Als Josef den Opel am Straßenrand an der Torgauer Wohnsiedlung parkte und aus dem Wagen stieg, hörte er einen lauten Knall. Erschrocken fuhr er zusammen. Glassplitter prasselten ihm wie Hagel entgegen. Eine Fensterscheibe war offenbar von einer Explosion geborsten, und er sah auf einmal Qualm und Flammen aus dem Fenster steigen.
Für den Bruchteil einer Sekunde stand er wie erstarrt da. Dann stieß er einen wüsten Fluch aus, zwang sich jedoch zur Ruhe, forderte per Funk in der Einsatzzentrale die Feuerwehr, den Rettungsdienst und Streifenwagen an, im nächsten Augenblick rannte er auf das Haus zu. Glasscherben knirschten unter seinen Füßen. Er drängte sich an einem Mann vorbei in das Gebäude hinein und hechtete die Stufen hinauf. Auf dem letzten Absatz vor der Wohnung stolperte er, unterdrückte es diesmal, seinem Ärger Luft zu machen, und fing sich im nächsten Moment. Vor der Wohnungstür blieb er stehen. Er zog seine Waffe, atmete tief ein und aus. Sollte er klingeln? Wohl besser nicht. Mit dem Fuß schob er die Matte beiseite, auf der sich Staub und Dreck sammelte. Ihm entfuhr ein nervöses Lachen, als er den Schlüssel sah.
Er schob sich durch den völlig verqualmten Flur, warf einen Blick ins Badezimmer, in dem es brannte: Die Asche auf dem Boden war wohl mal ein Badvorleger gewesen. Ein paar plüschige Reste, in denen Glut züngelte, waren noch zu erkennen. Er bemerkte die Überbleibsel von Spraydosen, die womöglich explodiert waren und den Brand mit ausgelöst hatten. Das Fenster fehlte bis auf den Rahmen komplett, Handtücher loderten vor sich hin, als wäre das ihre eigentliche Aufgabe. Das Feuer im Bad schien jedoch nicht auf andere Wohnbereiche übergegriffen zu haben. Die Explosion hatte allerdings erhebliche Schäden verursacht.
Unvermittelt krachte ein Schuss. Josef spürte, dass ihm der Schweiß ausbrach. Kalter Schweiß, eine eiskalte Angst packte ihn im Nacken. Er schüttelte sie ab, schüttelte sich wie ein Hund, verschwand in einer Ecke des Korridors, blieb in Deckung. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Er sah Beate Vogt, die auf dem Boden lag, Andreas kauerte neben ihr, starrte zu jemandem hoch, das Gesicht kreideweiß.
Josef schob sich ein Stück vor, erblickte zuerst das rosafarbene Hemd, dann die dunklen Schweißflecken unter den Achseln. Das war doch … Nicht zu fassen! Wieso denn der? Reinold Spieß? Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Lassen Sie die Waffe fallen!«, schrie er und trat mit der Walther im Anschlag einen halben Schritt vor.
Der Mann drehte sich zu ihm um, hob die Hände, als wolle er sich ergeben, und schoss im selben Moment. Der Schuss verfehlte Josef knapp. Schlug offenbar in der gegenüberliegenden Wand ein. Er sprang hinter den Türrahmen.
Was war mit Beate? Er biss sich auf die Unterlippe, konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Was sollte er tun? Er konnte nicht einfach in den Raum hineinballern. Die Gefahr, seine Kollegin oder den Jungen zu treffen, war zu groß.
»Geben Sie auf!«, forderte er. »Polizei und Feuerwehr werden gleich hier sein! Legen Sie die Waffe weg und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«
Josef hörte ein dumpfes Geräusch, als würde jemand auf den Teppichboden fallen. Dann ein Stöhnen. Beates Stimme klang anders, irgendwie verzerrt, als wäre sie nicht ganz bei sich. Wie schwer verletzt war sie? Er wagte einen schnellen Blick um die Ecke.
Reinold Spieß hielt sie unter den Achseln gepackt und zog sie als Schutzschild vor seinen Körper. Wahrscheinlich war ihm Beate beim ersten Versuch, sie vor sich zu halten, nach unten weggerutscht. Sie wirkte schlaff und kraftlos und blickte Josef verwirrt an. Ihr Arm war blutverschmiert. Blutspritzer hatten sich auch auf ihrer Kleidung verteilt.
