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Josef stand vor dem betongrauen Gebäude des ehemaligen Jugendwerkhofs und wartete auf die Verstärkung aus Leipzig. Bruckner wurde in dem zweiten der eingetroffenen Rettungswagen, der am Straßenrand parkte, notversorgt. Tanja war bereits auf dem Weg ins Krankenhaus, und seine Kollegin Beate Vogt hatte sich mit dem Dienstfahrzeug auf den Weg in die Straße des Friedens begeben – in der Hoffnung, Andreas in der Wohnung des ehemaligen Direktors anzutreffen.

Obwohl Josef seit zehn Jahren keine Zigarette mehr angerührt hatte, war ihm jetzt nach einem Glimmstängel zumute. Aus dem Westen oder Osten, Camel oder Club  – völlig egal. Wie konnte man Jugendliche, zum Teil halbe Kinder, in so ein Horrorhaus sperren? Er wollte es sich nicht vorstellen, aber unwillkürlich hatte er dieses Bild vor Augen: sein Sohn Florian in so einer Zelle. Die aufkommende Übelkeit verdrängte sogar seine Kopfschmerzen.

Der Verdächtige Georg Bruckner sollte nach der Behandlung durch die Notfallsanitäter eigentlich abgeholt und in das Krankenhaus der JVA Leipzig gebracht werden. Aber bisher war die angeforderte Verstärkung nicht aufgetaucht. Wie lange es noch dauerte, bis diese eintraf, konnte man ihm auf dem Revier nicht sagen. Personalmangel, verstärkt durch einen hohen Krankenstand, sei die Ursache, hieß es lapidar. Außerdem hielt ein am Vormittag verübter bewaffneter Banküberfall auf die Kreissparkasse Delitzsch die Kriminalpolizei derzeit auf Trab.

Josef fragte sich, wann Georg Bruckner vernehmungsfähig sein würde. Auf seine Fragen hatte er jedenfalls bisher überhaupt nicht reagiert. Fakt schien zu sein, dass er Andreas und später Tanja entführt und in einer Zelle im Keller des Gebäudes festgehalten hatte. Und wie es nach den Indizien aussah, war er auch der Mörder des Direktors. Jedenfalls sprach so einiges dafür: Er war zur fraglichen Zeit am Tatort gewesen, kannte den Direktor aus seinem früheren Leben und hatte alte Rechnungen mit ihm offen gehabt. Sein Sohn Andreas hatte sich zudem in der Gewalt ausgerechnet jenes Mannes befunden, durch den schon Georg Bruckner in seiner Jugend Leid erfahren hatte. Welcher Vater würde da nicht ausrasten?

Der Fall schien gelöst. Erleichterung wollte bei Josef trotzdem nicht aufkommen.

Wenn die Kollegen ausblieben, musste er eben selbst Bruckner als begleitender Bewacher des Krankentransports ins nächstgelegene Krankenhaus bringen. Vielleicht konnte er ihm unterwegs ja doch ein paar Antworten auf seine Fragen entlocken.

In Gedanken rauchte er die Zigarette noch zu Ende, warf die Kippe weg und trat sie aus. Imaginäre Zigaretten zu rauchen war auf jeden Fall gesünder.


Georg Bruckner blinzelte ihm von seiner Trage aus entgegen, als Josef in den Rettungswagen stieg. Seine Nase war stark geschwollen, seine Augen sahen extrem gerötet aus. Kaum zu glauben, dass ein Mädchen den Mann so verunstaltet hatte. Allerdings ja nicht gerade irgendein Mädchen … Die Verzweiflung, die Tanja dazu getrieben hatte, mochte er sich kaum vorstellen.

Josef überprüfte kurz die Handschellen. Sie saßen noch so, wie sie sitzen sollten.

»Sie werden jetzt erst einmal in die Torgauer Klinik gebracht«, erklärte er. »Von dort überstellt man Sie in das Krankenhaus der JVA Leipzig. Sie werden des Mordes und der Entführung verdächtigt.«

»Was den Mord an dem Direktor betrifft, habt ihr den Falschen«, sagte Bruckner auf einmal rau. »Du solltest dich schleunigst auf den Weg machen, um Andreas zu finden. Der Junge befindet sich in Gefahr!« Die Worte klangen wie ein einziges Zischen. Spuckebläschen traten über seine Lippen.

Josef wich unwillkürlich etwas zurück. »Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Kollegin ist schon auf dem Weg zu ihm.« So sicher, wie er tat, war Josef nicht. Andererseits konnte er sich wohl kaum auf das Gerede des Hauptverdächtigen einlassen.

»Dann ist sie auch in Gefahr«, sagte Bruckner leise.

Josef schwieg, aber die Unruhe in ihm wurde stärker. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: dem Mann zu glauben oder ihm nicht zu glauben. Womöglich ging es jetzt um das Leben seiner Kollegin. Um Beate.