch.
Das Geräusch der Klingel riss ihn aus dem Halbschlaf, riss ihn von der Couch. Kam Tanja schon? Wie lange hatte er in dem Dämmerzustand vor der Glotze verbracht? Vorsichtshalber warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster. Ein Taxi fuhr davon. Woher hatte sie denn das Geld für ein Taxi?
Andreas hörte jetzt ein leises Klopfen und taumelte zur Tür. Einen Moment zögerte er, sie zu öffnen. Aber es konnte doch nur Tanja sein. Niemand sonst wusste, dass er hier war.
Andreas zwang sich zu einem Lächeln, als er die Klinke herunterdrückte.
Aber es war nicht Tanja.
Es war …
Sofort versuchte Andreas, die Tür wieder zuzuschieben.
Zu spät.