»Sie hat es so gewollt«, behauptete Spieß, der aus Nase und Mund blutete. Auch am Kopf hatte er eine Platzwunde. Das Blut sickerte an der Schläfe hinab und tropfte auf sein rosafarbenes Hemd. »Sie hat sich mir als Geisel angeboten. Als ich nicht wollte, hat sie sich ein wenig ausgetobt, wie Sie sehen. Ich überlege gerade, ob ich ihren Vorschlag nicht doch noch annehmen sollte.« Seine Stimme klang kalt und zynisch, aber darunter lag noch etwas anderes, ein anderer Ton. Unsicherheit? Verzweiflung? Angst? Das Gefühl von Ausweglosigkeit?
»Das Angebot steht nicht mehr«, brachte Beate Vogt heiser heraus.
Josef war froh, ihre Stimme zu hören. Ein deutliches Lebenszeichen trotz ihres augenscheinlich schlechten Zustands.
»Ich glaube, Sie sind gerade nicht in der Lage, das zu entscheiden«, entgegnete der Mann, und offenbar umklammerte er sie so fest, dass sie vor Schmerz stöhnte.
»Wie wäre es, wenn wir beide unsere Waffen niederlegen?«, schlug Josef vor. »Sie lassen die beiden gehen. Dann können wir reden.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Heute bin ich schon mit Frau Vogt verabredet, wie Sie sehen.« Er stieß ein merkwürdiges Lachen aus, das ein wenig klang, als hätte er sich an seinem eigenen Blut verschluckt. Ein paar rote Blasen quollen beim Sprechen über seine lädierten Lippen. Beate hatte offenbar heftige Gegenwehr geleistet.
»Da werden Sie nicht weit kommen. Sie ist verletzt«, stellte Josef fest.
»Na so was aber auch.« Reinold Spieß grinste mit blutverschmiertem Mund. »Bis zu Ihrem Wagen schaffen wir es vielleicht. Wenn Sie so nett wären, mir den Schlüssel zu geben? Ich bezahle mit dem Bengel da, unserem Feuerteufel.«
»Können Sie haben«, sagte Josef. »Allerdings nur, wenn Sie beide freilassen.«
»Sehr witzig. Wenn ich unten bin, werde ich wegen Mordes verhaftet. Ihre Idee ist leider komplett dämlich.«
»Ich würde Sie bis zu meinem Auto begleiten«, schlug Josef vor. »Bisher weiß noch niemand außer uns, was hier oben überhaupt los ist.« Allmählich kam er sich vor wie auf einem orientalischen Basar. Aber er konnte nur hoffen, dass der Täter sich auf den Handel einließ. Es galt vor allem anderen, seine Kollegin Beate und den Jungen zu schützen. Sie befanden sich in Gefahr, in Lebensgefahr. Allem Anschein nach hatte Spieß den Direktor umgebracht. Es gab für ihn nichts mehr zu verlieren, und er war bewaffnet.
Mittlerweile war die ganze Wohnung voller Rauch. Josefs Augen tränten, und er fragte sich, ob es Reinold Spieß auch so ging. Sollte er einen Angriff wagen?
Nein, zu gefährlich, er musste weiterverhandeln. Was konnte er ihm noch bieten?
»Der Opel ist vollgetankt«, log er. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Und er hängt jeden Ost-Streifenwagen mit Leichtigkeit ab.«
»Sie sind ja wirklich fürsorglich«, sagte Spieß. »Wie rührend.«
»Nehmen Sie mein Angebot an und lassen Sie nicht nur den Jungen, sondern auch Frau Vogt frei. Sie würde Ihnen nichts nutzen. Sie muss in ein Krankenhaus.«
Einen Moment sagte der Mann nichts. Josef lauschte in sein Schweigen hinein. Feuerwehr und Streifenwagen mussten jeden Moment hier sein. Viel Zeit blieb dem Täter nicht mehr. Aber wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte, konnte er immer noch um sich schießen.
»Also schön«, sagte Reinold Spieß schließlich. »So eine Spritztour ins Blaue mit einer Westkutsche wollte ich schon immer mal machen.«
»In Ordnung. Sie bekommen den Schlüssel und den Wagen. Ich begleite Sie nach unten. Unsere Waffen bleiben aber hier.«
Spieß verzog die Mundwinkel. »Netter Versuch. Aber so haben wir nicht gewettet«, sagte er. »Sie wissen, dass das für mich nicht infrage kommt. Sie lassen Ihre Waffe hier. Eine Walther PPK, richtig? Schießt sicher perfekt. Aber ich nehme lieber die Ihrer Kollegin mit. Auch wenn die Makarow nicht gerade die beste Pistole ist, aber ich habe schon bei der NVA gelernt, mit ihr zu schießen. Glauben Sie also nicht, dass ich nicht weiß, wie man sie benutzt.«
»Wenn ich mich darauf einlasse, woher weiß ich, dass Sie sich an die Vereinbarung halten und meine Kollegin und den Jungen … in Ruhe lassen?« Am Leben lassen, hätte er beinahe gesagt, und eigentlich hatte er das auch gemeint.
»Gar nicht«, antwortete Spieß. »Sie müssen mir schon vertrauen.«
Josef dachte an seinen Sohn Florian. Wer würde sich um ihn kümmern, wenn seinem Vater etwas passierte? Einem Mörder zu vertrauen, der ihn mit der Waffe bedrohte, war sicher das Dümmste, was er sich vorstellen konnte. Aber was blieb ihm anderes übrig, fragte er sich wieder. Er hatte keine Wahl, oder? Würde er ihm allein gegenüberstehen, wäre das etwas anderes. Vielleicht konnte er ihn ja unten am Wagen überwältigen, wenn die herannahenden Kollegen schon in Sichtweite waren?
»In Ordnung«, sagte er. »Ich vertraue Ihnen, lassen Sie uns gehen.«
Er kam ein Stück aus der Deckung, hielt die Pistole hoch über seinen Kopf und legte sie dann vorsichtig auf den Fußboden. Betont deutlich klimperte er mit dem Autoschlüssel. »Wir sollten uns beeilen.«
Reinold Spieß hob Beate ein Stück an, als wäre sie eine Schaufensterpuppe, und drückte sie in den Sessel. »Und schön sitzen bleiben!«, knurrte er. »Sonst … wissen Sie ja, was Ihnen blüht.«
Josef sah es sofort: Für diesen einen Moment hatte der Mann die Makarow auf den Tisch gelegt. Er schien sich plötzlich sehr sicher zu fühlen. Doch Josef stand zu weit weg, um sich auf die Waffe zu stürzen.
Andreas kauerte immer noch am Boden. Ohne einen Ton zu sagen, beobachtete er seinen ehemaligen Erzieher. Als sich Spieß die Waffe vom Tisch holen wollte, wandte sich Andreas blitzschnell zu ihm um und trat ihm mit Wucht in die Kniekehlen. Halt suchend drehte sich Reinold Spieß um. Andreas trat ihm ohne Pardon zwischen die Beine. Der Mann strauchelte, Andreas schob sich ihm mit seinem ganzen Körper so in den Weg, dass der Mann über ihn stolperte und auf den Bauch fiel. Der Junge stürzte auf den Tisch zu, und im nächsten Moment hielt er die Waffe in den Händen.
Reinold Spieß blickte verwirrt umher, wollte aufspringen.
»Unten bleiben! Keine Bewegung«, sagte Andreas leise, drohend. Er zielte auf den Kopf des Liegenden. Ging einen Schritt vor und hielt ihm den Lauf in den Nacken. »Jetzt bist du dran, Arschloch!«
Beate schob sich aus dem Sessel und wankte wie betrunken auf den Jungen zu. »Andreas, gib mir die Waffe!«
Er schien sie nicht zu hören. Sein Finger berührte den Abzug.
»Andreas, nicht«, sagte Beate sanft. »Tu’s nicht.«
Josef hob seine Pistole vom Boden auf. »Ist schon gut, Andreas«, sagte er. »Gib ihr die Waffe. Ich übernehme.«
»Das Schwein hat den Tod verdient«, sagte Andreas wütend. »Er wollte uns umbringen! Er wollte mich umbringen! Weil ich ihn gesehen habe in der Nacht, als der Mord passierte. Gesehen und gehört. Ich hab ihn erkannt. Ich weiß, dass er es war. Aber wer wird mir schon glauben, wenn ich einen Erzieher beschuldige? Einem wie mir? Einem, der im Werkhof gelandet ist?«
»Ich glaube dir«, sagte Beate. Beschwichtigend hob sie die Hand der unverletzten Seite.
Andreas achtete nicht auf die Geste. »Und ich wollte, dass die Polizei ihn erwischt. Deswegen habe ich Ihnen geschrieben«, sagte er, ohne Beate anzusehen. »Wenn Sie sich bewegen, schieße ich, ist das klar?«, schrie Andreas den Liegenden an.
Reinold Spieß antwortete nicht. Er lag regungslos da.
»Ob das klar ist?«
»Klar«, sagte der Mann knapp.
»Gut gemacht, Andreas«, sagte Josef. »Wir haben ihn jetzt. Heb die Pistole schön langsam hoch. Pass auf, dass du nicht aus Versehen schießt.«
»Wieso aus Versehen?« Andreas lachte blechern. Er beugte sich ein Stück tiefer zu dem Mann am Boden. »Du stirbst jetzt«, sagte er leise. »Na, wie fühlt sich das an?«
»Du bist nicht so wie er.« Josef kam es vor, als würde er in diesem Moment zu seinem Sohn reden, als hätte er Florian vor sich. »Du bist kein schlechter Mensch.«
»Doch. Ich war im Jugendwerkhof Torgau. Da kommt man nicht hin, wenn man gut ist. Du bist selbst schuld, dass du hier bist , hieß es immer. Du bist nichts wert , hat der da zu mir gesagt. Mehr als einmal. Leute wie du sind Abschaum . Das war so sein Standardspruch.«
»Du hast keine Schuld. Das haben sie dir nur eingeredet«, sagte Beate. »Das stimmt nicht, dass du nichts wert bist. Im Gegenteil. Du hast dein Leben noch vor dir. Ein gutes Leben. Wenn du jetzt keinen Fehler machst. Du möchtest doch ein gutes Leben?«
Josef bewegte sich langsam, wie in Zeitlupe, auf Andreas zu. »Du hast sicher schon Pläne für die Zukunft, Andreas«, sagte er. »Es gibt keinen Jugendwerkhof Torgau mehr. Der Mann da kommt in den Knast. Und du wirst frei sein. Du kannst gehen, wohin du willst. Du kannst dir die Welt ansehen. Zusammen mit Tanja. Sie hat dich nicht im Stich gelassen, oder? Meinst du, sie möchte, dass du ihn umbringst?«
»Ja«, sagte Andreas.
»Das glaube ich nicht«, widersprach Josef mit seiner sanften Vaterstimme. »Ich denke, dass sie vor allem will, dass dir nichts passiert. Dass ihr beide frei seid. Wenn du ihn tötest, wirst du nie frei sein. Nie mehr. Und damit meine ich nicht das Jugendgefängnis, in dem du landen wirst. Du bist in deinem ganzen Leben nicht mehr frei, wenn du einen Menschen tötest.«
Andreas’ Mimik blieb unbewegt, sein Gesicht war immer noch totenblass, aber Josef sah eine Träne, die über seine Wange lief.
»Bleiben Sie liegen, nehmen Sie Ihre Hände nach hinten, ich lege Ihnen jetzt Handschellen an!«, befahl Josef.
»Schaffen Sie mir erst diesen Bengel vom Hals!«, forderte Reinold Spieß.
»Halten Sie den Mund!«, entgegnete Josef schroff. »Tun Sie, was ich Ihnen sage! Ansonsten garantiere ich für nichts! Ist das klar?«
Andreas sah zu ihm auf. In seinen Augen spiegelte sich immer noch diese Verlorenheit. Aber da war auch noch etwas anderes. Vertrauen? Vertraute der Junge ihm? Josef wagte kaum, es zu hoffen.
Als die Handschellen um die Gelenke des ehemaligen Erziehers klickten, zögerte Andreas kurz, dann händigte er Josef die Waffe aus. Josef atmete auf und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Gut gemacht«, sagte er leise. »Du hast ihn erwischt. Wir haben ihn.«
Feuerwehrsirenen waren aus der Ferne zu hören. Sie kamen näher und näher.
»Ohne dich hätten wir das nicht geschafft, Andreas«, sagte Josef ernst. Sein Blick wanderte zu Beate hinüber, die sich erschöpft in den Sessel fallen ließ, die Hand fest auf die Wunde am Oberarm gepresst. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn, betrachtete besorgt ihren Arm, das Blut. »Wie geht’s dir?«
»Duzen wir uns jetzt endlich?«, fragte sie und lächelte.
»Sieht so aus.«
»Da muss erst einer auf mich schießen, ja?«, scherzte sie. »Es ist nur ein Streifschuss, Josef. Unterhalb der Schulter. Nicht tief, glaub ich. Halb so wild.«
Er lächelte zurück. »Der Rettungsdienst ist schon da.«
Beate streckte die Hand nach ihm aus, und einen Moment betrachtete er verwundert ihre Finger, glaubte, sie wolle eine Berührung, einen Trost vielleicht. Aber sie deutete jetzt mit einem Anflug von Ungeduld auf die Makarow, und er reichte ihr ihre Waffe.